A. Begert: Böhmen, die böhmische Kur und das Reich

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Titel
Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und staatsrechtlichen Stellung Böhmens


Autor(en)
Begert, Alexander
Erschienen
Anzahl Seiten
699 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Ohlidal, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Die anzuzeigende Publikation ist die umfangreiche Druckfassung einer bei Peter Hartmann in Mainz entstandenen Dissertation, die sich bemüht, eine empfindliche Forschungslücke in der Verfassungsgeschichte Böhmens und damit auch des Reiches zu schließen. Es ist zwar bekannt, dass das Verhältnis Böhmens zum Reich durch rechtliche und politische Besonderheiten geprägt war, aber bisher fehlte eine Untersuchung, die über eine bloße Beziehungsgeschichte zwischen Böhmen und dem Reich hinaus die Entwicklung des staatsrechtlichen Verhältnisses Böhmens zum Reich in den Mittelpunkt gestellt hätte. Begert nähert sich dieser Problematik in sieben chronologisch aufeinander folgenden Kapiteln, die den Zeitraum von 1198 bis 1806 umfassen, und konzentriert sich dabei im Wesentlichen auf zwei Aspekte: die Genese der Kur und die staatsrechtliche Stellung Böhmens zum Reich, wobei das zwischen deutscher und tschechischer Forschung bis heute umstrittene böhmische Reichslehnsverhältnis eine gewichtige Rolle spielt.

Begert beginnt seine gut strukturierte, trotz ihrer Länge lesbare Untersuchung mit dem Zeitalter des Sachsenspiegels (1198-1289/90), in dem die Zugehörigkeit des böhmischen Königs zum Kreis der Prinzipalwähler umstritten war: Der Sachsenspiegel selbst verweigerte dem König von Böhmen die Kur, weil dieser nicht deutsch sei. Gegen diese weiterhin vorherrschende, ethnisch geprägte Interpretation setzt Begert seine These, der Ausschluss sei aus rein staatsrechtlichen Gründen geschehen, da Böhmen seit 1198 nicht mehr Bestandteil des regnum Alemanniae, sondern nur Teil des imperialen Reichsverbandes gewesen sei und damit kein Recht auf Beteiligung an der deutschen Königswahl gehabt habe. 1 Dies hinderte den Böhmen allerdings nicht daran, sich – am Ende erfolgreich – um das Kurrecht zu bemühen und sich so einen gewissen Einfluss auf das Handeln des mächtigen Nachbarn zu erobern. Die Zeit der letzten Premysliden (1289-1306) sieht Begert gekennzeichnet durch die Versuche, sich Rechte im Reich zu sichern, ohne den damit verbundenen Pflichten nachzukommen. Dies exemplifiziert er anhand der Auseinandersetzung zwischen Wenzel II. und den Habsburger Kaisern um die Ausübung des Schenkendienstes und um die Vertretung der böhmischen Kur durch einen Stellvertreter. In beiden Fällen konnte sich der böhmische König mit seinen Wünschen jedoch nicht durchsetzen.

Unter den Luxemburgern – das dritte Kapitel umfasst die Jahre 1306 bis 1419 – kam es durch die Goldene Bulle von 1356 zu einer Konsolidierung der verfassungsrechtlichen Stellung Böhmens, da seither das böhmische Kurrecht nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden konnte. Nach einer Thematisierung des nun erstmals auftretenden Problems, ob der Sohn durch den Vater gewählt werden könne, widmet sich Begert den Errungenschaften Karls IV. Diesem gelang es, dem König von Böhmen bei der Stimmabgabe den seinem nominellen Rang als vornehmstem weltlichem Kurfürst entsprechenden Platz bei der Stimmabgabe zu verschaffen. Zugleich führte er die Bezeichnung des rex romanorum ein, um den Gegensatz zwischen dem regnum Alemanniae und dem regnum Bohemiae zu überwinden und Böhmens Stellung im Reich zu sichern. Im Gegensatz zu den Premysliden förderte Karl die Integration Böhmens in das Reich und damit auch in die Reichspolitik nachdrücklich. Dabei stützte er sich auch auf die Tatsache, dass Böhmen als Reichslehen galt.

Während die ersten drei mediävistischen Kapitel aus Editionen und Literatur erarbeitet wurden, basieren die folgenden Kapitel auf umfangreichem und vielfältigem Archivmaterial, das es Begert ermöglicht, eine Chronologie von enormer Faktendichte zu erstellen. In dem Kapitel „Von der hussitischen Ära bis zur Schlacht von Mohács (1419-1526)“ werden die „Unregelmäßigkeiten“ (S. 271) geschildert, die bei der Ausübung der böhmischen Kurstimme im 15. Jahrhundert häufiger auftraten als zuvor, ohne dass die Kur selbst dadurch angezweifelt worden wäre. Neben dem Verzicht auf die Selbstwahl durch Albrecht II. (1438) rückt Begert hier die Rolle der stärker werdenden böhmischen Stände in den Mittelpunkt. Diese erzwangen während der Thronvakanz des Jahres 1440 das Recht der Kurausübung für sich, indem sie argumentierten, das Kurrecht liege bei ihnen als Wählern des böhmischen Königs. Und noch 1519 gelang es den Ständen, die Kur unter Verweis auf die Minderjährigkeit Ludwig Jagiellos in Anspruch zu nehmen.

Auch für die Bewertung des Lehnsverhältnisses des böhmischen Königs zum Kaiser stellt das 15. Jahrhundert einen Wendepunkt dar, denn innerhalb der böhmischen Landstände gewann die Ansicht an Plausibilität, nicht das Königreich selbst sei Gegenstand der Lehnsname, sondern nur das (symbolische) Schenkenamt. Diese erstmals 1440 geäußerte Ansicht fand ihren Niederschlag im Lehnsbrief von 1477, dessen Konzept Begert im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ausfindig machen konnte. Es erlaubt, die harten Verhandlungen zwischen Kaiser Friedrich III. und den Böhmen nachzuvollziehen, an deren Ende ein Kompromiss stand: Kein einziges Territorium wurde mit Namen genannt, sondern man sprach ganz allgemein von den zu der Krone Böhmen gehörigen Lehen, was beiden Parteien eine Auslegung gemäß der eigenen Ansichten ermöglichte und auch in Zukunft ermöglichen sollte.

Politisch fand unter den Jagiellonen ebenfalls ein Rückzug Böhmens aus den Reichsangelegenheiten statt, während sich die Reichsinstitutionen noch lange um die Integration und Teilhabe Böhmens bemühen sollten. Erst 1519 resignierten die Kurfürsten und waren nun ihrerseits nicht mehr gewillt, Böhmen als Partner der kurfürstlichen Politik wahrzunehmen; die böhmische Kur kam praktisch zum Erliegen und Böhmen war de facto kein membrum imperii mehr. Für das erste Jahrhundert der Habsburgerherrschaft in Böhmen (1526-1612) konstatiert Begert eine unveränderte Situation, belegt aber zugleich, dass gerade die Frage, ob Böhmen ein Lehen oder ein selbstständiges Reich sei, von den Habsburgern in Abhängigkeit von der politischen Situation mit bemerkenswerter Flexibilität einmal so und dann wieder anders beantwortet wurde. Dies wird durch einen Vergleich mit Lothringen und Burgund und deren Loslösung vom Reich zusätzlich unterstrichen.

Neben dem 15. Jahrhundert bilden die knapp einhundert Jahre vom Herrschaftsantritt Matthias’ bis zur Readmission zur Kur (1611-1708) den zweiten größeren Schwerpunkt der Arbeit: Mit Matthias sieht Begert eine neue Ära in der Geschichte der böhmischen Kur anbrechen, da der böhmische König nunmehr prinzipiell die Zulassung zu allen kurfürstlichen Beratungen anstrebte, wenn er auch zunächst erfolglos blieb. Mit Matthias begannen die förmlichen Proteste des böhmischen Königs gegen den Ausschluss von diesen Beratungen, die allmählich zu einer erneuten Annäherung an das Kurfürstenkolleg führten. Unter Ferdinand III. konnte die Mitwirkung in allen Fragen, die Veränderungen der Goldenen Bulle betrafen, durchgesetzt werden, und Leopold I. gelang es, das Einsichtsrecht des böhmischen Königs in die Wahlkapitulation auszuweiten. Allerdings nutzten die Habsburger ihre kurfürstlichen Rechte so, wie es die Kurfürsten in den Jahrhunderten zuvor befürchtet hatten: nämlich zur Wahrnehmung der Interessen des Kaisertums und der Dynastie. Die Verhandlungen über die Readmission ab 1692 sieht Begert schließlich als Paradebeispiel für die „Aufgabe korporativer kurfürstlicher Interessen zugunsten von Einzelinteressen“ (S. 477).

Das letzte Kapitel ist der Zeit von der erfolgreichen Readmission 1708 bis zum Jahr 1806 gewidmet, wobei Begert betont, dass die enorme Fülle an bisher unbearbeitetem Quellenmaterial eigentlich genug Stoff für eine weitere Dissertation biete. Ausgehend von der Feststellung, dass die böhmische Kur seit 1708 voll anerkannt und sämtliche kurfürstlichen Rechte inklusive der Teilnahme an den Wahlkapitulationsverhandlungen unbestritten waren, beschränkt sich Begert auf die Untersuchung ausgewählter Einzelprobleme wie etwa des Deputationsrechts. Abschließend stellt er die These auf, dass – abgesehen von den zeremoniellen Folgen – der tatsächliche Nutzen der lange gewünschten Readmission als gering einzuschätzen sei. Gerade das Verhalten der Habsburger hinsichtlich der verbindlich zu zahlenden Reichssteuern sei ein schlagender Beweis dafür, dass Wien mit der Readmission nur Rechte, aber keine Pflichten übernehmen wollte. Die Readmission habe weder Böhmen nennenswerte Vorteile noch dem Reich symbolischen oder realen Profit eingetragen und auch keine Veränderung in der Beurteilung der böhmischen Lehnsstellung bewirkt.

Begerts Ziel war es, sich mit seiner Studie „von der zunehmenden Zahl von Dissertationen mit durchaus fraglichem Gehalt“ (S. 7) abzuheben: durch eine nüchterne verfassungsgeschichtliche Analyse, die ihr Thema epocheübergreifend behandelt, sowohl die deutsche als auch die tschechische Forschung zur Kenntnis nimmt und deren Urteile gegeneinander abwägt. Dass Begert neuere methodische Zugangsweisen nicht fremd sind, zeigt ein Exkurs zu Zeremoniell und Symbolik, die in ihrer Bedeutung erkannt, aber eben leider nur für das 18. Jahrhundert am Beispiel des Erzschenkenamts näher beleuchtet werden. Die Vermittlung zwischen deutschen und tschechischen Positionen, die Begert anstrebt, wirkt gelungen. Es bleibt zu hoffen, dass das Gesprächsangebot an die tschechische Historiografie, zu dem sicher auch die ins Tschechische übersetzte Zusammenfassung ihren Beitrag leistet, angenommen wird.

Anmerkung:
1 Diese These scheint bei den Mediävisten auf Widerspruch zu stoßen: So spricht sich Heinz Thomas in seiner Rezension von Begerts Dissertation für eine Beibehaltung der ethnischen Sichtweise aus: „Von der Kurwürde zehren“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.08.2004, Nr. 183/Seite 33.

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