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Titel
Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute


Autor(en)
Chapoutot, Johann
Erschienen
München 2021: Propyläen Verlag
Anzahl Seiten
172 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolas Lelle, Humboldt-Universität zu Berlin

Es gab keine Stunde Null. Nicht in der Politik, nicht bei der Polizei, der Verwaltung, den Gerichten, nicht in den Schulen, Krankenhäusern oder Betrieben. In allen Bereichen des deutschen gesellschaftlichen Lebens feierten „zwielichte Figuren ihr come back in Machtpositionen“ (Theodor W. Adorno). Auch unter denjenigen, die sich Fragen des Managements, der Menschenführung, zuwendeten, waren solche Figuren, die sich bereits in den 1930er-Jahren Gedanken über Führung und Arbeit gemacht hatten. Der später einflussreichste unter ihnen hieß Reinhard Höhn. Johann Chapoutot wendet sich diesem für die deutsche Nachkriegsgeschichte wichtigsten Managementlehrer zu, um zu untersuchen, inwiefern die personelle Kontinuität auch eine ideologische war. Chapoutots Ergebnis fällt harsch aus: Es habe „keinerlei Bruch“ gegeben (S. 115) zwischen Höhns Überlegungen zum Führen aus den 1930er-Jahren und den Jahrzeiten danach, „vielmehr eine beeindruckende Kontinuität seiner Ideen“ (ebd.). Nach Chapoutot übertrug Höhn sein Führungskonzept bruchlos in die Nachkriegsgesellschaft.

Reinhard Höhn machte zwei Karrieren. Er leitete im Nationalsozialismus den Sicherheitsdienst der SS und stieg zum angesehenen Staatsrechtler mit Professur in Berlin auf. 1944 ernannte ihn Himmler zum SS-Oberführer. Konsequenzen hatte das für ihn nie. Er gab sich eine Weile als Heilpraktiker aus, doch schon 1953 stieg er zum Geschäftsführer der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft auf und baute die Bad Harzburger Akademie für Führungskräfte aus. „Die Unterstützungsnetzwerke ehemaliger SS-Angehöriger funktionierten bestens“ (S. 140), resümiert Chapoutot, denn nicht nur gelang Höhn schnell die zweite Karriere, er stellte in Harzburg auch alte Kameraden ein. Mit seinem Harzburger Modell wurde Höhn berühmt. Bis Anfang der 1970er-Jahre schulte er eine Viertel Million Manager aus namhaften Unternehmen. Ein verdienter SS-Führer unterrichtete bundesdeutsche Manager im richtigen Führen. Nach Kritik an seiner SS-Karriere, aber auch weil das Harzburger Modell mit den Veränderungen der Zeit nicht mithalten konnte, verlor er ab Anfang der 1970er-Jahre an Bedeutung. Er publizierte aber weiter und starb erst im Jahr 2000 mit 94 Jahren. In den Nachrufen großer Zeitungen wurde er „einhellig als Vordenker des modernen Managements gepriesen“ (S. 140).

Chapoutot nutzt diese Geschichte, um sich der Ideologie der Menschenführung der Nationalsozialisten zuzuwenden und zu fragen, wieviel davon in der Nachkriegszeit weiter eine Rolle spielen konnte – „bis heute“, wie der Untertitel andeutet. Sein Ausgangspunkt ist eine „besonders brilliante Gruppe von Akademikern“ (S. 18), zu denen Höhn gehörte, die sich Fragen der Führung stellten, nicht zuletzt im Hinblick auf den Expansionskrieg im Osten. Diese SS-Intellektuellen waren nicht für den Staat, sondern für die „Volksgemeinschaft“, und sie faselten von „germanische[r] Freiheit“ (S. 52), die den Deutschen eigen sei, weshalb deutsche Menschenführung auf Freiwilligkeit beruhen müsse. Höhn legte seine Staatsfeindschaft niemals ab. In seinem Geschichtsnarrativ, das er vor wie nach 1945 vertrat, war der Staat ein Produkt der langen Geschichte des Liberalismus, die er bis in den Absolutismus verlängerte. Gegen den abstrakten Staat stellte Höhn konkrete Gemeinschaften. An die Stelle der „Volksgemeinschaft“ traten bei ihm in der Nachkriegszeit das Unternehmen und die „Mitarbeiter-Gemeinschaft“ (S. 60). Er hatte seinen „konzeptionellen Referenzrahmen“, so Chapoutot, die „möglichst geschlossene Gemeinschaft […] niemals aufgegeben“ (S. 128).

Das Harzburger Modell setzte auf die „Delegation von Verantwortung“ und die „Führung im Mitarbeiterverhältnis“ und beanspruchte, ein nicht-autoritäres Führungskonzept zu sein. Mit diesem Selbstbild gelang die Integration in den neuen demokratischen Staat. Chapoutot zeigt – wie auch schon einige vor ihm –, dass das Modell mit Demokratie und Mitbestimmung wenig zu tun hat: „Die Autonomie war nichts als Fassade: Der Untergebene war zwar frei, die Mittel zu wählen, aber sicherlich nicht, das Ziel zu bestimmen.“ (S. 138) Diesen Teil des Modells entlehnte Höhn seinen militärhistorischen Studien zum Preußischen General Scharnhorst und dessen Reform des Militärs, die in die Auftragstaktik mündete. Diese militärhistorischen Studien stammten aus den frühen 1940er-Jahren, was einmal mehr bezeugt, dass Höhn nach 1945 aufnahm, was er in den Jahren zuvor entwickelt hatte.

Chapoutots Buch thematisiert ausdrücklich nicht die offen repressive Seite des Nationalsozialismus, sondern richtet den Blick ins Innere der deutschen „Volksgemeinschaft”, um zu verstehen, wie hier Managementideen entworfen werden konnten, die die deutsche Nachkriegszeit prägten. Diese Art der Beschäftigung mit Höhn und den Führungsvorstellungen kommt nicht umhin, die „Modernität des Nationalsozialismus“ (S. 15) zu thematisieren. Der Nationalsozialismus setzte auf die Aktivierung der Volksgenoss:innen. Sie sollten zur Mitarbeit angeregt werden. Das irritiert das gängige Bild vom Nationalsozialismus: „Paradox erscheint auch das Bestreben, Einverständnis, ja begeisterte Zustimmung zu erzielen – in einem Land, das wir ab 1933 geneigt sind, als ein riesiges Freiluft-Gefängnis zu betrachten, als ein gigantisches Konzentrationslager.” (S. 135f.) Zu diesem gängigen Bild, das die Geschichtswissenschaft spätestens seit der Debatte um die Bedeutung des „Volksgemeinschafts“-Gedankens korrigiert hat, mag auf den ersten Blick auch nicht passen, dass ein ehemaliger SS-Mann ein nicht-autoritäres Management-Modell erdenkt, dass also gerade im Nationalsozialismus „ein nicht autoritäres Konzept von Arbeit [entwickelt wurde], bei dem die Angestellten und Arbeiter aus freien Stücken in ihr Los und in die Bedingungen ihrer Tätigkeiten einwilligten“ (S. 15f.). Diesen vermeintlichen Widerspruch zu begreifen, heißt den Nationalsozialismus besser zu begreifen.

Chapoutots Buch hilft dabei. „Gehorsam macht frei“ ist eine verdienstvolle Analyse der nationalsozialistischen Führungsvorstellungen, die die wenigen Texte, die es bislang zu Höhn und zum Harzburger Modell gibt, ergänzt.1 Neu ist dabei etwa die besondere Betonung der Staatsfeindlichkeit Höhns vor wie nach 1945 und dass Chapoutot – wie schon lange keine:r mehr – eine Kontinuitätsthese formuliert, die es zu diskutieren lohnt. Überhaupt sticht das Buch durch seinen erfrischend parteiischen Tonfall heraus.

Irritierend ist, dass Chapoutot den Begriff der Gefolgschaft, ein zentraler Begriff der politischen Ökonomie des Nationalsozialismus, nur am Rande streift, zeigt sich in ihm doch genau dieses paradoxale Moment zwischen unserem Bild vom Nationalsozialismus und dessen Selbstbild. Die Nationalsozialisten kontrastierten nämlich stets den Begriff der freiwilligen Gefolgschaft und des Folgens mit dem als passiv assoziierten Gehorsam. Wie konstituierend der Antisemitismus für diese Idee von Gefolgschaft ist, sieht man erst, wenn man sich ihm über das Ideologem der „deutschen Arbeit“ nähert.2 Da dieses bei Chapoutot keine Rolle spielt, wird auch der Antisemitismus leider nur am Rande behandelt. Auslassungen und Nicht-Thematisieren von Antisemitismus und Rassismus bei Höhn nach 1945 deuten an, dass es sich nicht ganz um die von Chapoutot behauptete bruchlose Kontinuität handelte, sondern sich Höhn nach 1945 zu graduellen Anpassungsleistungen gezwungen sah.3

Zum Schluss richtet der Autor den Blick in die Gegenwart. Wie auch die Nationalsozialisten sprechen wir heute noch von „leistungsbereit“, „leistungsfähig“ oder „sich durchsetzen“. Nicht nur diese sprachliche Kontinuität sollte „uns darüber nachdenken lassen [..], wer wir sind, was wir denken und tun“ (S. 142). Was Chapoutot hier betreibt, ist nicht einfach Geschichtswissenschaft, und das ist auch gut so: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinem Erbe wirft uns auf uns selbst zurück, weil er eben nicht einfach vergangen ist, sondern nachlebt und Fragen an unsere Gegenwart stellt. Ein Buch, das sich zu lesen lohnt.

Anmerkungen:
1 Alexander Müller, Reinhard Höhn. Ein Leben zwischen Kontinuität und Neubeginn, Berlin 2019; Michael Wildt, Der Fall Reinhard Höhn. Vom Reichssicherheitshauptamt zur Harzburger Akademie, in: Alexander Gallus / Axel Schildt (Hrsg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 254–271; Adelheid von Saldern, Das „Harzburger Modell“. Ein Ordnungssystem für bundesrepublikanische Unternehmen, 1960–1975, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 303–329.
2 Nikolas Lelle, „Firm im Führen“. Das „Harzburger Modell“ und eine (Nachkriegs-)Geschichte deutscher Arbeit, in: Werner Konitzer / David Palme (Hrsg.), „Arbeit“, „Volk“, „Gemeinschaft“. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2016, S. 205–224.
3 Zu einer umfassenderen Kritik an Chapoutots Kontinuitätsthese: Stefan Kühl, Gehorsam macht frei (29.03.2021), in: https://sozialtheoristen.de/2021/03/29/gehorsam-macht-frei/ (23.11.2021).

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