R. Brydan u.a. (Hrsg.): Internationalists in European History

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Titel
Internationalists in European History. Rethinking the Twentieth Century


Herausgeber
Brydan, David; Reinisch, Jessica
Reihe
Histories of Internationalism
Erschienen
London 2021: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XIV, 286 S.
Preis
£ 90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabella Löhr, Centre Marc Bloch, Berlin

Die Geschichte des Internationalismus hat sich zu einem attraktiven und dynamischen Teilbereich der internationalen Geschichte entwickelt. Im Umfeld einer regen Forschungsaktivität zu internationalen Organisationen als Orte, wo Experten, internationale Beamte, politische Akteure oder Aktivisten konkurrierende, widerstreitende oder asymmetrische Weltordnungsentwürfe entwarfen und diese über konkrete Programme in den verschiedensten gesellschaftlichen Lebensbereichen zu verankern versuchten, eignete sich der Begriff des Internationalismus, um die Vielzahl an Motiven, Programmen, Wissensbeständen und Aktivitäten zu fassen, mit denen historische Akteure aus verschiedenen Regionen, gesellschaftlichen und politischen Spektren sich grenzübergreifend engagierten. Auf die wachsende Zahl von Studien folgten bald Versuche, die reichhaltigen und immer umfangreicheren Forschungen zu synthetisieren und sie für die Geschichte des 20. Jahrhunderts systematisch fruchtbar zu machen.1 Dieses Anliegen verfolgt auch der von David Brydan und Jessica Reinisch herausgegebene Band, mit dem die Herausgeber:innen zugleich die „Bloomsbury Series on Histories of Internationalism“ begründen.

Mit dem Band wollen sie zwei Aspekte besonders hervorheben und der künftigen Forschung ins Stammbuch schreiben. Erstens geht es um Internationalismus als „lived experience“. Darunter verstehen sie einen auf die historischen Akteure fokussierten Zugang, der Internationalismus als kontingente und komplexe Praxis konzipiert, in der bzw. über die die historischen Akteure internationale Verbindungen „bottum-up“ (S. 8) herstellten. Das erklärte Ziel ist es, Internationalismus nicht als eine Geschichte von Institutionen zu begreifen, sondern als eine Geschichte, die von konkreten Personen in ihrer Vielgestaltigkeit geprägt wurde. Zweitens konzentrieren sie sich auf die Rolle von Europa und „Europeans“ in diesem Prozess. Diesen räumlichen Fokus, der angesichts einer recht lebendigen Diskussion in der globalen und internationalen Geschichte über die Problematik und Langlebigkeit eurozentristischer Perspektiven auf den ersten Blick erstaunt, begründen sie mit Schieflagen im Forschungsstand. Denn, so das Argument, angesichts einer primär aus dem anglophonen Bereich und mit entsprechenden Perspektiven argumentierenden Literatur sei das Verständnis für die Komplexität und Binnendifferenzierung europäischer Internationalismen verloren gegangen, sodass es an der Zeit sei, diese Diversität neu zu entdecken.

Dieses Programm setzen 14 Fallstudien um, die vom frühen 20. Jahrhundert bis ungefähr in die 1980er-Jahre reichen, wobei der Fokus auf der ersten Jahrhunderthälfte liegt. Sie sind in vier thematische Abschnitte gegliedert – „Communication and infrastructure“, „Local encounters“, „Internationalism as activism“ sowie „Europe in a global context“. Ein Nachwort von Kiran Klaus Patel schließt den Band ab. Die Beiträge treffen sich in dem gemeinsamen Bemühen, Internationalismus als eine vielfältige, kontingente und oftmals partikulare Angelegenheit zu begreifen, die nicht selten an ihren eigenen universalistischen Ansprüchen scheiterte, dafür aber auf lokaler oder regionaler Ebene durchaus handfeste Ergebnisse hervorbringen konnte. Das gilt für die Aufsätze von Jo Laycock über humanitäre Hilfe in der Sowjetrepublik Armenien in den 1920er-Jahren, von Kornelija Ajlec über britische Hilfe für jugoslawische Flüchtlinge in Lagern in Italien und Ägypten Mitte der 1940er-Jahre, für den Text von Carmen M. Mangion über britische katholische Missionarinnen in Peru sowie für den Beitrag von Sławomir Łotysz über den von der UNRRA geförderten Aufbau lokaler Wissensressourcen für die Produktion von Penicillin in der Tschechoslowakei. Im Kapitel über Kommunikation und Infrastruktur nehmen Brigid O’Keeffe, Heidi Tworek, Valeska Huber und Elidor Mëhilli die andere Blickrichtung ein, indem sie verschiedene Versuche analysieren, Sprache, Kommunikationsmedien und Infrastrukturen zu harmonisieren. Diese Texte veranschaulichen zwei Aspekte: Zum einen waren solche Bemühungen in der Regel zum Scheitern verurteilt, weil die vorgeschlagenen Internationalisierungen tief in spezifischen imperialen, liberalen und angloamerikanischen Vorstellungswelten und Handlungsweisen verankert waren. In der Folge wurden die Akteure mit ihrer eigenen Partikularität konfrontiert und es blieb ihnen nicht viel mehr, als dies über kurz oder lang einzugestehen. Zum anderen zeigen die Autor:innen, dass Internationalisierung auf gewisse Weise trotzdem gelang, entweder weil die Diskussionen das Bewusstsein für die eigene internationale Bedingtheit vertieften oder weil, wie im Fall von Radio Tirana, technische Verbreitung und gemeinsame politische Sprache Hand in Hand gingen.

Eine richtungsweisende Perspektive bringt das Kapitel „Internationalism as activism“ ein, in dessen Zentrum Studierende (Daniel Laqua), Vereinigungen von Menschen mit Behinderung (Monika Baár), katholische Aktivisten (David Brydan) und Schriftsteller (Kristy Ironside) stehen. Besonders die ersten drei Beiträge stellen Gruppen als international relevante Akteure vor, die in der bisherigen Forschung wenig thematisiert wurden, entweder wegen der Quellenlage, wegen ihrer vermeintlichen Staatsferne oder aufgrund der Vielgestaltigkeit und Pluralität ihrer Aktivitäten, die je nach Zeit, Ort und Kontext stark variieren konnten. Diese Beiträge unterstreichen den Ansatz des Buches, Internationalismen vor allem als konflikthafte Auseinandersetzungen über die Vorherrschaft von Normen, Werten, Deutungshoheit und Einfluss zu interpretieren, in denen die Grenzziehungen zwischen dem Politischen und Unpolitischen sowie zwischen konkurrierenden Wissensformen eine wichtige Rolle spielten, die mit der Dekolonialisierung aber auch deutlich polyzentrischer wurden.

Nach der Lektüre bleiben zwei Eindrücke: Der Band zeichnet zum einen ein komplexes und differenziertes Bild, das internationalistische Praktiken als elementar und weit verbreitet vorstellt. Die Beiträge zeigen, warum diese Praktiken in verschiedenen Lebensbereichen im 20. Jahrhundert selbstverständlich, bisweilen sogar unvermeidlich waren, um eigene Anliegen selbst auf lokaler Ebene umzusetzen. Dabei trennen sie säuberlich zwischen internationalistischen Praktiken und Vorstellungen von Universalisierung und argumentieren, dass gerade solche oftmals imperial geprägten Visionen an der lebensweltlichen und politischen Komplexität, an der Eigendynamik der jeweiligen Themen sowie an historischen Pfadabhängigkeiten scheiterten. Dem gegenüber steht zum anderen eine Einleitung, die diesen Zugriff gut begründet, die zugleich aber unnötig polarisiert und Gräben aufreißt, wo es sie nicht bräuchte. Das gilt insbesondere für die schwarz-weiß-malende Behauptung, die bisherige Forschung habe primär Institutionengeschichten geliefert, die kaum mit der Lebenswelt des 20. Jahrhunderts verbunden seien. Auf diese Weise gelingt den Herausgeber:innen zwar eine scharfe Profilierung des eigenen Zugriffs, aber sie blenden einen Teil der Forschung aus2 und fördern nicht das Gespräch. Ähnliches gilt für den Fokus auf die europäische Geschichte: Dass er in den Beiträgen nicht wirklich Profil gewinnt, mag mit der mangelnden Bereitschaft der Herausgeber:innen zu tun haben, die kontroversen Diskussionen zur Platzierung der europäischen Geschichte in der globalen und internationalen Geschichte zur Kenntnis zu nehmen und sie produktiv zu verarbeiten.3 Stattdessen wird mit einem Europabegriff argumentiert, der auf einer interessanten Mischung aus forschungspraktischen und geographischen Kriterien beruht – nämlich anglophone Forschungsperspektiven plus das östliche Europa inklusive Sowjetunion. Über diese Definition des räumlichen Zuschnitts lässt sich streiten: Auf der einen Seite ist die bewusste und intensive Berücksichtigung von osteuropäischen Akteuren und Gebieten sehr begrüßenswert, weil sie eine Forschungslücke bearbeitet, die in der internationalen Geschichte oftmals nicht als solche wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob eine analytische Europa-Definition, die entlang von Themen, Perspektiven sowie (Selbst- und Fremd-)Zuschreibungen argumentieren würde, nicht eher in der Lage wäre, europäische Internationalismen so zu konzeptionalisieren, dass sie als eine vielschichtige, kontingente und kontroverse Praxis erscheinen, die Welt wahrzunehmen, sich selbst zu positionieren, Ressourcen zu mobilisieren und diese in spezifischen Raumkonfigurationen wirksam werden zu lassen. Im Nachwort lässt Kiran Klaus Patel diese Perspektive aufscheinen. Sie würde es erlauben, für die Geschichte des Internationalismus nun mal nicht unwichtige Akteure beispielsweise aus Deutschland oder Frankreich nicht kategorisch auszuschließen. Stattdessen könnten sie innerhalb eines komplexen Tableaus positioniert und in Relation gesetzt werden zu Akteuren aus dem östlichen oder südlichen Europa mit dem Ziel, eine wirkliche Verflechtungsgeschichte (inner-)europäischer Internationalismen zu schreiben.

Anmerkungen:
1 Zum Beispiel Glenda Sluga / Patricia Clavin (Hrsg.), Internationalisms. A Twentieth Century History, Cambridge 2017.
2 Zum Beispiel Guy Fiti Sinclair, To Reform the World. International Organizations and the Making of Modern States, Oxford 2017.
3 Immer noch Standard setzend: Sebastian Conrad / Shalini Randeria / Regina Römhild (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, 2., erweiterte Aufl. Frankfurt am Main 2013, darin besonders die Einleitung von Shalini Randeria und Regina Römhild. Außerdem Madeleine Herren, Transculturality or: How to find Europe beyond Eurocentrism, in: Laila Abu-Er-Rub u.a. (Hrsg.), Engaging Transculturality, London 2019, S. 95–106.

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