V. Masciadri: Eine Insel im Meer der Geschichten

Cover
Titel
Eine Insel im Meer der Geschichten. Untersuchungen zu Mythen aus Lemnos


Autor(en)
Masciadri, Virgilio
Reihe
Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 18
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Fell, Seminar für Alte Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Virgilio Masciadri legt hier die überarbeitete Fassung seiner 2004/05 von der Philosophischen Fakultät Zürich angenommenen Habilitationsschrift vor, welche sich intensiv damit befasst, wie die uns vorliegenden Mythen entstanden sind. Seine Untersuchungen sind durchaus darauf angelegt, über das engere Thema hinaus Geltung zu beanspruchen. Er gliedert seine Arbeit in fünf Teile: Im Zentrum stehen drei Lemnos berührende Mythenkreise: Philoktet (S. 38-111), die lemnischen Frauen, insbesondere Hypsipyle (S. 112-258), sowie Hephaistos (S. 259-353). Dazu kommen rahmend zwei Kapitel, die mit „Statt …“ (= an Stelle von) überschrieben sind und zwar „Statt einer Einführung“ Worte zu Melampus (S. 17-37) und „Statt eines Nachworts: Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie“ (S. 354-377). Das Buch schließt mit drei knapp gehaltenen Indizes (S. 378-380) und einer ausführlichen Bibliographie (S. 380-412). Masciadri spürt der Frage nach, ob die uns überlieferten Texte zu den betreffenden Mythen homogen sind bzw. aus welchen Elementen sie sich zusammensetzen. Sodann wird untersucht, wie mit den freigelegten Elementen umgegangen worden ist, wie sich diese zeitlich zueinander verhalten und ob sich eine zugrunde liegende Form herstellen oder doch konzedieren lässt. Eigentliches Ziel ist es aufzudecken, wie seinerzeit die uns überlieferten griechischen Mythen ihre ursprüngliche Form gefunden haben. Er fragt also nach der Textgeschichte aus zutiefst philologischer und sozusagen ideengeschichtlicher Sicht.

Dies ist kaum möglich, ohne ein festes methodisches Fundament zu beziehen. Ein solches wird in dem als Hinleitung fungierenden ersten Kapitel allerdings nicht geboten. Viel eher wird dort einem sehr breiten Zugriff – Masciadri stellt sich in weitem Sinne in die Schule Claude Lévi-Strauss’ – das Wort geredet, der quasi assoziativ räumliche und zeitliche Grenzen weit überspringen kann (so werden etwa Erscheinen sowie Funktion von Schlangen in diversen Mythen oder Berichten bis ins 20. Jahrhundert in Nordamerika hinein betrachtet). Masciadri verfolgt diese Linie dann jedoch nicht in ganzer Breite; warum das aber so ist, erfährt man zunächst nicht. Dass er hier voraussetzungsreich arbeitet, weil seiner Mythenanalyse die „Vorstellung von einander antwortenden Varianten […] zugrunde“ liege, wird dem Leser erst spät in dezidierter Weise mitgeteilt (S. 283, Anm. 102). Dieses Vorgehen trägt nicht unbedingt zum leichten Verständnis bei. Es fragt sich ernsthaft, warum Masciadri die Pro-Legomena zum intensiv beackerten Hauptarbeitsfeld, die mithin grundlegend für seine Analyse sind und von ihm auch angewendet werden, zu Meta-Legomena degradiert, statt sie an der Stelle anzusiedeln, wo ihr natürlicher Platz ist, nämlich vor dem eigentlichen thematischen Teil. Nicht alles erklärt sich von alleine und manche Irritation bliebe aus, wenn man wüsste, welchem Zweck welcher Schritt dienen soll.

Das beschriebene Ziel erreicht Masciadri, indem er die Texte genau analysiert, zum Teil (lemnische Frauen) wäre das Wort seziert treffender, denn es werden Erzählsequenzen in die kleinstmöglichen Motiveinheiten zerlegt, um mögliche Verbindungen zu anderen Werken aufzudecken. Er zeigt die für die Komposition eines neuen Textes einsetzbaren Mittel (Spiegeln, Erzählrichtung umkehren usw.) auf und sucht nach entsprechenden Vorlagen. Es fügt sich, dass mit den drei untersuchten Mythenkreisen jeweils unterschiedlich komplexe Projekte gegriffen werden: Philoktet ist dabei am einfachsten zu fassen, weil er – obzwar Teilnehmer an Argonautenfahrt und am trojanischen Krieg – weniger Interesse als mythische Figur gefunden hat als die beiden anderen Themen: Masciadri schält elf verschiedene Mythenvarianten in zwei großen Gruppen heraus, denen einzelne, ganz eng parallele Versionen zur Seite stehen. Alle dürften auf eine Urform zurückzuführen sein, welche bereits der Dichter der Ilias kannte, aus der die ältesten Zeugnisse stammen.

Hypsipyle und die lemnischen Frauen – der Mythos, der durch das Einbinden von Lemnos in die Argonautenfahrt und insbesondere durch das Verhältnis zwischen Jason und Hypsipyle größere Kreise gezogen hat – hinterließen reichere Zeugnisse: Bei sehr viel komplizierteren Voraussetzungen legt Masciadri neben der die Antike ab dem Hellenismus dominierenden Form, die Apollonios Rhodios geschaffen hat, 18 Haupt-Varianten frei, die er in drei Gruppen einteilt.

Ganz anders bei Hephaistos. Zu Recht bestreitet Masciadri die geläufige Ansicht, Hephaistos sei ein „marginaler“ Gott, wiewohl das Argument, die Lemnier hätten sich selbst nicht als marginal empfunden (S. 261), dafür nicht geeignet ist. (Auch seine Bemerkungen zum wolkigen Umgang mit der „Großen Göttin“ als nahezu beliebigem Sammelbegriff treffen zu.) Die Quellenlage zu diesem Olympier ist disparat: Es lassen sich zwar auf Lemnos bezogen mehr als ein Dutzend Stellen greifen, die sich jedoch nicht einem Erzählstrang unterordnen, sondern in verschiedenen Ensembles zusammengefasst werden (Himmelssturz, Funktion des Gottes, Sintier, Kabiren usw.). Besonders was den gesamten Komplex der Kulte anlangt, kann Masciadri überzeugend die Diskrepanzen zwischen den Aussagen einzelner Autoren und der wahrscheinlichen Kultrealität auf mangelhaftes Wissen oder gar Unkenntnis (etwa weil die Kulte längst erloschen waren) zurückführen, was gleichzeitig etwas über die Glaubwürdigkeit der betreffenden Quellen aussagt.

Daher können die Resultate für Philoktet (S. 71) sowie Hypsipyle (S. 217) anders als für Hephaistos gut in Stemmata präsentiert werden, die prinzipiell auf dasselbe chronologische Ergebnis hinauslaufen, wobei das Stemma zu Hypsipyle wegen des Interesses, das diese Figur bis in die römische Kaiserzeit hinein findet, erheblich aussagekräftiger ist. Es lassen sich folgende Momente fassen: erstens der Mythos in seiner vorhomerischen Urform, als zweite Stufe seine Spiegelung in Ilias und Odyssee, drittens die Eingriffe der Tragödiendichter, insbesondere des Euripides, als vierter Schritt die hellenistische Literaturproduktion (für Hypsipyle mit dem Sonderfall der Argonautika) und schließlich fünftens die Wiederaufnahme durch römische Autoren. Insbesondere im Abschnitt über die Frauen von Lemnos geht Masciadri über die Segmentierung hinaus, indem er die gesamte Literaturproduktion bis in den mittelasiatischen Raum hin nach Geschichten absucht, in denen sich ähnliche und scheinbar ähnliche Sequenzen oder Motive finden lassen könnten. So geschieht es dann, dass die Rettungstat der Hypsipyle, vermittelt über die Geschichte Sargons I. (in der unter Sargon II. hergestellten Variante), neben der Aussetzung Mose im Weidenkorb zu stehen kommt und zwar als eine „parodistische Umkehrung“ (S. 225f. mit Rückgriff auf S. 215ff.), absichtsvoll in mehrerlei Hinsicht verkehrt. Das Ergebnis solcher Art von Textarbeit ist eine Geschichte, die „ein dem geübten Literaturkenner bemerkbares Zitat“ (S. 248) sein und diesen erfreut haben soll.

Etwas anders verhält es sich beim im selben Zusammenhang betrachteten Danaiden-Mythos, für den Masciadri herausschält, dass dessen Erzählung prinzipiell ebenfalls im Osten vorgeformt war, sogar „dass sich in einem entscheidenden Moment die Zalpuwa-Sage und der Danaidenmythos so gegenüberstanden, dass sie sich ohne vermittelndes Dazwischen [...] unmittelbar spiegeln“ (S. 237). Hier ist es „nicht (mehr) eine langsame Wanderung von Ost nach West“ (S. 237), sondern es wird eigentlich eine Kopie mit gewissen Anpassungen erstellt, mithin die engste Beziehung, die zwei Texte unterschiedlicher Autoren überhaupt haben können. Von der Sache her muss ein solches, gut denkbares Arbeiten nicht unbedingt auf Freude am Spiel mit der Literatur weisen, wie man es etwa in hellenistischen Autorenzirkeln ohne Frage findet, sondern kann bedeuten, dass der Autor des jüngeren der beiden Texte, also des Danaidenmythos, darauf spekulierte, dass die Zalpuwa-Sage in den Kreisen, für die er arbeitete, kaum oder gar nicht bekannt war. Modern gesprochen käme man in die Nähe des Plagiats.

So bedenkenswert die Argumentation auch ist, die Konsequenzen für eine Verallgemeinerung müssen genau betrachtet werden, wenn die „Leistung“ derjenigen, welche die Mythen für die Griechen in Worte fassen, sich darauf beschränkt, Vorgefundenes wortgetreu wiederzugeben: Wird da die schöpferische Kraft der Erzähler nicht doch etwas unterschätzt? Es ist durchaus möglich, dass verschiedene Personen unabhängig voneinander an unterschiedlichen Orten ähnliche Resultate erarbeiten. Der starke Einfluss aus dem Osten, der augenfällig im archäologischen Material zu greifen ist, kann in einer für die Griechen schriftlosen Zeit wohl nicht in derselben Weise für Erzählungen jeder Art angenommen werden: Plastik und Keramik sind im Unterschied zu diesen als dauerhafte, leicht zu begreifende und zu sehende, unveränderliche Zeugnisse vorhanden. Der Blick auf andere Mythen, unabhängig deren Provenienz, hat im Schaffensprozess griechischer Sänger und Dichter sicher eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt (für die homerischen Epen vgl. hierzu etwa Burkert und West), das mehr oder weniger blanke Kopieren dürfte aber wohl die Ausnahme gewesen sein. Eine generelle Aussage lässt sich also nicht treffen, vielmehr ist Prüfung im Einzelfall angezeigt, wobei ganz besonders auf die chronologischen Zusammenhänge zu achten ist. Die Existenz des „geübten Literaturkenners“ setzt sicherlich das Vorhandensein von Schrift, eine gewisse Verbreitung von Geschriebenem und die Fähigkeit sowie das Interesse und die Muße – auch und insbesondere – des Publikums voraus, sich mit dieser Produktion auseinanderzusetzen. Das wird in vorhomerischer Zeit mit großer Sicherheit nicht gegeben gewesen sein. Die größtmögliche literarische Oikumene, die Masciadri hier vorschwebt, hat zu dieser Zeit als fixe, stets fassbare Größe wohl kaum bestanden.

Der Untertitel „Mythen aus Lemnos“ ist nicht ganz treffend formuliert: Es handelt sich vielmehr um Mythen über Lemnos, deren Herkunft im Einzelnen nicht überprüfbar ist. Lemnos spielt in dieser Arbeit selbstverständlich die vermittelnde, nicht aber die Haupt-Rolle. Während sich über das, was zur klassischen Zeit geäußert wird – es geht in der Hauptsache darum, dass Mythen politisch instrumentalisiert worden sind und Lemnos hier einbezogen wird – nicht diskutiert zu werden braucht, müsste zur Position, welche dieser Insel in der Frühzeit zugewiesen wird, Einzelnes zurecht gerückt werden. Masciadri misst ihr doch eine zu zentrale Bedeutung bei. So wenig der aus dem Osten kommende kulturelle Einfluss am kleinasiatischen Ägäisstrand versickert, sondern ausstrahlt, beschränkt er sich auf Lemnos und führt nur dort zur Blüte – weitere archäologische Explorationen werden weitere Plätze aufdecken (wofür bereits die auch Masciadri bekannte Karte der Fundplätze auf Lemnos selbst ein gutes Beispiel ist, wo sich dem früher als Solitär betrachteten Poliochni in der Zwischenzeit eine ganze Reihe weiterer Fundplätze derselben Epoche beigesellt haben). Die Ausführungen zur Chronologie der Besiedlung der Insel und der beteiligten Gruppen sind in sich schlüssig. Dass allerdings in der hoch umstrittenen Frage, welchen Weg die Tyrsener genommen haben, sich zur Herkunft aus Etrurien überhaupt keine Alternative stelle (S. 149), ist dann doch zu sehr gesetzt: Einerseits kann bei der engen Verwandtschaft, die sich den wenigen und kargen Texten offensichtlich entnehmen lässt, die zeitliche Abfolge kaum mit der notwendigen Sicherheit angegeben werden, andererseits bleibt die Grundfrage, woher dieses Volk denn nun ursprünglich gekommen ist, das ja auch nicht in Etrurien dem Boden entstiegen ist, letztlich unbeantwortet.

Ein Schwachpunkt des in den behandelten Komplexen sehr detailreichen und erhellenden Buches sind seine Indizes. Die vorhandenen sind nicht geeignet, das gesamte verwendete, doch weit über die als Varianten der Mythen gewerteten Stellen hinausgehende Quellenmaterial zu erschließen. Man sucht neben einem umfassenden Quellenindex jedenfalls einen Nachweis, der Mythen, Heroen, Götter erfasst; das wäre wichtig, weil die Querverbindungen, die gezogen werden, nicht von sich aus nahe liegen und das ausführlich gehaltene Inhaltsverzeichnis diesen Mangel nicht auffängt. Dieser und ein Namenindex würden nützliche Schlüssel für dieses Buch an die Hand geben. Man vermisst außerdem die Texte der Mythenvarianten und -parallelen an passender Stelle im Original, wie es in Kapitel 2b gegeben ist.

Masciadris Arbeit zeigt auf, wie eng sich griechische Mythen an die im östlichen Mittelmeerraum und darüber hinaus anzutreffenden mythischen Traditionen anschmiegen können. Diese wesentliche Beobachtung gilt auch dann, wenn man nicht jeden seiner Schritte mitgehen möchte.

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