Cover
Titel
Die Figur des Ratgebers in transkultureller Perspektive.


Herausgeber
Büschken, Dominik; Plassmann, Alheydis
Reihe
Studien zu Macht und Herrschaft 6
Erschienen
Göttingen 2020: V&R unipress
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Epp, Institut für Mittelalterliche Geschichte , Philipps Universität Marburg

Die Frage nach politischen Machtgefügen und Praktiken des Regierens ist gegenwärtig eines der produktivsten Forschungsfelder der historischen Mediävistik. Die Interaktion von Königen und Großen, Zentrum, Regionen und Peripherie sowie Prozesse der Rechtsetzung und Rechtsfortbildung werden immer stärker im Lichte konsensualer Bindungen von Monarchen an mitwirkende lokale und regionale Akteure gesehen. Adlige und kirchliche Ansprüche auf Partizipation am Regierungshandeln werden deutlicher akzentuiert, worauf Bernd Schneidmüllers Begriff der „konsensualen Herrschaft“ abhebt.1

Neuerdings wird der Blick auf europäische Strukturen durch Ansätze der Governance-Forschung sozial- und politikwissenschaftlich angereichert und globalgeschichtlich erweitert.2 Auch der Bonner Sonderforschungsbereich 1167 möchte „Macht und Herrschaft transkulturell“ verstehen.3 Im Rahmen dieses Unternehmens ist der vorliegende Band erschienen.

Dessen Titel Die Figur des Ratgebers ist freilich missverständlich. Im Zentrum stehen keineswegs historische Quellen und deren Sicht auf politische Beratung als Teil von Partizipation. Den Leser erwarten chronologisch zwischen dem ersten Jahrtausend vor und dem 15. Jahrhundert nach Christus gespreizte und kulturell zwischen dem Mittelmeerraum, England, China und Indien gestreute Blicke auf literarisch in unterschiedlichen Genera geformte, fiktiv konstruierte Gesprächssituationen zwischen Monarchen und einzelnen Beratern. Eine Diskussion der methodischen Anlage des Bandes, der Auswahlkriterien für die Beispiele und eine Exposition der gewählten Interpretationsmethoden unterbleibt jedoch in der Einleitung. Welcher theoretische Ansatz bindet die Einzelbeiträge zusammen? Welche Position nehmen die Herausgeber zur postmodernen Debatte um das Verhältnis von historischen und literaturwissenschaftlichen Interpretationsmethoden ein? Man hätte den vermittelnden Ansatz der amerikanischen Mediävistin Gabrielle Spiegel benutzen können.4 Man hätte gewinnbringend auch die methodischen Überlegungen aus der Sozialpsychologie heranziehen können, die Fabian Schulz in Tübingen im Emmy-Noether-Projekt „Macht und Einfluss. Einflussnahme auf den Herrscher zwischen Antike und Mittelalter“ zum interpersonellen Einfluss auf Herrscher anwendet.5

Doch im vorliegenden Band wird nicht einmal die Differenzierung der Quellensorten in „fiktional-erzählende“, „faktual erzählende“ und „pragmatische“ (S. 17) näher begründet. Sie ist nicht trennscharf und überzeugt daher nicht, zumal in den Einzelbeiträgen nicht darauf Bezug genommen wird.

In ihrer Einleitung entdeckt Alheydis Plassmann nichtsdestotrotz kultur- und zeitübergreifend „zahlreiche strukturelle Gemeinsamkeiten“ von Beratung, „die ins Herz des Herrschaftsverständnisses und der Machtvorstellungen zielen.“ (S. 17) Für sie ergibt sich aus den Beispielen ein „erstaunlich kohärentes Bild von einer Herrscher-Ratgeber-Konstellation, die den Herrscher in der Ausübung seiner Macht eingeschränkt oder geschwächt oder sogar prinzipiell in Frage gestellt zeigt.“ (S. 20) Dem Leser erschließt sich jedoch aus dem Band nicht, dass mehr als bloßer Zufall in der Auswahl der Fallstudien für diesen Befund verantwortlich ist.

Um nur einige Beiträge herauszugreifen: Felix Bohlen befragt chinesische fiktionale Texte des 5. bis 3. Jahrhunderts vor Christus nach ihrer narrativen Verarbeitung des Herrscher-Ratgeber-Verhältnisses und versucht, diese möglichen politischen Aussageabsichten zuzuordnen. Exemplifiziert werden Herrscherkritik und der Aufbau einer auf Verdienste gestützten sozialen Ordnung. Da jedoch u.a. ein „heterogenes Textkonvolut unbekannter Autor- bzw. Kompilatorenschaft“ (S. 31) ausgewertet wird, ist nicht einmal die historische Perspektivität der Quelle genau zu ermitteln. Es heißt lediglich, dass die Texte, welche Phänomene sozialer Mobilität spiegeln, „im Rahmen außertextlicher Elitendiskurse“ (S. 24) eine Rolle spielten. Die Interaktion von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird jedoch nicht theoretisch diskutiert. Das Vorkommen von Visionserzählungen wird nicht zum Vergleich mit christlichen Texten genutzt.6

David Hamacher beschäftigt sich mit der römischen Tragödie Octavia, die einen Dialog zwischen Kaiser Nero und Seneca ins Zentrum stellt, in welchem über die richtige Art des Regierens debattiert wird. Auch in diesem Fall ist die Frage nach dem Autor schwierig zu klären, es gelingt aber, die teils an Senecas De clementia und stoische Handlungsmaximen angelehnten Aussagen des Textes als Beiträge einer historischen Diskussion über Herrschertugenden in der Flavierzeit zu erfassen.

Der Beitrag von Dominik Büschken untersucht nach einer Skizze „gültige(r) kollektive(r) Vorstellungen von gutem Rat“ (S. 101), die ohne weitere Begründung anhand der Schriften Bernhards von Clairvaux exemplifiziert werden, vor allem die Historia Novella Wilhelms von Malmesbury (+1143). Die Robert von Gloucester gewidmete Schrift hebe dessen Vorbildfunktion als beratende moralische Instanz im englischen Thronstreit (1135–1153) hervor. Er werde als positives Gegenbild zu König Stephan dargestellt. Der Beitrag enthält leider noch allzu viele Schreib- und Übersetzungsfehler lateinischer Wörter und Begriffe selbst an zentralen Stellen in Text und Anmerkungen.7

Während hier Geschichtsschreibung im historischen Kontext interpretiert wird, untersucht Ulrike Becker die Tugend der prudentia in einer Sammlung von Tierfabeln und Erzählungen, die auf indische Wurzeln zurückgehen und im 8. Jahrhundert ins Arabische sowie 1251 im Auftrag des späteren Königs Alfons X. des Weisen ins Kastilische übertragen wurden. Schon vor dessen Amtsantritt sei darin eine Orientierung an prudentia als der "Fähigkeit, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden“(S. 139) nachzuweisen, die später die Rechtssammlung der Siete Partidas prägte.

Karina Kellermann ruft in ihrem Beitrag zu Sebastian Brant als „Wunderzeichendeuter“ (S. 193) in Erinnerung, dass die Rolle des Beraters auch durch dessen prophetische Fähigkeiten bestimmt war. Das ist ein dezidierter Hinweis auf die theologische Dimension von Beratung, die im Band insgesamt etwas kurz kommt. Die herrscherliche Pflicht, sich beraten zu lassen, beruhte auf dem Vorbild alttestamentarischer Könige und der Mahnung des Predigers: Fili, sine consilio nil facias (Eccl. 32,24). Consilium war eine der sieben Gaben des Heiligen Geistes.8

In der Gesamtschau ergibt sich ein zwiespältiges Bild: Begrüßenswert ist der Versuch, den Eurozentrismus der historischen Mediävistik durch transkulturelle Vergleiche zu überwinden. Doch sind wie angesprochen methodische Vorbehalte angebracht. Ein Resümee, das die in der Einleitung formulierten Leitfragen nach Beratungsmodi, -medien, -berechtigung und -qualifikation aufgegriffen und Antworten gebündelt hätte, fehlt ebenfalls. So bleibt der Eindruck eines zufälligen Kaleidoskops von Momentaufnahmen, deren Repräsentativität zweifelhaft ist, da Auswahlkriterien und Auswertungsmethoden nicht transparent gemacht werden.

Anmerkungen:
1 Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig u.a. (Hrsg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit, Festschrift für Peter Moraw, Berlin 2000, S. 53–87; zur Bedeutung des Konsenses im mittelalterlichen Rechtsleben: Verena Epp / Christoph Meyer (Hrsg.), Recht und Konsens im frühen Mittelalter, Ostfildern 2017; Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter, Darmstadt 2016.
2 Stefan Esders / Gunnar Folke Schuppe, Mittelalterliches Regieren in der Moderne oder modernes Regieren im Mittelalter?, Baden-Baden 2015.
3 Vgl. zum Bonner Sonderforschungsbereich 1167 "Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive" vgl. https://www.sfb1167.uni-bonn.de/ (23.10.2020); in diesem Kontext siehe auch: Thomas Ertl, Konsensuale Herrschaft als interkulturelles Konzept, in: Matthias Becher / Stephan Conermann / Linda Dohmen (Hrsg.), Macht und Herrschaft transkulturell. Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2018, S.123–144.
4 Gabrielle Spiegel, The Past as Text, Baltimore 1997 und neuerdings dies., The Limits of Empiricism. The Utility of Theory in Historical Thought and Writing, in: The Medieval History Journal 21 (2018), S. 1–22.
5 Vgl. https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/philosophische-fakultaet/fachbereiche/geschichtswissenschaft/seminareinstitute/alte-geschichte/forschung/macht-und-einfluss/ (23.10.2020); Bertram H. Raven, A Power/Interaction Model of Interpersonal Influence. French and Raven Thirty Years Later, in: Journal of Social Behaviour and Personality 7 (1992), S. 217–244.
6 Dies z. B. bei Matthew Strickland, Dreaming of Reform. Visions and Admonitions as Criticism of the Ruler in the Anglo-Norman and Angevin Realms, in: Karina Kellermann u.a. (Hrsg.), Criticising the Ruler in Pre-Modern Societies – Possibilities, Chances, and Methods. Kritik am Herrscher in vormodernen Gesellschaften - Möglichkeiten, Chancen, Methoden, Göttingen 2019, S. 237–266.
7 Z.B. im Zitat aus Bernhards von Clairvaux De consideratione in Anm. 10: negatio statt negotio, egendum statt agendum; im Text S. 109 facilitas mors statt moris, was auch nicht gutes Wesen, sondern Leichtigkeit im Umgang bedeutet, oder sanus sententia (sic!) ohne Quellenbeleg. In Anm. 68 fehlt das sinntragende Prädikat im letzten Satz des Zitats.
8 Carla Casagrande u.a. (Hrsg.), Consilium. Teorie e pratiche del consigliare nella cultura medievale, Florenz 2004, darin vor allem die Beiträge von Carla Casagrande, Virtù della prudenza e dono del consiglio, S. 1–14 und Maria Luisa Picascia, La concezione teologica di donum consilii, S. 15–32.

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