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Titel
Il prologo di Ivo di Chartres. Paradigmi e prospettive per la teologia e l'interpretazione del Diritto canonico


Autor(en)
Violi, Stefano
Reihe
Biblioteca Teologica, Sezione canonistica 3
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Rolker, Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte, Universität Konstanz

Der so genannte Prolog des berühmten Bischofs Ivo von Chartres gehört zu den Schlüsseltexten für die umwälzenden geistesgeschichtlichen Neuerungen der Zeit um 1100. Seinen großen mittelalterlichen Einfluss und die Bedeutung, die ihm die moderne Forschung zuspricht, verdankt der Prolog seiner sehr eigenen Thematisierung eines zentralen Problems der mittelalterlichen Textwissenschaft: dem Verhältnis zwischen einander widersprechenden Autoritäten der Tradition. Nachdem Ivos Prolog bereits in den letzten Jahren wieder erhöhte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat 1, hat Stefano Violi ihm nun seine hier anzuzeigende Monografie gewidmet.

Diese gliedert sich in drei Teile, deren erster (S. 29-181) Ivos Biografie und insbesondere seine Beziehung zu Lanfrank von Bec behandelt. Mehrfach wiederholt Violi hier Positionen der älteren Literatur insbesondere des 17. und 18. Jahrhunderts, die so nicht mehr aufrecht zu halten sind. Ivos angebliche Herkunft aus Beauvais (S. 31) etwa ist von Rolf Sprandel mit guten Argumenten widerlegt worden; auch für ein „Philosophie- und Artes-Studium“ Ivos in Paris kann Violi keine Belege anführen (S. 36); ferner scheint es unnötig ungenau, von Ivos Tod „um 1115“ (S. 21) zu schreiben, wenn die Forschung sich seit langem einig ist, dass Ivo am 23. Dezember 1115 starb.2
Violis Hauptargument ist, dass Ivos Hermeneutik, wie sie im Prolog dargelegt ist, ganz wesentlich auf seine Prägung durch Lanfrank und die Schule von Le Bec zurückgeführt werden kann. Hierfür stützt er sich auf das Zeugnis Roberts von Torigny, dessen Glaubwürdigkeit er gegen die von Margaret Gibson 3 angemeldeten Zweifel verteidigt, ohne allerdings grundlegend neue Argumente zu bringen. Ähnlich wie schon früher Bruce Brasington 4 stützt sich auch Violi auf thematische und methodische Parallelen zwischen Ivos Prolog und Lanfranks Kommentaren zu den Paulus-Briefen.

Der folgende Hauptteil (S. 183-363) ist dem Prolog selbst gewidmet. Die umstrittene Frage, ob dieser tatsächlich das Vorwort zu einer der Ivo zugeschriebenen Sammlungen ist und wenn ja, zu welcher, lässt Violi dabei offen. Fragen der Datierung, der verwendeten fontes formales, ganz zu schweigen von der komplizierten Überlieferung, werden ebenfalls nicht diskutiert. Violi geht es vielmehr um eine Auslegung des Textes selbst.
Das zentrale Problem, das der Prolog diskutiert, ist die vor allem an biblischen und patristischen Beispielen entwickelte Frage nach dem Umgang mit einander widersprechenden Autoritäten. Was später von Abaelard im bekannten Vorwort zu Sic et non oder von Gratian unter dem Titel einer Concordantia discordantium canonum behandelt wurde, geht Ivo auf seine eigene Weise an. Anstatt die Widersprüchlichkeit der kirchlichen Tradition als bloß scheinbare abzutun, verschärft Ivo das Problem noch, insofern er in Rückgriff auf theologische Argumente nicht nur die einzelnen Texte als widersprüchlich anspricht, sondern diese als Ausdruck widersprüchlicher Prinzipien ansieht. Manche Traditionen, so Ivo, seien der ganzen Strenge der kirchlichen Disziplin verpflichtet, andere dem ebenso gültigen Prinzip der verzeihenden Nächstenliebe und Milde. So wie Strenge und Milde aber gleichermaßen Eigenschaften Gottes seien, so seien diese Widersprüche zumindest aus menschlicher Perspektive unaufhebbar; nur im Einzelfall könne der geistliche Richter und Seelsorger sich jeweils für die eine oder andere Lösung entscheiden. Diese Argumentation Ivos und ihre enge Verbindung mit den theologischen Strömungen der Zeit arbeitet Violi gründlich heraus. Durch einen gelungenen Vergleich mit einigen Briefen Ivos kann er ferner zeigen, dass der Prolog kein akademisches Werk ist, sondern direkt mit Ivos pastoraler Tätigkeit zusammenhängt (S. 281ff.).

Den klassischen Studien von Fournier, de Ghellinck und de Lubac folgend 5, schreibt Violi dieser Methode eine Schlüsselrolle in der Herausbildung der scholastischen Hermeneutik zu und betont wiederholt Ivos Einfluss insbesondere auf Alger von Lüttich, Abaelard und Gratian. Stärker hätte allerdings herausgehoben werden können, dass Ivo anders als die Generationen nach ihm betonte, dass aus genau diesem Grund die kirchliche Tradition, insbesondere die Masse der überlieferten Rechtstexte, keiner „Glättung“ durch eine systematisierende Auswahl bedarf, sondern die Widersprüchlichkeit der Texte bewahrt bleiben solle (S. 265). Diese Gedanken deutet Violi im Vergleich zwischen Ivo und einigen zeitgenössischen Kanonisten an (S. 237ff.); um sie zu substantiieren, bedürfte es einer gründlichen Untersuchung der Ivo zugeschriebenen Sammlungen, was aber außerhalb von Violis selbst gestellter Aufgabe gelegen hätte.6

Der dritte Teil des Buches bietet nebeneinander den lateinischen Text und eine italienische Übersetzung von Ivos Prolog (S. 365-401). Es ist zu begrüßen, dass nach einer französischen und einer englischen Übersetzung 7 nun auch eine italienische vorliegt. Der lateinische Text entspricht dabei dem der Edition Brasingtons 8, wobei Violi dessen Obertext übernommen hat, aber nur einen kleinen Teil „signifikanter“ Varianten des apparatus criticus. Bedauerlicherweise handelt es hierbei schon um die zweite nicht autorisierte Verwertung von Brasingtons aufwändiger Editionsarbeit.9

Mit über 400 Seiten ist Violis Buch die umfangreichste Monografie, die bislang zu Ivo und seinem Werk vorgelegt wurde. Die daran geknüpften Erwartungen erfüllen sich insofern nicht, als Violi zwar eine gründliche und textnahe Interpretation des Prolog bietet, aber nur sehr vereinzelt auf die Forschungsdiskussionen um Ivo eingeht.10 Überzeugend kann Violi aber zeigen, dass Ivo keineswegs nur die Rechtshistoriker/innen etwas angeht, sondern vielmehr nur dann verstanden werden kann, wenn man den theologischen Hintergrund der Zeit und seine eigene pastorale Tätigkeit mit berücksichtigt.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a.: Brasington, Bruce C., The Prologue of Ivo of Chartres. A fresh consideration from the manuscripts, in: Chodorow, Stanley (Hg.), Proceedings of the Eighth International Congress of Medieval Canon Law. San Diego, University of California at La Jolla, 21.-27. August 1988, Città del Vaticano 1992, S. 3-23; Werckmeister, Jean, Introduction, in: ders. (Hg.), Yves de Chartres, Prologue, Paris 1997, S. 11-58; Rolker, Christof, Ivo of Chartres’ pastoral canon law, in: Bulletin of medieval canon law N.S. 26 (2003 [erschienen 2006]), S. 114-145, online unter: <http://www.lrz-muenchen.de/~SKIMCL/Rolkercomplete.pdf>; Brasington, Bruce C., Ways of mercy. The Prologue of Ivo of Chartres: edition and analysis, Münster 2004.
2 Siehe allgemein Sprandel, Rolf, Ivo von Chartres und seine Stellung in der Kirchengeschichte, Stuttgart 1962, S. 5f. Die überholten Angaben bei Violi beruhen auf der Ivo-Biografie von Jean Fronteau in den Acta Sanctorum Maii V, 1685, S. 248-253 sowie der Gallia Christiana VIII, 1744, S. 1126.
3 Gibson, Margaret T., Lanfranc of Bec, Oxford 1978, S. 36. Siehe auch dies., Introduzione, edizione del testo e note, in: D’Onofrio, Giulio (Hg.), Lanfranco di Pavia e l’Europa del secolo XI, nel IX centenario della morte (1089-1989), Rom 1993, S. 661-666.
4 Brasington, Bruce C., „Non veni Corinthum“. Ivo of Chartres, Lanfranc and 2 Corinthians 1.16-17, 23, in: Bulletin of medieval canon law N.S. 21 (1991), S. 1-9.
5 Fournier, Paul, Yves de Chartres et le droit canonique, in: Revue des questions historiques 63 (1898), S. 51-98 und 384-405; de Ghellinck, Joseph, Le mouvement théologique du XIIe siècle, Bruges 1948; de Lubac, Henri, À propos de la formule: „diversi, sed non adversi“, in: Recherches de science religieuse 40 (1952), S. 27-40.
6 Zu Ivos Sammlungen siehe insbesondere die von Martin Brett (Cambridge, UK) und Bruce Brasington (Canyon, Texas) betreute Seite <http://imaging.mrc-cbu.cam.ac.uk/ivo/>, die die fortschreitende Edition der Ivo zugeschriebenen kirchenrechtlichen Sammlungen dokumentiert.
7 Eine französische Übersetzung bei Werckmeister (wie Anm. 1); eine englische in: Somerville, Robert; Brasington, Bruce C., Prefaces to canon law books in Latin christianity. Selected translations, 500-1245, New Haven 1998, S. 132-158.
8 Brasington, Ways of mercy (wie Anm. 1), S. 115-142, basierend auf seiner Dissertation (University of California, Los Angeles, 1990), dort S. 232-258.
9 Siehe Brasington, Ways of mercy (wie Anm. 1), S. 11 zu Werckmeisters Ausgabe (wie Anm. 1).
10 Siehe neben den zitierten Werken die bei Kéry, Lotte, Canonical collections of the early Middle Ages (ca. 400-1140), Washington D.C. 1999, S. 246-249 (Ivo allgemein) und 249-260 (Sammlungen) verzeichnete Literatur.

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