G. Heske: BIP, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland

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Titel
Bruttoinlandsprodukt, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland 1970-2000. Neue Ergebnisse einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung


Autor(en)
Heske, Gerhard
Reihe
HSR-Supplement 17
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 10,00 (Sonderpreis für H-Soz-u-Kult)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Steiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Historische Statistik erscheint manchem nach dem cultural turn der Geschichtswissenschaft als überlebt, mitunter schon als anachronistisch. Dabei wird gerade in diesem Bereich in hohem Maße um die Plausibilität der entstehenden Zahlen-Konstrukte gerungen; die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Produktion werden immer wieder problematisiert. Besonders deutlich wird das bei solchen Versuchen, wie dem hier zu besprechenden von Gerhard Heske, einem vormaligen Mitarbeiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR (SZS), Daten einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung retrospektiv neu zu bestimmen. Heske will das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und seine Verwendung für die DDR und anschließend für die Neuen Bundesländer in einer mit bundesdeutschen Statistiken vergleichbaren Form vorlegen und greift dabei auf die Primärdaten der DDR-Statistik zurück. Das Interesse an solchen Daten speist sich aus den nach wie vor bestehenden Lücken in unserem Wissen über die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft im Vergleich zu ihrem westlichen Pendant und deren Entwicklung im Zeitverlauf. Bisherige Versuche, diese darzustellen, legten ihr methodisches Vorgehen nur begrenzt offen, waren auf verschiedene Hilfskonstruktionen zur Schätzung angewiesen oder blieben auf halber Strecke stehen. Nicht zuletzt bilden solche kulturalistisch reflektierten Berechnungen aber wiederum eine solide Grundlage für den sich abzeichnenden material (re)turn in den Geschichtswissenschaften.

Wenn es darum geht, „für Ostdeutschland erstmalig methodisch, preislich und strukturell vergleichbare Daten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung über den Zeitraum 1970 bis 2000“ vorzulegen (S. 10), müssen vor allem für die DDR-Zeit drei prinzipielle Probleme gemeistert werden. Erstens ist es erforderlich, die DDR-Daten von dem in den Ostblockländern üblichen und auf der marxistischen Reproduktionstheorie beruhenden Material Production System in das im Westen übliche System of National Account zu überführen und zudem die strukturelle Gliederung derjenigen der Bundesstatistik vergleichbar zu machen. Zweitens sind die Wertangaben um die DDR-Preisentwicklung zu bereinigen. Und als Crux des ganzen Vorhabens sind die bis dahin gewonnenen Angaben drittens in DM-Werte umzurechnen, wobei die Schwierigkeit daraus entsteht, dass in der DDR staatlich administrierte Preise genutzt wurden, die bestenfalls zufällig Marktpreisen entsprachen, und es sich in der Bundesrepublik im Prinzip um Marktpreise handelte. Damit stehen der Bestimmung von wirtschaftlich plausiblen Kaufkraftparitäten systemische Gründe entgegen.

Vor dem Hintergrund dieser drei Probleme ermittelt Heske im ersten Schritt also das BIP in seinen Entstehungs- und Verwendungskomponenten zu jeweiligen DDR-Preisen. Dabei konnte er auf Arbeiten zurückgreifen, die nach der Vereinigung in der Außenstelle Berlin des Statistischen Bundesamtes sowie im Rahmen eines DFG-Projektes von Udo Ludwig und Reiner Stäglin durchgeführt wurden.1 Schon bei diesem ersten Schritt wird deutlich, dass es bei solchen Arbeiten einen Mittelweg zu finden gilt: zwischen allzu großer Detailliertheit in der Darstellung der Vorgehensweise und zugleich deren Nachvollziehbarkeit für die interessierten Leser/innen (S. 101, S. 105f.). Das wird noch problematischer beim zweiten Schritt, dem Deflationieren der bis dahin gewonnenen Angaben. Gerade bei der heiklen Frage der Preisentwicklung beruft sich Heske als Insider auf „spezielle Untersuchungen von Experten der SZS“ (S. 157f., S. 167), die – wie die Praxis in dem gesamten Band – entweder gar nicht oder nur als Dokumententitel ohne Fundort angegeben werden, was seine Ergebnisse kaum nachvollziehbar macht. Auf diesem Weg hat Heske einen Datensatz gewonnen, der „die wirtschaftlichen Ergebnisse zu den Preis und Wertrelationen der DDR“ abbildet (S. 186).

Um nun diese Ergebnisse mit denen der Bundesrepublik ebenso wie mit denen der Neuen Länder nach 1990 überhaupt vergleichbar zu machen, muss ein einheitlicher Wertmaßstab zu Grunde gelegt werden, der nur in der D-Mark bestehen kann. Im Rückgriff auf frühere Ergebnisse von Ludwig und Stäglin2 zieht Heske als Grundlage die unmittelbar nach der Währungsunion von Anfang Juli 1990 ermittelten DM-Preise für DDR-Güter heran, die den DDR-Mark-Preisen des Jahres 1989 gegenübergestellt werden. Anschließend nimmt Heske noch weiterführende Berechnungen vor, weil einige Preise gerade im Dienstleistungsbereich erst 1991 den Westverhältnissen angepasst wurden. Faktisch bildet er so Preisumstellungskoeffizienten, die die Relationen zwischen DM-Preisen auf dem Niveau von 1991 und DDR-Mark-Preisen von 1989 für die DDR-Güter abbilden, um die Umrechnung in D-Mark vorzunehmen. In Kenntnis aller nicht aufzuhebenden Schwierigkeiten betrachtet er dies als einen „gangbaren Kompromiß“ (S. 192). Dagegen können eine Reihe von Einwänden geltend gemacht werden, die hier nur angedeutet und an anderer Stelle ausführlicher dargestellt werden sollen. Zum einen zieht Heske die DM-Preise für DDR-Güter (welche waren noch im Angebot?) zu einem Zeitpunkt heran, als diese von den Konsumenten überwiegend abgelehnt wurden. Zum anderen wird die Veränderung der Kaufkraftverhältnisse zwischen Bundesrepublik und DDR für den gesamten Untersuchungszeitraum als konstant unterstellt und die Veränderung im historischen Zeitablauf außer Acht gelassen.

Den hier knapp zusammengefassten Gang der Untersuchung stellt Heske im dritten Teil seiner Arbeit dar, nachdem er zuerst allgemeine Fragen der Rückrechnung erörtert und im zweiten Teil seine wichtigsten Ergebnisse präsentiert hat. Der Anhang umfasst eine Vielzahl von Tabellen mit den gewonnenen Daten sowie ausgewählte Erhebungsbögen der SZS. Im Folgenden soll kurz auf die Ergebnisse eingegangen werden. Nach dieser neuen Berechnung ist das BIP je Einwohner der DDR zwischen 1970 und 1989 um 88,9 Prozent gestiegen, während das der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum lediglich um 52,0 Prozent zunahm. Damit verbesserte sich das Entwicklungsniveau der DDR gegenüber der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er-Jahren, was dem bisherigen Bild widerspricht, aber angesichts der schwachen Wachstumsperformance der Bundesrepublik in diesem Zeitraum nicht von vornherein als unplausibel gelten muss. Das ostdeutsche BIP je Einwohner lag damit 1989 bei 56 Prozent des westdeutschen Niveaus. Allerdings erreichte es je Erwerbstätigen gerechnet auf Grund der höheren Erwerbsquote in der DDR nur 45 Prozent. Damit bewegt sich Heske im Mittelfeld bisheriger Schätzungen zum Rückstand der Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Volkswirtschaft vor dem Zusammenbruch der DDR. Hinter diesem volkswirtschaftlichen Durchschnitt verbargen sich jedoch erhebliche Differenzen zwischen den Wirtschaftsbereichen: Die Land und Forstwirtschaft sowie das verarbeitende Gewerbe lagen bei 34 Prozent, das Baugewerbe bei 96 Prozent. Nach den Berechnungen Heskes war das BIP je Einwohner in den Neuen Ländern nach dem dramatischen Einbruch 1991 im Jahr 2000 um 29,8 Prozent höher als 1989. Bei einer Betrachtung je Erwerbstätigen erreichte es auf Grund der hohen Arbeitslosenzahlen im Osten Deutschlands im Jahr 2000 sogar ein um 76,1 Prozent höheres Ergebnis als 1989. Damit erreichten die Neuen Länder 2000 etwa 75 Prozent des gesamtdeutschen Niveaus.

Insgesamt ist Heskes Arbeit schon deshalb verdienstvoll, weil er dank seiner Insider-Kenntnisse die DDR-internen Primärunterlagen noch einmal zum „Sprechen“ bringen und manche andere Information mobilisieren konnte, die sich in den Archivbeständen der SZS möglicherweise nicht mehr finden lässt, auch wenn dies – wie bereits vermerkt – Probleme für die Reproduzierbarkeit seiner Ergebnisse aufwirft. Zudem hätten sich die Historiker/innen natürlich gewünscht, eine solche Rekonstruktion von Daten für den gesamten Zeitraum der DDR zur Verfügung zu haben, was aber vermutlich gerade für die 1950er-Jahre an der Quellenlage gescheitert ist. Gleichwohl werden Heskes Ergebnisse ein unverzichtbares Element der weiteren Diskussion der methodischen und quellenbedingten Vor- und Nachteile der verschiedenen Schätzungen zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der DDR bilden.

Anmerkungen:
1 Siehe abschließend: Statistisches Bundesamt (Hg.), Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 33: Entstehung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts 1970 bis 1989. Ergebnis eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsvorhabens, Wiesbaden 2000.
2 Ludwig, Udo; Stäglin, Reiner; Stahmer, Carsten; Siehndel, Karl-Heinz, Verflechtungsanalysen für die Volkswirtschaft der DDR am Vorabend der deutschen Vereinigung, DIW, Beiträge zur Strukturforschung, Heft 163, Berlin 1996.

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