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Titel
Die Argusaugen der Zensur. Begutachtungspraxis im Leseland DDR


Herausgeber
Lokatis, Siegfried; Hochrein, Martin
Reihe
Leipziger Arbeiten zur Verlagsgeschichte (3)
Erschienen
Stuttgart 2021: Hauswedell Verlag
Anzahl Seiten
851 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paweł Zajas, Adam-Mickiewicz-Universität Poznań / University of Pretoria

Die restriktive Logik des Literatursystems der DDR wurde in der einschlägigen Literatur bereits ausführlich dokumentiert. Die Zensur war eine „kollektiv verrichtete Arbeit“, eingespannt in ein „Netz streng gestaffelter Verantwortlichkeiten“.1 Sie fand nicht nur im Ministerium für Kultur statt, sondern auch in Verlagen sowie in der Kulturabteilung der SED. Bis 1963 war die Zensurbehörde, die sich hinter den Namen Kultureller Beirat für das Verlagswesen (1946–1951), Amt für Literatur und Buchwesen (1951–1956), HV Verlagswesen (1956–1958) sowie Abteilung für Literatur und Buchwesen (1958–1962) verbarg, sehr instabil. Die Handlungsspielräume der Verlage fielen bis dahin sehr unterschiedlich aus; die Begutachtungspraxis war von der Durchsetzungskraft des jeweiligen Verlags innerhalb des Literaturapparats abhängig. Als besonders privilegiert galten partei- und organisationseigene Verlage (zum Beispiel Dietz, Volk und Welt, Aufbau).2 Nach der Gründung der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) 1963 als literarischer Superbehörde kontrollierte die HV alle Verlagsprogramme, legte Schwerpunkte fest und setzte die von der SED vorgegebene Kulturpolitik in den Verlagen durch.

Der von Siegfried Lokatis und Martin Hochrein herausgegebene Sammelband „Die Argusaugen der Zensur“ ist ein Versuch, das Druckgenehmigungsverfahren der HV Verlage und Buchhandel mit 45 Beiträgen von Historiker/innen, Literatur- und Buchwissenschaftler/innen sowie von Lektoren berühmter DDR-Verlage möglichst breit zu dokumentieren. Der Band geht auf eine im September 2019 von der Leipziger Buchwissenschaft organisierte Konferenz zurück, die sich mit der „Geheimgeschichte der DDR-Literatur“ und der „weitgehend noch unerforschte[n] Textsorte“ des Gutachtens auseinandersetzte (S. 16). Der Mitherausgeber des Bandes und Hauptveranstalter der Tagung, Siegfried Lokatis, weist in seiner Einleitung auf die von ihm wahrgenommene Forschungslücke hin: Zwar werde aus den Gutachten gern zitiert, um die Editionsprobleme einzelner Autoren in der DDR aufzuzeigen und Verlagsgeschichten mit drastischen Beispielen auszuschmücken. Form und Argumentationsgang der Gutachten würden aber nicht weiterverfolgt, es fehle an einer einheitlichen Terminologie sowie an generalisierenden Überlegungen zu der Textsorte Zensurgutachten. Für diese missliche Forschungslage sei vor allem die schiere „Masse“ (S. 16) der überlieferten Dokumente verantwortlich: „Für die Jahre zwischen der Gründung der Literaturbehörde 1951 und 1989 käme man […] auf knapp über 200.000 Gutachten allein im Bestand des Ministeriums für Kultur.“ (Schätzung, S. 14)

Dass die Forschung zur Begutachtungspraxis nicht unbedingt „eine eklatante Lücke aufklaffen lässt“ (S. 241), wie auch Andreas Parnt an einer anderen Stelle schreibt, ist den beiden Herausgebern des Bandes durchaus bekannt. Siegfried Lokatis lieferte, häufig zusammen mit Simone Barck (1944–2007), zahlreiche gediegen recherchierte, bestandsbezogene Studien zum verlegerischen Feld der DDR. Texte und Monographien vieler Autor:innen, deren Beiträge in „Argusaugen der Zensur“ erschienen sind, gehören ebenfalls zu Standardwerken der Zensurforschung. In einem dürfte Lokatis aber zweifelsohne Recht haben: Eine theoriegeleitete, methodologische Auseinandersetzung mit dem eigenartigen Kosmos der Zensur, der sich aus dem Zusammenwirken von Autor:innen, Lektoraten, Verlagsleitungen, Mitarbeiter:innen der HV sowie den SED-Funktionären konstituierte, liest man immer noch selten. Dass die Masse der archivarischen, bislang überwiegend nicht digitalisierten Dokumente zugleich erhebliche methodologische Herausforderungen mit sich bringt, belegen nicht wenige Beiträge des vor allem in historiographischer Hinsicht sehr verdienstvollen Bandes. Hinter zahlreichen Recherchen zu einzelnen Verlagsreihen, Autoren, Länderschwerpunkten und Genres verbirgt sich aber nicht nur eine historisch-philologische Aufmerksamkeit und Redlichkeit, sondern zuweilen leider auch der mangelnde Mut zu weiterführenden Thesen und großen Bögen. Die Fülle des archivierten Materials verleitet hier oft zu einem positivistischen Nacherzählen des Entdeckten. Vielerorts wurde das analytische Verfahren auf eine bloß vorzeigende Geste reduziert, als ob die Bestandslogik und die Forschungslogik eins wären.

Die von den vielen addierten Aktenstücken ermüdeten Leser:innen werden aber auch mit Beiträgen belohnt, in denen nicht nur die Begeisterung für das Archiv, sondern auch eine methodologisch innovative Arbeit im Archiv zu finden ist. So widmet sich Benedikt Jager, der 2014 ein Buch zur norwegischen Literatur in der DDR vorgelegt hat3, der in der Tagungseinladung erwähnten Beschreibung der Zensurgutachten als „Ersatzöffentlichkeit“. Mit Verweis auf Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, in der die „bürgerliche Öffentlichkeit idealtypisch durch eine symmetrische Kommunikationssituation geprägt“ ist (S. 335), fand Jager den Befund in der Konferenzankündigung nicht unproblematisch. Demgegenüber entwickelt er in seinem Text theoretische Konzepte, mit deren Hilfe das Verfahren der Druckgenehmigung heuristisch untersucht werden kann. Zum einen knüpft er an Ludwig Wittgensteins Konzept des Sprachspiels an, zum anderen an das Konzept des Spiegelstadiums von Jacques Lacan (S. 336–341). Während das Letztere in der analytischen Praxis nicht unbedingt überzeugt, leuchtet das Übertragen des Sprachspiel-Konzepts auf die Zensurkommunikation durchaus ein.

Anhand der Lektüre von Gutachten kann nachvollzogen werden, mit welchen Argumenten die Aufnahme eines Titels in das Verlagsprogramm gerechtfertigt wurde. Jeder Gutachter, jede Gutachterin hatte seinen bzw. ihren eigenen Stil und legte in der Bewertung unterschiedliche Schwerpunkte. Berthold Petzinna verzichtet in seinem Beitrag auf das Erfassen individueller Eigenarten und konzentriert sich auf generelle „Argumentationsfiguren in Druckgenehmigungsverfahren zu Texten der Moderne“. Für die Absicherung der Texte war ein geschickter Gebrauch bestimmter Codewörter wichtig. Eine kritische Aufnahme des Entfremdungstheorems, die Deklarierung eines problematischen Textes zum Teil des kulturellen „Erbes“ sowie die Suche nach dem „Weltniveau“ zählten demnach zu den populären Inklusionshilfen (S. 564–572).

Auch Michael Westdickenberg, dessen Arbeiten in den vorangegangenen Jahren innovative Impulse im Bereich der Zensurforschung gaben4, abstrahiert vom biographischen Positivismus und sucht nach konstanten Elementen der Begutachtungspraxis. Frappierend ist der Beitrag von Florian Gödel, der die Gutachten als „Refugium für literarische Autonomie“, als geschützten Raum für literarische Urteile versteht: „Das Gutachten diente zwar der Zensur, scheint selbst jedoch nicht oder auf ganz andere Weise zensiert worden zu sein. Es mag ebenso an dem extrem eingeschränkten Adressatenkreis der Texte liegen.“ (S. 459) So gesehen thematisierten die Gutachten auch Aspekte, für die es in der öffentlichen Literaturkritik keinen Platz gab.

Instruktiv sind Beiträge von und Gespräche mit ehemaligen Lektor:innen. So berichtet Angela Drescher, frühere Lektorin im Aufbau-Verlag, mit welchem Unverständnis die westdeutschen Verlage auf eine in den DDR-Verlagen typische Textsorte reagierten: das Nachwort. Aus der Perspektive der Zensurbehörde sollte es die jeweils bevorzugten Lesarten der veröffentlichten literarischen Werke sichern. Dies galt vor allem für die schrittweise Publikation der von der DDR-Editionspolitik lange ausgesparten „spätbürgerlichen“ Autoren. Je breiter das Erschließungsprogramm der modernen Literatur in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wurde, desto höher waren die Anforderungen an die marxistische Kommentierung und Interpretation. Für diese schulmeisterliche und ideologisierte Prosa des Nachworts zeigte unter anderem der Suhrkamp-Verlag wenig Verständnis: „Das brachte manchmal Schwierigkeiten für die Druckgenehmigung mit sich, weil durch ein erklärendes oder distanziertes Nachwort bestimmte Bedenken der HV beschwichtigt werden konnten. Aus diesem Grund lagen zum Beispiel in der Volk-und-Welt-Ausgabe von Ulysses das Nachwort und die Worterklärungen broschiert bei.“ (S. 131)

Die Poetik des Sammelbandes enthält einige bekannte Probleme. Hinweise auf Redundanzen und Zweitverwertungen bereits publizierter Fragmente und Befunde sollen deshalb an dieser Stelle ausgespart bleiben. Das Faszinosum der Zensur und damit die Herrschaftsperspektive auf die Literaturproduktion in der DDR werden in dem Buch aus vielen, wenn auch methodisch nicht gleich starken Perspektiven beleuchtet. Die Herausgeber haben mit „Die Argusaugen der Zensur“ ein umfangreiches Werk vorgelegt, dass in künftigen Arbeiten zum Literaturbetrieb der DDR nicht fehlen wird.

Anmerkungen:
1 Siegfried Lokatis, Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR, Stuttgart 2019, S. 8.
2 Ebd., S. 71.
3 Benedikt Jager, Norsk litteratur bak muren. Publikasjons- og sensurhistorie fra DDR (1951–1990), Bergen 2014.
4 Michael Westdickenberg, Die „Diktatur des anständigen Buches“. Das Zensursystem der DDR für belletristische Prosaliteratur in den sechziger Jahren, Wiesbaden 2004; ders., „Es ist zu empfehlen, dem Buch ein Nachwort über die Alternative beizugeben.“ Veröffentlichungsstrategien und Literaturzensur westdeutscher belletristischer Literatur in der DDR am Beispiel von Thomas Valentins Roman Die Unberatenen, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (2003), Heft 1, S. 88–110.

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