: Solidarität. Vom 19. Jahrhundert bis zur Corona-Krise. Bonn 2021 : Verlag J.H.W. Dietz Nachf., ISBN 978-3-8012-0622-2 216 S. € 20,00

: „Solidarität zuerst“. Zur Neuentdeckung einer politischen Idee. Bielefeld 2021 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-5837-8 194 S. € 30,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knud Andresen, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Solidarität hat Konjunktur – spätestens mit der Corona-Pandemie und jüngst mit dem Ukraine-Krieg wurde der Begriff zu einem fast ubiquitären Schlagwort. Aber was war und ist darunter genau zu verstehen? Dieser Frage widmen sich aus unterschiedlichen Perspektiven zwei Bücher, die einen im guten Sinne essayistischen Charakter haben.

Dietmar Süß und Cornelius Torp arbeiten in einem konzisen Band von gut 200 Seiten mit einer explizit historischen Perspektive. Sie wollen dem Begriff, der einen „erstaunlichen Siegeszug“ seit dem 19. Jahrhundert hinter sich habe, „historische Konturen“ geben (S. 8). Die verbreiteten Deutungen von Solidarität als Handlungen eines Individuums, das sich spezifischen Gruppen zugehörig fühlt und diese auch aus eigenem Interesse unterstützt, diskutieren die Autoren in der Einleitung, ohne eine gültige Definition festzuhalten. Ihnen geht es darum, die jeweils verhandelten Solidarnormen in der Gesellschaft zu erkunden. Theoriegeschichtlich lassen sich widersprüchliche Deutungen beobachten, die mal normativ, mal deskriptiv sind. Für die historische Praxis betonen Süß und Torp dagegen: „Solidarität entsteht im Tun, im sozialen Handeln, oft getragen durch Akteurinnen und Akteure von unten, durch soziale Bewegungen, die darauf drängen, ihre missachteten Interessen und moralischen Rechte anzuerkennen.“ (S. 20) Ihr Fragehorizont ist daher mit einer praxeologischen Dimension verbunden und orientiert sich weniger an begrifflichen Deutungskämpfen.

Die Praktiken der Solidarität1 werden chronologisch skizziert. Dies erfolgt zwar mit einem Schwerpunkt auf Deutschland, aber eingebunden in transnationale und globale Trends. Die „Anfänge der Solidarität“ verorten die Autoren im „langen“ 19. Jahrhundert und in der Geschichte der Arbeiterbewegung bis zum Ersten Weltkrieg. Im „Zeitalter der Extreme“ (1918–1945) veränderten sich „Sprache und Praxis“ der Solidarität – faschistische Bewegungen, antikoloniale Kämpfe und andere Gewalterfahrungen führten zu neuen Bündnisse und zu „neue[n] Empfindungen gegenseitiger Nähe und Verbundenheit“ (S. 74), die weniger exklusiv auf eine eigene Gruppe bezogen waren. Für die Zeit nach 1945 werden „neue und alte Formen solidarischer Praxis“ betrachtet – neben der Dekolonisierung und den Bedingungen des Kalten Krieges auch der Aufschwung der Neuen Sozialen Bewegungen. Das Kapitel „Solidarität, Wohlfahrtsstaat und Fluchtmigration“ beschäftigt sich mit dem Aus- und teilweise auch Abbau des Wohlfahrtsstaates sowie den dazugehörigen In- und Exklusionsmechanismen. Das letzte Hauptkapitel rückt fast an die Gegenwart heran; es skizziert „Europäische und globale Solidaritäten im späten 20. und im 21. Jahrhundert“.

Diese Tour d’horizon bringt eine Fülle an Einzelbeispielen: von transnationalen Streikunterstützungsaktivitäten der Ersten Internationale über Spendensammlungen für hungernde Kinder in Russland 1920 oder Fluchthilfe während des Nationalsozialismus hin zu Boykottkampagnen gegen Südafrika in den 1970er- bzw. 1980er-Jahren und europäischen Betriebsräten bei General Motors Anfang des neuen Jahrtausends. Die Auswahl kann nur exemplarisch sein, aber sie illustriert die generellen Trends, die Süß und Torp festhalten. Es ist für sie kein linearer Prozess der Ausweitung solidarischer Praktiken von partikularen Vergemeinschaftungen zu universalen Rechten für alle Menschen, doch ist ein optimistischer Grundton nicht zu überlesen.

Im Fazit nennen sie vier Merkmale von Solidarität und zwei neue Tendenzen. Entwickelt habe sich Solidarität erstens als ein Kampfbegriff in der Arbeiter- und auch in der Frauenbewegung, bei dem die Annahme einer ähnlichen sozialen Lage zu gemeinsamen Handlungen führen sollte. Es blieb jedoch ein Konstruktionsprozess, wenn auch zeitweilig sehr erfolgreich. Der Zerfall der sozialmoralischen Milieus brachte für die Gewerkschaften mehr Probleme, den transnationalen Solidaritätsgedanken zu aktualisieren, als für die Frauenbewegung. Die zweite Linie ist der Wohlfahrtsstaat als „institutionalisierte Form“ der Solidarität (S. 178). Lange kontinuierlich ausgebaut im nationalen Rahmen, gab es seit den 1980er-Jahren rückläufige Effekte. Zwar skizzieren die Autoren auch eine zunehmende Privatisierung sozialer Sicherungen seit dieser Zeit, aber einem gesellschaftlichen „Entsolidarisierungsnarrativ“ möchten sie doch widersprechen. Angesichts weiterhin hoher Sozialausgaben und neuer Felder wie dem Elterngeld oder der Pflegeversicherung sei es in den westlichen Industriegesellschaften eher ein Umbau. Zudem sei im Globalen Süden durchaus ein „Zuwachs an institutionalisierter Solidarität“ zu beobachten (S. 180).

Als drittes Merkmal sei das „Spannungsverhältnis von Partikularismus und Universalismus“ kennzeichnend für Solidarität (S. 180). Die Ausschlussmechanismen der Gewerkschaften gegen Ungelernte, Migrant:innen oder Frauen lassen sich historisch gut nachzeichnen, aber Othering sei eben auch historischen Wandlungen unterworfen, der Konflikt sei nicht auf Dauer gestellt. Allein die völkische Solidarität der Nationalsozialisten und anderer Strömungen nehmen Süß und Torp heraus, da diese prinzipiell nicht erweiterbar sei und die eigene Gruppe absolut setze. Seit den 1960er-Jahren sei ein Wandel zu einer Sprache der Menschenrechte und des Humanitarismus zu beobachten, die mehr seien als nur Mitgefühl. Denn dies ziele weiterhin auf die Überwindung gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse und beruhe auf der Erkenntnis einer weltweit bedingten Abhängigkeit und Verflechtung, wie Klimawandel und Corona-Pandemie eindrücklich bestätigen. Viertens führen die Autoren die Reziprozität an, die solidarisches Handeln bedingt: Vom Gegenüber wird zumindest ideell dieselbe Unterstützung erwartet. Gerade im Vergleich zu rein karitativen Programmen habe sich das gegenseitige Verständnis gewandelt: Die Unterstützten werden als Gleiche anerkannt, nicht nur als machtlose Opfer gesehen. Dies zeigen die Autoren vor allem anhand der Neuen Sozialen Bewegungen und der von Kirchen getragenen Solidaritätsbewegungen.

Diese Bewegungen symbolisieren zugleich eine der beiden Neuerungen, die Süß und Torp ausmachen: Solidaritätsvorstellungen hätten sich pluralisiert. Transnationale Solidarität könne die „Differenz in der Weltgesellschaft“ anerkennen und akzeptieren (S. 185). Als zweite grundlegende Veränderung machen sie die Bedeutung von Konsum und Vermarktlichung für Solidaritätspraktiken aus. Zwar kamen Aktionsformen wie der Zuckerboykott gegen den Sklavenhandel bereits Anfang des 19. Jahrhunderts zum Einsatz. Aber die Entkopplung von Arbeits- und Lebenswelten habe einen Bedeutungsverlust der gemeinsamen Klassenlage zur Folge gehabt. Dies habe die Zunahme von kritischem Konsum mit bedingt, sei es negativ als Boykott oder positiv wie bei „Fair Trade“.

Dietmar Süß und Cornelius Torp haben einen prägnanten Band vorgelegt, mit dem sie die historiographische Debatte um Solidarität bereichern. Die genannten vier Merkmale sind überzeugend, auch der oft als schwierig gesehene Einbezug wohlfahrtsstaatlicher Regulierungen in die historische Betrachtung von Solidaritätspraktiken. Die „Sprache der Menschenrechte“ (Jan Eckel) hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblichen Einfluss auf die internationale Politik gewonnen. Ob sich dies als eine generelle Ausweitung solidarischer Praktiken werten lässt, müssten vertiefende Studien belegen – gerade auch, um Interessen gegenüber solidarischen Praktiken etwas stärker zu gewichten. Dies könnte den hellen Grundton des Buches zumindest an einigen Stellen wieder ein wenig dunkler färben.2

Das zweite Buch ist ideen- und theoriegeschichtlich ausgerichtet, mit dezidiertem Aktualitätsbezug. Der Theologe und Sozialethiker Hermann-Josef Große Kracht hat mit „‚Solidarität zuerst‘“ (der Haupttitel steht in Anführungszeichen) ein ebenfalls schlankes Buch vorgelegt, durch das er zur „Neuentdeckung einer politischen Idee“ beitragen möchte. Im Zentrum von Große Krachts Ausführungen steht der republikanische Solidarismus, der in Frankreich um 1900 fast zur Staatsdoktrin geworden sei. Das vorliegende Buch basiert auf einer ausführlicheren Arbeit des Autors3, und drei der sieben Kapitel seien gewissermaßen Paraphrasen der älteren Studie, wie der Verfasser im Vorwort selbst einräumt.

Solidarität ist hier kein umkämpfter historischer Begriff, sondern Große Kracht versucht ihn „soziologisch-deskriptiv“ (S. 17 und öfter) zu fassen und theoretisch operabel zu machen. Daher entwirft er im ersten Kapitel das Panorama. Während es über Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit Regalkilometer von Literatur gebe, fehle eine ähnliche theoretische Durchdringung von Solidarität, obwohl diese ein „Lieblingskind der Moderne“ sei (S. 18). Daher möchte Große Kracht mit dem französischen Solidarismus in seinem Essay prüfen, ob für die politische Theorie Inspiration für die Gegenwart zu gewinnen sei, auch um die „vorherrschenden Plausibilitäten des politischen Liberalismus in ihrer kulturellen Hegemonie nachhaltig zu erschüttern“ (S. 23).

Entsprechend dieser Kampfansage skizziert Große Kracht im zweiten Kapitel den „versäumte[n] Abschied von der liberalen Gesellschaftsillusion“ (S. 25). Die Aufklärung habe zwar die bürgerlichen Freiheiten vorangebracht, aber Autoren wie Immanuel Kant oder Adam Smith entwickelten ihre Vorstellungen nicht für eine ausdifferenzierte, arbeitsteilige Industriegesellschaft. Vorstellungen eines autonomen Individuums und einer „klassenlosen Bürgergesellschaft ‚mittlerer‘ Existenzen“ (Lothar Gall) boten für das mit der Industrialisierung entstehende Proletariat keine Perspektive, oder zugespitzt: „Seines eigenen Glückes Schmied kann nur derjenige sein, der auch über eine eigene Schmiede verfügt.“ (S. 33) Anhand der Debatte um Staatshilfe oder Selbsthilfe zwischen dem Gründervater der Genossenschaftsbewegung, Hermann Schulze-Delitzsch, und Ferdinand Lassalle Anfang der 1860er-Jahre zeigt der Autor, dass ein liberales Gesellschaftsmodell von eigenverantwortlichen und ökonomisch unabhängigen Bürgern (auf die männliche Reduzierung weist Große Kracht mehrfach hin) schon Ende des 19. Jahrhunderts an sein Ende kam. Dafür verweist er auf einige Beispiele, so bei Fabrikunfällen. Denn deren Einhegung brachte ein „postliberale[s] Moralprofil des Wohlfahrtstaates“ (S. 47) hervor – mit Berufsgenossenschaften, Versicherungen und Sozialrecht wurde ein von der Gesellschaft getragenes System etabliert, dass die Verantwortung etwa bei Maschinenexplosionen nicht auf den einzelnen Arbeiter, aber auch nicht allein auf den Fabrikbesitzer oder den Maschinenhersteller verteilte. Der Begriff „postliberal“ ist daher chronologisch gemeint und wird von Große Kracht bereits für das 19. Jahrhundert verwendet.

Theoretische Inspiration findet er bei den französischen Solidaristen und ihren Vorläufern, deren exemplarische Darstellung den Schwerpunkt des Buches bildet. Ausgehend von Auguste Comte, der Solidarität für eine „deskriptive […], völlig moralfreie […] Beschreibung des sozialen Zusammenhalts menschlicher Gesellschaften“ nutzt (S. 63), wird auch Émile Durkheim viel Raum gegeben. Er beobachtete eine wachsende Freiheit (bzw. Individualisierung) und gleichzeitig wachsende soziale Verpflichtungen. Für Durkheim funktioniert die arbeitsteilige Gesellschaft daher in einer „Abhängigkeitssolidarität“ (S. 75), die sich nicht aus einem ähnlichen Bewusstsein oder einer ähnlichen sozialen Lage ergibt, sondern ein Produkt der Ausdifferenzierung sei. Als die wesentlichen Vertreter des republikanischen Solidarismus stellt Große Kracht Überlegungen des Sozialphilosophen Alfred Fouillée als Wegbereiter, des Politikers Léon Bourgeois als „Gründungsvater“ sowie des Juristen und Ökonomen Charles Gide als Protagonisten dieser sozialethischen Denkschule dar, die in der Dritten Französischen Republik den Wohlfahrtsstaat beförderte. Die Genannten verstanden Solidarität nicht als politischen Kampfbegriff wie in den sozialistischen Strömungen, sondern als eine soziale Tatsache. Dabei meinte die „solidarité de fait“ naturgegebene Abhängigkeiten, die dem in die Gesellschaft geborenen Individuum vorgängig seien und daher keinem moralischen Prinzip folgten. Dieses bilde sich erst in der „solidarité devoir“, so Gide, da die Individuen die gegenseitigen Abhängigkeiten anerkennen und begrüßen würden.

Große Kracht geht auch auf die Kritik an den Solidaristen ein, sie hätten die Autonomie des Individuums zu gering geschätzt und zu staatsfixiert argumentiert. Er weist diese Kritik nicht völlig zurück, relativiert sie aber. So hätten bereits die Theoretiker selbst darauf hingewiesen, dass moderne Gesellschaften „wachsende Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen“ bedeuten, aber nicht den „Individualismus“, der vor allem die „Ungebundenheit“ als theoretische Maxime nutzt (S. 114). Hier zitiert er Gide, der als Beispiel für „Solidarität im Gesetz“ eine Verordnung der Pariser Polizeipräfektur von 1893 nennt, in der das „Ausspeien in den Straßenbahnwagen und im Omnibus“ verboten wurde, um die Ausbreitung von Tuberkulosebazillen zu unterbinden (S. 16f.). Die Würde des Menschen habe sich politisch vor allem während der Dreyfus-Affäre gezeigt, als die Genannten sich für Dreyfus einsetzten und damit die Rechte des Einzelnen gegenüber staatlicher Willkür betonten. Politisch zielten die Solidaristen auf einen „Sozialversicherungsstaat“, der Chancen maximiert und Lebensrisiken minimiert. Dabei sahen sie sich in der Tradition der Französischen Revolution und des gesellschaftlichen Vertragsgedankens – Große Kracht spricht von einem „gesellschaftlichen Quasi-Vertrag als normative Grundlage“ für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, den die Solidaristen anstrebten (S. 132).

Im letzten Kapitel – „Ein Neustart solidaristischer Vernunft?“ – kehrt der Autor in die Gegenwart zurück. Das für ihn erstaunliche Wiedererstarken des liberalen Programms von „Freiheit, Markt und Eigenverantwortung“ seit den 1970er-Jahren erklärt er sich damit, dass „keine alternative Version einer freiheitlichen und gerechten Gesellschaft zur Verfügung stand“; sozialistische Konzeptionen lehnt er kurzerhand als kollektivistisch ab. Zwar sei „die neoliberale Hegemonie“ seit der Finanzkrise 2008 „an ihr Ende gekommen“, aber es herrsche „auf dem Feld der sozialen Ideen weithin Ratlosigkeit“ (S. 158). Dann folgen eher impressionistische Beobachtungen zu den „Somewheres“ und „Anywheres“ (David Goodhart), zu Rechtspopulisten und Kosmopoliten, die unterschiedliche Solidaritäten propagieren. Dies seien eine „dünne liberale Freiwilligkeitssolidarität und eine militant aufgeladene völkische Exklusionssolidarität […] konfrontiert mit einer hochemotionalen Protest- und Empörungssolidarität aus den politisch links stehenden Milieus“. Der von Große Kracht dagegen in Stellung gebrachte Begriff der „sozialen Dankesschuld“ (S. 161f.), wie die Solidaristen ihn prägten, bietet allerdings ebenso wenig konkrete politische Perspektiven wie seine Invektiven gegen eine zu emotional aufgeladene Verwendung des Begriffes Solidarität, wenn Hilfsbereitschaft, Mitgefühl oder Gemeinsinn doch bessere Begriffe seien.

Hermann-Josef Große Krachts Verdienst ist es, die in der Theorie- und Ideengeschichte wenig rezipierten Solidaristen fundiert darzustellen. Aber die Soziologie kennt viele Theorien über soziale Abhängigkeiten und Verflechtungen – erinnert sei hier nur an Pierre Bourdieu, John Rawls oder Ralf Dahrendorf. Die Gegenüberstellung zwischen liberaler Individualität und der Solidarität als soziologischem Befund ist anregend, aber doch sehr komplexitätsreduziert. Bei aller Sympathie, die die provokante Forderung nach einer „sozialen Dankesschuld“ gegenüber Hartz-IV-Empfängern hervorruft, da womöglich erst mit der Agenda 2010 die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wiederhergestellt wurde (S. 178f.), bleibt die Aktualisierung des solidaristischen Theoriegebäudes eher ein politisches als ein theoretisches Anliegen. Das weitgehende Fehlen eines politischen Solidaritätsbegriffes im Buch, der historisch eine so große Rolle spielte, und die soziologische Abkapselung tragen historiographisch weniger zur Klärung bei. Zudem bleibt offen, warum der Solidarismus nach dem Ersten Weltkrieg auch in Frankreich rasch an Bedeutung verlor.

Beide Bücher unterstreichen das gewachsene Interesse an Solidarität. Die kulturelle Hegemonie neoliberaler Gesellschaftskonzepte ist spätestens seit der weltweiten Finanzkrise rückläufig, und in der Corona-Pandemie wurde das Bedürfnis deutlich, unter „Systemrelevanz“ nicht allein den Beitrag zu steigenden Aktienkursen zu verstehen. Süß und Torp fundieren für dieses Interesse die historische Entwicklung, während Große Kracht einen anregenden theoriegeschichtlichen Beitrag leistet. Dass um Solidarität weiterhin gerungen wird, zeigen beide Bücher eindrücklich.

Anmerkungen:
1 So auch der Titel eines BMBF-Verbundprojekts, das Dietmar Süß koordiniert: https://praktiken-solidaritaet.de (15.03.2022).
2 Für ein recht breites Spektrum empirischer Forschungen siehe neuerdings: Archiv für Sozialgeschichte 60 (2020): „Hoch die internationale…?“ Praktiken und Ideen der Solidarität, https://www.fes.de/afs/baende#c209742 (15.03.2022). Süß und Große Kracht sind auch Mitautoren dieses Bandes.
3 Hermann-Josef Große Kracht, Solidarität und Solidarismus. Postliberale Suchbewegungen zur normativen Selbstverständigung moderner Gesellschaften, Bielefeld 2017, https://doi.org/10.14361/9783839441817 (15.03.2022).