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Titel
Die Indianer. Geschichte der indigenen Nationen in den USA


Autor(en)
Bungert, Heike
Erschienen
München 2020: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 16,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aram Mattioli, Historisches Seminar, Universität Luzern

Wissenschaftlich fundierte Studien zur Geschichte der nordamerikanischen First Peoples sind im deutschsprachigen Raum dünn gesät. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass dieser Teilbereich der Geschichte Nordamerikas an den meisten Historischen Seminaren in Deutschland, der Schweiz und Österreich traditionell nur ein Randdasein spielt. Eine Ausnahme bildet der Nordamerika-Lehrstuhl an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, an dem Heike Bungert lehrt. Ihre Gesamtdarstellung strebt einen Überblick über die gesamte indianische Geschichte der letzten 16.000 Jahre an. Dabei verfolgt sie drei Hauptziele. So will das Buch erstens aufzeigen, dass die First Peoples ihr Leben stets aktiv gestalteten und es selbst unter widrigsten Bedingungen nie nur als passive Opfer erlitten. Zweitens soll die Rolle der Frauen in den indigenen Gesellschaften besonders thematisiert und drittens sollen die euroamerikanischen Indianerbilder einbezogen werden. Das ist eine zeitgemäße Herangehensweise. Trotz der in den letzten Jahren lauter gewordenen Kritik hält es Bungert für grundsätzlich unbedenklich, die kolonial geprägte Fremdbezeichnung „Indianer“ weiterhin zu verwenden. Im Text ist mindestens so oft aber auch von „Indigenen“ oder „indigenen Gruppen“ die Rede, kaum aber von „American Indians“, „First Peoples“ oder „Native Americans“.

Zwei der 13 Kapitel behandeln die Vorkontaktzeit bis ins Jahr 1513. Für das Paläo-indianische Zeitalter zwischen 14.000 bis 8.000 vor Christus betont die Verfasserin zu Recht, dass die Wissenschaft vieles nicht weiß und wohl auch nie gesichert wissen wird. Sie hält nichts von den in den letzten Jahren vorgebrachten neuen Theorien zur Erstbesiedlung der Amerikas, sondern organisiert ihre Darstellung entlang der traditionellen Beringstraßen-Theorie. Im Archaischen Zeitalter bildeten sich zwischen 8000 vor und 500 nach Christus etliche Ackerbaukulturen, in deren Zentrum der Anbau von Mais, Kürbis und Bohnen stand, und ausgedehnte Handelsnetze aus. Und nach 500 erbauten die Hohokam im Südwesten ausgeklügelte Kanalanlagen, um ihre Felder in der Sonora-Wüste zu bewässern, während die Anasazi und die Ancestral Pueblo Peoples andere Formen des Bewässerungsfeldbaus betrieben. Um das Jahr 1300 war das am Mississippi, nahe des heutigen St. Louis gelegene Handelszentrum Cahokia bevölkerungsreicher als London. Bevor 1513 mit der von Juan Ponce de León angeführten Expedition das Vorkontaktzeitalter zu Ende ging, war das indianische Nordamerika kulturell weit diverser und agrarischer geprägt, als es die euroamerikanischen Fremdstereotypen lange glauben machten.

Wie viele andere Historikerinnen und Historiker geht Heike Bungert davon aus, dass um 1500 zwischen 5 bis 7 Millionen Indigene auf dem Gebiet lebten, das später zur USA wurde, und dass die Diversität ihrer Kulturen am besten mit dem von Alfred Kroeber entwickelten Modell der zehn Kulturareale zu erfassen ist. Zunächst beschreibt sie die verschiedenen Formen des Kontaktes zwischen indigenen Gesellschaften und europäischen Invasoren. In der sich herausbildenden Atlantischen Welt entstand ein transozeanisches Netzwerk von Menschen, Tieren und Pflanzen, aber auch von Ideen, Techniken und materiellen Objekten. In die Darstellung einbezogen werden sowohl die spanischen, französischen, russischen als auch die niederländischen und englischen Aktivitäten in den „neuen Welten für alle“ (Colin G. Calloway). Dabei wird das eine oder andere zu knapp angesprochen, so etwa, wenn es ohne jede weiteren Ausführungen heißt: „Die Russen schließlich erzwangen Handel mit Seeotterfellen und führten im heutigen Alaska teilweise eine Art Zwangsarbeit ein, was zu vielen Todesopfern führte.“ (S. 53)

Die Darstellung bezieht die unterschiedlichen Dimensionen des Kulturkontakts bis 1770 ein und geht davon aus, dass eingeschleppte Krankheiten in den ersten 200 Jahren bis zu 90 Prozent der im Gebiet der heutigen USA lebenden American Indians dahinrafften. Gut zum Ausdruck kommt, wie frei von Skrupeln die spanischen und insbesondere englischen Siedlungsprojekte vorangetrieben wurden. Den Puritanern galt das Massensterben der Indianer als Fingerzeig Gottes, ging es ihnen doch darum, auf indianischen Schädelstätten ein „neues Jerusalem“ zu errichten. Neben den zahlreichen Kriegen und schauerlichen Massakern wie dem am Mystic River (1637) thematisiert Bungert auch die Kulturtransfers in beide Richtungen, den „Middle Ground“ oder den Sklavenhandel mit Indigenen. Zwischen 1670 und 1715 wurden bis zu 50.000 American Indians versklavt und manche davon von Charleston aus auf karibische Plantagen verkauft. Aber auch in South Carolina lebten 1708 neben 5.300 Siedlern 2.900 afrikanische und 1.400 indianische Sklaven und Sklavinnen.

Nur sehr komprimiert dargestellt werden die Gründungsjahre der Vereinigten Staaten und ihre verheerenden Auswirkungen auf die First Peoples. Eine große Pockenepidemie allein forderte während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges 130.000 Menschenleben, darunter Zehnttausende von American Indians. Keine Erwähnung findet dagegen der Verheerungsfeldzug, den Generalmajor John Sullivan 1779 auf Befehl von George Washington im Herzland der Haudenosaunee führte. Sullivans Soldaten fackelten über 40 irokesische Dörfer mit ihren Langhäusern samt den sie umgebenden Maisfeldern nieder, um die dort lebenden Cayuga, Seneca, Mohawk und Onondaga dauerhaft aus ihren Territorien zu vertreiben. Das Niederbrennen von Dörfern, Feldern und Vorratsspeichern war, wie Bungert zutreffend festhält, typisch für die englische und später auch amerikanische Kriegsführung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Umgekehrt begaben sich die First Peoples meist nur auf kurze Kriegszüge, die ihre Feinde nicht vollständig auszulöschen trachteten. Sie dienten dem Beutemachen und der Vergeltung, aber auch dazu, das Ansehen der an ihnen beteiligten Krieger zu steigern.

Breiten Raum nehmen im zweiten Teil des Buches die indianischen Revitalisierungsbewegungen, die Umsiedlungsära, die Expansion in die Great Plains und die von Washington betriebene Konzentration der First Peoples in Reservationen ein. Wiederum wird betont, dass auch im Westen bis zu 90 Prozent der Indigenen an eingeschleppten Krankheiten starben. Freilich verübten Kavallerie und Territorial-Milizen immer wieder genozidale Massaker wie das von Sand Creek (1864) oder das am Marias River (1870). „Immer häufiger griff die Armee nicht indigene Krieger, sondern ihre Dörfer an.“ (S. 134), heißt es an einer Stelle resümierend. Dennoch redet Heike Bungert keiner pauschalen Genozid-These und damit einer über alle Zeiten „geplanten Vernichtung von Indigenen“ das Wort, weil „es sich um unterschiedliche euroamerikanische Mächte, um verschiedenste Akteure zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Situationen“ (S. 100) handelte.

Für das 20. Jahrhundert wird gezeigt, dass das forcierte Assimilierungsprogramm der Bundesregierung weder die Reservationen zum Verschwinden brachte noch die indigenen Kulturen auslöschte. Ein letztes Mal wurde dies in der Terminations-Ära (1953–1970) versucht, bis ausgerechnet Präsident Richard Nixon 1970 einen fundamentalen Schwenk in der Indianerpolitik einleitete. Die Zeit seit dem Ende des 2. Weltkriegs war nicht nur durch eine verstärkte indianische Abwanderung in die Städte gekennzeichnet, sondern auch dadurch, dass die Americans Indians immer stärker zu Herren ihres Schicksals aufstiegen, besonders stark während der Red Power-Zeit. Allerdings waren panindianische Organisationen wie der National Indian Youth Council oder das American Indian Movement (AIM) keine „indianischen Bürgerrechtsbewegungen“ (S. 200 u. 220), sondern Bewegungen für mehr Selbstbestimmung und kulturelle Bewahrung. Ihre Mitglieder drängten nicht gleichberechtigt in die US-Gesellschaft hinein, sondern letztlich aus ihr heraus, indem ihre Reservationen zu souveränen Kleinstaaten umfunktioniert werden sollten. Bezeichnenderweise erklärten AIM-Aktivisten während der Besetzung von Wounded Knee (1973) die Oglala Nation für unabhängig von den USA. Schließlich setzte sich nicht diese Richtung durch. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die American Indians jedoch „einen festen, selbstbestimmteren Platz in der US-amerikanischen Gesellschaft erkämpft, im Sinne von eigenverantwortlicher Regierung, wirtschaftlicher Entwicklung und kulturellem Fortbestehen.“ (S. 262)

Es ist keine leichte Aufgabe, die gewaltige Stoffmasse auf bloss 280 Seiten überzeugend darzustellen. Mit einigem Mut zur Lücke gelingt dies Heike Bungert weitgehend. Ihre viele Aspekte einbeziehende Gesamtdarstellung ist kenntnisreich geschrieben und auf dem neuesten Stand der Forschung gearbeitet. Sie eignet sich insbesondere für eine schnelle Orientierung und den Einstieg in ein in seiner Bedeutung noch immer unterschätztes Thema, durch das sich die Geschichte Nordamerikas seit 1513 anders und vollständiger perspektivieren lässt, als das dies- und jenseits des Atlantiks oft geschieht und zuletzt auch bei Jill Lepores Wälzer These Truths (2018) zu Kritik Anlass gab.

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