S. Wiehl: Genozidale Gewalt? Der peruanische Staatsterror 1980–1994

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Titel
Genozidale Gewalt?. Der peruanische Staatsterror 1980–1994


Autor(en)
Wiehl, Stefanie
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hinnerk Onken, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Als der maoistische Leuchtende Pfad am 17. Mai 1980, dem Vortag der ersten demokratischen Wahlen nach der Militärdiktatur, Wahlurnen im Dorf Chuschi im Hochland von Ayacucho verbrannte und dem peruanischen Staat den Krieg erklärte, wurde das in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Dies sollte sich jedoch bald ändern. Der „bewaffnete Konflikt“, wie der Bürgerkrieg in Peru offiziell heißt, eskalierte und kostete knapp 70.000 Menschen das Leben. Die meisten wurden Opfer des Leuchtenden Pfades. Deshalb konzentrieren sich die bislang dazu vorliegenden Studien auf den Sendero Luminoso. Eine Forschungslücke besteht dagegen hinsichtlich der Gewalt, die von staatlichen Kräften, insbesondere der Armee, aber auch Geheimdienst und Polizei, verübt wurde. Das ist insofern bemerkenswert, als sie laut dem 2003 erschienenen Bericht der Kommission für Wahrheit und Versöhnung für etwa ein Drittel der Opfer verantwortlich sind. Die Kommission beleuchtete das Militär zwar kritisch, aber in eigenen Veröffentlichungen präsentierte sich das Militär als „Wiederhersteller der Ordnung“ (S. 9) und verwies zugleich auf die Brutalität der als „subversiv“ kategorisierten Gegner. Verbrechen, die angesichts erdrückender Beweise nicht abzustreiten sind, werden von Vertretern des Militärs als individuelle Verfehlungen bezeichnet. Diese Deutung wird in der öffentlichen Berichterstattung und Wahrnehmung oft übernommen und schaffte es auch in die Ausstellung des offiziellen Ortes der Erinnerung, der Toleranz und der sozialen Inklusion in Lima, der 2014 eröffnet und von der deutschen Bundesregierung mit rund 2 Mio. Euro gefördert wurde. Abweichende Bewertungen staatlicher Gewalt als Verbrechen, mitunter gar als Genozid an der indigenen Bevölkerung der Hochlandregion Ayacucho, gibt es zwar schon seit den 1980er-Jahren von Betroffenen, Journalist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und Forscher:innen. Dennoch ist die Rolle des Militärs als Gewaltakteur im Bürgerkrieg unterbeleuchtet. Hier Abhilfe zu schaffen und zu untersuchen, was Wiehl überzeugend als Staatsterror beschreibt (S. 11–12, 101), ist das begrüßenswerte Ziel der zu besprechenden Arbeit, die auf der von Michael Riekenberg betreuten Dissertationsschrift der Autorin an der Universität Leipzig beruht.

Während der Beginn des Bürgerkrieges unstrittig ist, wird sein Ende unterschiedlich gesetzt. Infolge der Festnahme des Anführers Abimael Guzmán im September 1992 verlor der Leuchtende Pfad rasch an Durchschlagskraft, zumal der 1990 zum Präsidenten gewählte Alberto Fujimori nach einem Selbstputsch im April 1992 härter gegen die Gruppe vorging. Dennoch kam es auch in den 1990er-Jahren zu Gewaltakten, sodass häufig das Ende von Fujimoris autokratischer Regierungszeit 2000 als Zäsur gesehen wird. Wiehl wählt dagegen das Jahr 1994, „da sich die Rahmenbedingungen des Staatsterrors durch die Schwäche des Leuchtenden Pfades und die stärkere Machtkonzentration unter Fujimori ab diesem Zeitpunkt sehr stark veränderte“ (S. 13).

Wiehl verortet ihre Arbeit in der theoretischen Debatte der „Neuen Gewaltsoziologie“. Die Ursachen der Gewalt interessieren sie ausdrücklich nicht, vielmehr verfolgt sie einen praxeologischen Ansatz, der als „Gelenkstück“ (S. 232) zwischen Mikro- und Makroperspektive dient. Zudem sieht Wiehl das Department Ayacucho, das Zentrum der Bürgerkriegsgewalt in den 1980er-Jahren, als Gewaltraum (S. 38-42). Quellen der Untersuchung sind Veröffentlichungen und Dokumente des Militärs, Gerichtsakten, Zeugenaussagen und Berichte von Zeitzeug:innen, die von der Wahrheitskommission gesammelt wurden.

Wenig überzeugend sind die Überlegungen zum Konzept des Genozids (S. 13–15, 55–61), wenngleich dessen Verwendung auf den ersten Blick naheliegend sein mag, weil erstens die Opfer des Staatsterrors zu 75 Prozent quechuasprechende Indigene und Bäuer:innen waren, auch wenn es sich beim Leuchtenden Pfad um keine indigene, bäuerliche Gruppe handelte (S. 189). Die Wahrheitskommission bezifferte die Zahl der Kämpfer:innen des Leuchtenden Pfads zweitens auf etwa 2.700, anderen Angaben zufolge waren es 5.000. Opfer von Gewalt durch Militär und Polizei wurden aber 20.000 Menschen. Weil mit Bezug auf den Staatsterror in Argentinien drittens häufig von Genozid gesprochen wird, ergab sich für Wiehl die titelgebende Frage. Sie betont jedoch, „dass dies eine Ausgangsfrage ist, die vor allem dazu dienen soll, eine Charakterisierung des Staatsterrors zu ermöglichen. Sie ist also der Beginn der Analyse – nicht ihr Ende.“ (S. 14) Da es in der Arbeit dann „nicht vordergründig um die Verwendungsweise der Kategorie ‚Genozid‘ in Peru oder Vor- und Nachteile, die ein Gebrauch mit sich bringen würde [geht]“ (ebd.), verwundert der Titel der Arbeit, legt er doch nahe, dass es im Kern um die Frage gehe, ob die staatsterroristische Gewalt von Militär und Polizei als Genozid zu bewerten ist oder nicht. Um eine Antwort windet sich die Autorin lange herum. Erst am Ende bestätigt sich die bei der Lektüre lang gehegte Vermutung: „[D]ie Arbeit [sieht] genozidale Züge in der Gewaltausübung der staatlichen Sicherheitskräfte.“ (S. 229) Sogleich folgt aber die Einschränkung, dass diese Charakterisierung des Staatsterrors in Peru nur in engen Grenzen tragfähig sei. Es habe zwar „genozidale Auswüchse“ gegeben, der Staatsterror habe aber mehr eine kommunikative Funktion erfüllt und sei ein Herrschaftsmittel gewesen.

Überzeugender sind andere Aspekte der Arbeit, insbesondere dort, wo die Autorin eng an den Quellen arbeitet, etwa bei der Analyse von Organisation, Strategien sowie Selbst- und Feindbild der Armee. Das Verhältnis der staatlichen Kräfte zu paramilitärischen Gruppen wie etwa dem Kommando Rodrigo Franco, das der APRA, der Regierungspartei Alan Garcías nahestand, oder zu der in den 1990er-Jahren entstandenen rechten Gruppe Colina, die quasi Verbündete waren, wird wegen der Konzentration auf Ayacucho nur kurz angesprochen. Gleiches gilt für die Verbrechen des Geheimdienstes SIN unter Vladimiro Montesinos.

Das Kernstück der Arbeit ist die Untersuchung der Praktiken des Staatsterrors in Ayacucho. Gestützt auf mehr oder weniger dichte Gewaltbeschreibungen werden Muster und Routinen sowie die Bedeutung der verschiedenen Gewaltformen herausgearbeitet. So zeigt Wiehl, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen ein kriegsstrategischer kommunikativer Akt nach außen wie nach innen war und durch rassistische Vorurteile und eine allgemeine Geringschätzung von Frauen befördert wurde. Das Beispiel der ab 1991 durchgeführten Zwangssterilisierungen belegt die Veränderung des Staatsterrors unter Fujimori: War die Kriegsführung vorher vom Militär bestimmt, wurde sie in den 1990er-Jahren stärker von der Zentralregierung gelenkt. Ausführlich widmet sich Wiehl außerdem den Praktiken der Folter, dem Verschwindenlassen sowie den Massakern von Accomarca im August 1985 und von Cayara im Mai 1988. Sie hält fest: „In einem Gewaltraum, in dem sich Gewalt verstetigt, wird diese zur Gewohnheit und erwartbar.“ (S. 184) Dass einige Bewohner von Cayara nach einem Angriff von senderistas auf Militärs flohen, weil sie Vergeltung fürchteten, die dann in Form des Massakers erfolgte, scheint angesichts der Erfahrungen der Menschen in Ayacucho sehr naheliegend. Das Konzept des Gewaltraums ist hier eine treffende Beschreibung, einen analytischen Mehrwert bietet es nicht. Um die Spezifika der (staatlichen) Gewalt in Ayacucho herauszustellen, fällt der Vergleich mit anderen Regionen zu knapp aus. Er beschränkt sich im Wesentlichen auf die Untersuchung von Massakern bei der Niederschlagung eines koordinierten Aufstands von senderistas in drei Gefängnissen in Lima im Juni 1986. Sinnvoller wäre es möglicherweise gewesen, die Gewalt staatlicher Kräfte und mit diesen kooperierenden paramilitärischer Gruppen in Lima oder in anderen schwer vom Bürgerkrieg betroffenen Departments wie etwa Junín oder Puno in den Blick zu nehmen, um herauszustellen, was Ayacucho von diesen Regionen abhebt.

Wer die gewaltsoziologischen Annahmen Wiehls nicht teilt, wird von der Arbeit nicht vollends überzeugt sein, obwohl sie die von der Armee verübte Gewalt in Ayacucho umfassend schildert und hinsichtlich der strategischen Bedeutung sowie der kommunikativen und interaktiven Funktion auch erklären kann. Eine spannende Perspektive auf den Bürgerkrieg bietet der Fokus auf den Staatsterror allemal.

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