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Titel
Roman Berytus. Beirut in Late Antiquity


Autor(en)
Jones Hall, Linda
Erschienen
London 2004: Routledge
Anzahl Seiten
XXIII, 375 S.
Preis
$95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Hübner, Department of Classics, Columbia University New York

Linda Jones Hall, derzeit Associate Professor am St. Mary's College in Maryland, bietet mit ihrer überarbeiteten Dissertationsschrift eine Stadt- und Sozialgeschichte der in der Provinz Phoenicia gelegen Küstenstadt Berytus vom 3. bis 6. Jahrhundert und reiht sich damit ein in die in den letzten Jahren zahlreich erschienenen Untersuchungen zur 'Stadt in der Spätantike'. Ihre Arbeit umspannt einen Zeitraum von nahezu 400 Jahren, von der Herrschaft des Septimius Severus (197-211), dessen Propaganda diese Region eng mit der Geschichte Roms verknüpfte und in dessen Regierungszeit auch die Gründung der zur Berühmtheit gelangten Rechtsschule fiel, bis hin zu Kaiser Herakleios (610-641). Jones Hall möchte in dieser Arbeit nicht nur eine Geschichte der spätantiken Stadt bieten, sondern darüber hinaus vor allem eine "reconstruction of the self-identification of the people of Berytus" (S. 1). Statt auf Strukturen der Gesellschaft will sie ihr Augenmerk auf die Selbstaussagen einzelner Individuen legen. Diese "Selbst-Identifizierung" der Bewohner von Berytus versucht sie anhand von folgenden Kritierien zu untersuchen: "cultural heritage", "ethnic identification", "religious practice and belief", "lingustic choice", "naming practices" und "literary and artistic expression". Drei verschiedene Typen von Fragen erscheinen ihr dafür geeignet: Was sagten die Bewohner über sich selber im Sinne von "Ich bin ..."? Was sagten Außenstehende über die Bewohner von Berytus im Sinne von "Er/sie ist ..."? Akzeptierten die Bewohner von Berytus diese Kategorisierung? Und gab es einzelne, die eine neue Kategorie oder Definition schufen? Jones Hall will dadurch zu Ergebnissen kommen, die verstehen helfen, welche Kräfte bei der Konversion zum Christentum wirkten, welche gesellschaftliche Einflüsse bei der Entstehung der Rechtscodices eine Rolle spielten und wie der Zusammenbruch des römischen Reiches angesichts der islamischen Invasion zu verstehen ist (S. 1f.). Jones Hall setzt sich bei dieser Herangehensweise bewusst in die Nachfolge der Vertreter der Annales. Spätestens wenn sie jedoch auf die ihr zur Verfügung stehenden Quellen zu sprechen kommt, beginnt man zu zweifeln, ob sie ihr ehrgeiziges Ziel auch erreichen wird.

Ihren Schwerpunkt legt sie aus verständlichen Gründen auf die Inschriften, die noch am ehesten Einblicke in das Selbstverständnis einzelner Individuen zulassen, die nicht nur zur männlichen Elite des Reiches zu rechnen sind. Aus Berytus sind jedoch nicht einmal einhundert Inschriften überliefert, die zudem größtenteils nicht aus der Spätantike stammen. Oftmals zieht Jones Hall deswegen Quellen aus benachbarten Städten in Phönizien oder noch allgemeiner aus der gesamten östlichen Reichshälfte heran, die zudem häufig auch noch aus der frühen Kaiserzeit stammen. Ihrem eingangs gestellten Anspruch, zu eruieren, wie sich die Bewohner von Berytus von den Bewohner der übrigen Städte unterschieden und abzugrenzen versuchten, kann sie so natürlich nicht gerecht werden. Weitere Quellen zu Berytus in der Spätantike bilden in ihrer Untersuchung die spätantiken Heiligenviten, hier vor allem 'Das Leben des Severus' von Zacharias von Mytilene und das 'Leben der Hl. Matrona'. Als Selbstaussagen der Bewohner sind diese jedoch kaum zu werten. Die übrigen von ihr benutzten Zeugnisse wie die literarischen Quellen, die Rechtsquellen, Münzen und Siegel ermöglichen Aussagen zur Organisation und Verwaltung der spätantiken Stadt im Allgemeinen, beziehen sich jedoch nur in den seltensten Fällen direkt auf Berytus und erlauben schon gar nicht Einblicke in individuelle Sichtweisen oder Rückschlüsse auf die persönliche Identität einzelner Bewohner von Berytus.

Die Kapitel 2 bis 6 befassen sich dann auch nicht mit der "self-identification" der Bewohner von Berytus, sondern mit seiner geografischen Lage, seiner wirtschaftlichen Basis, den städtebaulichen Anlagen, dem Ausmaß des Erdbebens von 551 und der Einbettung von Berytus in die spätrömische Provinzverwaltung. Im ersten und zweiten Kapitel geht es Jones Hall um die geografischen (The geographical setting, S. 15-20) und ökonomischen Faktoren (The economic base of the city, S. 21-44), die zur Blüte der Stadt in der Spätantike beitrugen. Berytus war Kreuzungspunkt wichtiger Handelsrouten über Land und mit seinem natürlichen Hafen angeschlossen an den Handel mit dem gesamten Mittelmeer. Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Wirtschaftsstruktur der spätantiken Stadt und der Bedeutung von Grundbesitz im Allgemeinen kommt Jones Hall auf die Produktion von Seide in Berytus und im benachbarten Tyrus, die Umverteilung von Reichtum durch die Kirche und die in der Stadt ansässige Schule für römisches Recht und lateinische Sprache als einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor zu sprechen. Dass Berytus sein Einkommen aus unterschiedlichen Quellen bezog, mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass es sich in Krisen als widerstandsfähiger als das wesentlich reichere Antiochia erwies. Seine ausgewogene wirtschaftliche Basis, die günstige geografische Lage und eine reichsweit berühmte Hochschule erlauben ihrer Ansicht nach am ehesten Vergleiche mit dem spätantiken Gaza in Palästina (S. 37).

Kapitel 4 (Berytus as Colonia and Civitas, S. 45-59) bietet eine ausführliche Geschichte der Stadt vom 14. Jahrhundert v.Chr. bis in die Spätantike. Dass Latein bis zum Ende des 4. Jahrhunderts für offizielle Inschriften in Berytus verwendet wurde, deutet Jones Hall als Konservatismus der Bevölkerung und die Verwendung der lateinischen Terminologie als Hinweis auf "an 'audience' of citizens who would identify with both the linguistic and political implications of 'Roman' city life rather than the 'Greek' urban structures of other Eastern cities" (S. 54). Kapitel 5 (The built environment of Berytus, S. 60-84) gibt einen Überblick über die städtebaulichen Anlagen von der frühen Kaiserzeit bis in die Spätantike. Berytus wurde offenbar besonders schwer von dem Erdbeben des Jahres 551 getroffen. Jones Hall zitiert umfangreiche Textpassagen aus Agathias, Johannes Malalas, Johannes von Ephesos, Antoninus von Piacenza und Procopius von Caesarea und stellt Überlegungen zum Ausmaß der Wiederaufbaus und zum Aussehen der wiederhergestellten Stadt an (S. 70-76). Sie stützt sich dabei auf Agathias, nach dessen Bericht Berytus nach dem schweren Erdbeben von 551 zumindest teilweise in alter Form wiederaufgebaut wurde. Diese Bemühungen der Bürger von Berytus seien, so vermutet Jones Hall, vielleicht durch ihre Selbst-Identifizierung als "Römer" veranlasst worden (S. 76), belegen kann sie dies aber nicht.

Kapitel 6 befasst sich mit der Einbettung der Stadt Berytus in die übergeordnete Provinzorganisation von der frühen Kaiserzeit bis in die Zeit Justinians (Provincial organization in the Roman and late antique eras, S. 85-128). In ermüdender Ausführlichkeit werden die einzelnen Statthalter Syriens von 27 v.Chr. bis 193 n.Chr. vorgestellt. Im Zuge kaiserlicher Propaganda gründete Septimius Severus dann im frühen 3. Jahrhundert die Provinz Phoenicia. Der alte Name war verbunden mit der vergilischen Gründungssage Roms und der Herkunft des Kaiserpaares. Überzeugend ist sicherlich ihre Vermutung, daß diese Propaganda eine Wiederbelebung und Höherbewertung der 'phönizischen Identität' der Bewohner der Provinz zur Folge hatte. Im 7. Kapitel (Paganism and cultural identity, 129-160) beschäftigt sich Jones Hall mit den vorchristlichen Göttern und Kulten in Berytus. Durch religiöse Anschauung gestiftete Identität sieht sie eng verbunden mit ethnischer Identität. Bis in die Mitte des 6. Jahrhunderts dienten Poseidon, Aphrodite und die bei Herodot (7,129,4) genannten 'Kabeiroi' in den literarischen Zirkeln der Bildungselite als Identifikationsfiguren für Berytus (S. 138f.). Indigene Gottheiten standen als Symbole für das alte phönizische Erbe und konnten ethnische Identität vermitteln. Bekanntermaßen schließen sich verschiedene Kategorien von Identitäten nicht aus. So sahen sich die Bewohner der Provinz Phoenicia sowohl als Phönizier als auch als Römer. Zu Recht lehnt Jones Hall dabei die These ab, das Verschwinden der indigenen Sprache im 2. Jahrhundert n.Chr. deute auf den Verlust der eigenen phönizischen Identität hin (S. 133). Im 8. Kapitel (Christianity as change in religious identity, 161-194) werden drei Konversionsberichte aus Berytus und seiner Umgebung vorgestellt, die den Wandel der Selbst-Identifizierung beim Übertritt vom Heiden- zum Christentum verdeutlichen sollen. Es sind dies die Berichte über die Konversion des Severus von Antiochien bei Zacharias von Mitylene, die des Mönches Rabulas Samosatensis aus der Zeit Zenos (479-491) und die Vita der Hl. Matrona, die um die Mitte des 5. Jahrhunderts in Berytus eine Gruppe von Frauen zum Christentum bekehrte. Es folgen eine Erörterung der bezeugten Kirchen und Bischöfe des spätantiken Berytus und ein kurzer Exkurs zu den Juden.

Der Status als römische Kolonie und die Rechtsschule in Berytus förderten die Romanisierung der Stadt und ihres Territoriums. Die Schule zog viele junge Männer vor allem aus Kleinasien, Syrien und Ägypten an, die aus wohlhabenden Familien stammten und sich auf eine Karriere im Staatsdienst vorbereiten wollten. Die Professoren gehörten zu den angesehensten Männern von Berytus. In Kapitel 9 (A city of lawyers, professors, and students, S. 195-220) gibt Jones Hall eine Geschichte der Rechtsschule von Berytus vom 3. bis zum 6. Jahrhundert. Sie zeigt, dass die Anwesenheit von gut ausgebildeten Rhetoren und Juristen in der Stadt offensichtlich ein Klima von intellektueller Unabhängigkeit in Berytus förderte, in dem sich nicht nur das Heidentum, sondern auch ein Nonkonformismus in der christlichen Anschauung bis in eine relativ späte Zeit halten konnte. Im 10. Kapitel betrachtet Jones Hall die epigrafischen Zeugnisse für Händler und Handwerker am Ort und vergleicht sie mit den Quellen aus benachbarten Städten wie Tyrus und Heliopolis (Artisans, occupational identity, and social status, S. 221-254). Laut Inschriftenbefund sei während der gesamten Zeit vom 1. bis 6. Jahrhundert in Berytus die berufliche Tätigkeit ein wichtiger Faktor für die persönliche Selbstidentität gewesen: "All levels of artisans expressed their identity in terms of occupation or profession." Epigrafisch für Berytus belegt sind jedoch nur ein Mann aus der Seidenproduktion, ein Purpurfärber, ein Purpurschneckensammler, eine Kalligrafin, ein Glasbläser und drei Schmiede. Die meisten der sicher in Berytus ansässigen Berufsgruppen sind überhaupt nicht vertreten. Die verallgemeinernden Rückschlüsse von Jones Hall müssen deswegen nicht falsch sein, lassen sich durch die Quellen jedoch nicht belegen.

Nach der Conclusio (S. 255-259) folgen vier Appendices: die ersten beiden bieten eine Übersicht über die politische und militärische Provinzverwaltung der Provinz Syria von 64 v.Chr. bis 193 n.Chr. (S. 260- 267) und der Provinz Phoenicia von 193-565 n.Chr. (S. 268-279). Appendix 3 ist eine Zusammenstellung der belegten Rechtsanwälten, Juraprofessoren und Jurastudenten aus Berytus und anderen Städten in Phönizien von der frühen Kaiserzeit bis zum Tode Justinians (S. 280-285) und Appendix 4 ein Katalog der Münzen von Berytus (S. 286-298). Zehn Tafeln zu Fundstücken aus Berytus wie Münzen, Inschriften und kleineren Kunstgegenständen befinden sich in der Mitte des Bandes. Eine umfangreiche Bibliografie und ein Stichwortindex schließen das Werk ab.

Insgesamt stellt die Arbeit von Jones Hall eine solide gearbeitete Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Berytus in der Spätantike dar, die zwar keine wesentlichen neuen Erkenntnisse bietet, die vorhandenen Quellen aber gut aufbereitet dem Leser präsentiert. Zuweilen hätte man sich gewünscht, dass sich den zahlreichen und umfangreichen Quellenpassagen eine ausführlichere Interpretation und Auswertung angeschlossen hätte. Auf die in jüngster Zeit lebhaft geführte Debatte über den "Decline and Fall" der Stadt im spätantiken römischen Reich wird nicht eingegangen 1, was bei dieser Themenstellung eigentlich unverzeihlich erscheint. Ihren Anspruch aus dem einleitenden Methodenkapitel, eine "reconstruction of the self-identification of the people of Berytus" zu bieten, kann Jones Hall nicht erfüllen. Meist kommt sie auf die Frage nach der persönlichen Identität der Bewohner von Berytus nur in ein, zwei Sätzen am Ende eines Kapitels zu sprechen. Hierbei kann sie zudem oft nur reine Mutmaßungen äußern, die sich nicht durch die Quellen untermauern lassen.

Benjamin Isaac zeigte in seiner Monografie "The Invention of Racism in Classical Antiquity" 2 die stereotypen Einstellungen und Vorurteile auf, die die Griechen und später die Römer gegenüber den Phönizier hegten. Phönizier wurden seit Homer als gewitzte Händler gesehen, die den Ruf hatten, ihre Handelspartner zu übervorteilen, gottlos zu sein und grausam mit ihren Feinden zu verfahren. Anders als ihre orientalischen Nachbarn galten sie jedoch nicht als verweichlicht oder weibisch. Auf diesen Aspekt und vor allem auf die nahe liegende Frage, wie die Phönizier auf diese sich durch die gesamte Antike ziehenden Vorurteile und Anschuldigungen reagierten, wird in dieser Untersuchung nicht eingegangen, obwohl dies sicherlich keinen unwesentlichen Aspekt der "self-identification" der Bewohner von Berytus bildete.

Anmerkungen:
1 Liebeschuetz, J.H.W.G., The Uses and Abuses of the Concept of 'Decline' in Later Roman History, in: Lavan, Luke (Hg.), Recent Research in Late-Antique Urbanism, Rhode Island 2001, S. 233-237 und die Antworten von Averil Cameron, Bryan Ward-Perkins, Mark Whittow und Luke Lavan, ebenda, S. 238-245; Liebeschuetz, J.H.W.G., Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001.
2 Princeton 2004 (bes. Kap. 6: "Phoenicians, Carthaginians, Syrians", S. 324-351); vgl. Rez. von Julia Wilker in: H-Soz-u-Kult, 18.07.2005.

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