W. von Deylen: Ländliches Wirtschaftsleben im spätkolonialen Mexiko

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Titel
Ländliches Wirtschaftsleben im spätkolonialen Mexiko. Eine mikrohistorische Studie in einem multiehtnischen Distrikt: Cholula 1750-1810


Autor(en)
Deylen, Wiebke von
Erschienen
Anzahl Seiten
314 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jose Enrique Covarrubias V., Instituto de Investigaciones Historicas, Universidad Nacional Autónoma de México

Die Frage, ob die im Hochbecken Mexikos lebenden Indianer während der Kolonialzeit der nicht indianischen Bevölkerung aufgeschlossen oder abweisend gegenüber standen, ist ein in der historischen Forschung der letzten Jahre vielfach behandelter Gegenstand. Der dabei am häufigsten gezogene Schluss lautet, dass diese Indianer in einer aus der Erhaltung der eigenen politischen Traditionen und sozialen Strukturen resultierenden Isolation lebten. Anhand des Beispieles des Distrikts Cholula (im heutigen Bundesstaat Puebla) zwischen 1750 und 1810 widerspricht das hier rezensierte Buch Wiebke von Deylens dem oben genannten Schluss. In Bezug auf den Forschungsstand kann man die wichtigste Erkenntnis von Deylens auf folgende Weise zusammenfassen: Die bisherige Forschung hat sich zu wenig mit der Analyse der Wirtschaftsstrukturen beschäftigt und sich zugleich zu sehr nach dem relativ unreflektiert übernommenen Ziel gerichtet, dass jede Untersuchung der kolonialen mexikanischen Indianer eine rein indianische Welt als letztes Erkenntnisziel haben muss. Eine solche Vorgehensweise schließt von Anfang an jede unvoreingenommene und vollständige Einsicht in die miteinander verwobenen Interessen und Erwartungen der Indianer, Spanier und Mestizen aus, die sich aus dem alltäglich gemeinsamen Bestreben nach Bewirtschaftung, Aufbau und Erhaltung des eigenen Vermögens ergeben mussten. Mit Recht behauptet von Deylen, hinter dieser Voreingenommenheit der Forschung läge eine idealisierende Überbewertung der Handlungsspielräume und weltanschaulichen Eigenständigkeit der kolonialen Indianer, die viele Forscher einfach als unbestritten annehmen.

Die hier rezensierte Arbeit basiert im Kern auf der Betrachtung von zwei Arten juristischer und wirtschaftlicher Aktivitäten, nämlich der Vererbung von Ländereien einerseits und den Immobiliengeschäften andererseits. In dieser Perspektive erweist sich die Wirtschaft des Distrikts Cholula in hohem Grad als eine interethnische Angelegenheit. von Deylen stellt regelmäßige Wirtschaftsbeziehungen zwischen indianischem Adel und Spaniern dar, so wie die kontinuierliche Anwendung der spanischen Rechtsinstitutionen durch die Indianer – seien es nun Adelige oder Gemeine (die so genannten macehuales) –, um die bei den oben beschriebenen Aktivitäten aufgekommenen Streitigkeiten zu lösen. Im Falle Cholulas wurde die oftmals angenommene Behauptung nicht bestätigt, dass die Existenz eines indianischen Stadtrates zu einer ausschließlich von den indianischen, gemeinschaftlich verstandenen Interessen geprägten Landverteilung führte. Jede Person (auch wenn sie aus anderen Distrikten und Gebieten stammte) konnte Landbesitz im Distrikt Cholula erwerben. Dort traten im Übrigen auch Streitigkeiten zwischen verschiedenen Indianern und selbst zwischen der indianischen Gemeinschaft und bestimmten indianischen Individuen um einzelne Ländereien auf. Bei der Nutzung des Landes galt das uneingeschränkte Recht auf privates Eigentum, das im Übrigen ein Großteil der damaligen europäischen Landbevölkerung nicht besaß. Von besonderem Nutzen für die Feststellung dieses hoch entwickelten ökonomischen Individualismus sind die Dokumente des Fondo Cholula im Gerichtsarchiv von Puebla gewesen, die von Deylen zahlreiche Beispiele für Transaktionen im oben beschriebenen Sinne geliefert haben.

Von Deylens Beitrag zur Kenntnis der indianischen Situation im kolonialen Mexiko beschränkt sich nicht auf den Hinweis, dass zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht die Zuordnung der Personen zu ethnischen Kategorien nicht eindeutig vorgenommen werden kann. Ihre Arbeit wendet darüber hinaus außerdem die Methodik und Perspektive der deutschen Mikrohistorie (Medick, Schlumbohm) und Geschichte der Protoindustrialisierung auf die Geschichte Mexikos an, soweit dies bei dem Mangel an bisher in dieser Perspektive untersuchten Quellen für den mexikanischen Fall möglich ist. von Deylen belegt, dass unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zwischen der Situation in Cholula und der damaligen protoindustriellen europäischen Landwirtschaft wichtige Ähnlichkeiten festgestellt werden können, wie etwa die von ökonomisch mittelständisch oder ärmeren Haushalten betriebene Gewerbetätigkeit, aus deren Überschüssen Vieh erworben wurde oder die Beteiligung indianischer Haushalte im Falle Mexikos an der Vermarktung von bedeutenden landwirtschaftlichen Produkten (insbesondere Mais, Weizen und Pulque, einem einheimischen Agave-Getränk). Unter diesem Blickwinkel kann von Deylen der verbreiteten Vorstellung eines allgemeinen wirtschaftlichen Niederganges im spätkolonialen Distrikt Cholula widersprechen und ein bisher unbekanntes mikrohistorisches Bild darbieten, welches zeigt dass die ökonomischen Interessen relativ eng miteinander verwoben waren. Diese Interessen waren vielschichtig: Hinsichtlich der Landvererbung und der Immobiliengeschäfte kann man deutlich individualistische und auf dem Grundsatz des Privateigentums basierende Charakteristiken feststellen. So waren z.B. Streitigkeiten zwischen Geschwistern und nahen Verwandten um Landbesitz keine Seltenheit. Hinsichtlich der alltäglichen Landwirtschaft und Gewerbetätigkeit herrschten dagegen immer noch von Familieninteresse geprägte Strukturen vor.

Es ist bemerkenswert, dass von Deylens Beitrag zur wirtschaftlichen Mikrohistorie des spätkolonialen Mexiko mit einigen Ergebnissen übereinstimmt, zu denen die in den letzten Jahren veröffentlichte spanische Geschichtsschreibung des ökonomischen und rechtswissenschaftlichen aufgeklärten Denkens gekommen ist. So haben etwa Vicent Llombart Rosa und Enrique Fuentes Quintana in ihren Studien über das Denken der reformistisch agierenden Staatsmänner Pedro Rodríguez de Campomanes und Gaspar de Jovellanos die in ihren Schriften erhaltene hohe moralische und wirtschaftliche Bewertung der Familie festgestellt, aus deren Entfaltung und Verbindung mit individuellen Besitzinteressen das ökonomische Wiederaufleben Spaniens erwartet wurde. 1 Für die als Reformer im kolonialen Mexiko aufgetretenen Politiker und Denker fehlen noch die entsprechenden Studien, die diese im Kontext einer protoindustrialisierten Gesellschaft betrachten.

Wiebke von Deylen eröffnet drei wichtige Perspektiven, aus denen die künftige, auf die koloniale Wirtschaft Mexikos bezogene Forschung großen Vorteil ziehen kann. Erstens ist hervorzuheben, dass vergleichende mikrohistorische Studien über die vorindustriellen oder protoindustriellen Gesellschaften in Mexiko und Europa zu fruchtbaren Ergebnissen führen werden. In dieser Forschungsrichtung ist vermutlich mehr zu erwarten, als die bisher auf die angeblich determinierenden multiethnischen Besonderheiten Mexikos konzentrierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte angenommen hat.

Die Ausbildung des individuellen Eigentumsinteresses am Ende der Kolonialzeit und seine Kompatibilität mit den traditionellen vorindustriellen Familieninteressen tritt als ein neuer Gegenstand für die auf das koloniale Mexiko bezogene historiografische Forschung auf. Zudem wird man der Anwendung der spanischen Rechtsinstitutionen durch die Indianer als einem der These der ausschließlich gemeinschaftlichen Strukturen entgegenstehendem Aspekt größere Aufmerksamkeit schenken müssen. Ein immer wiederkehrendes Element der indianischen Auseinandersetzungen um Landbesitz und den damit verbundenen Streitigkeiten in Cholula war die Bevorzugung der spanischen Einrichtungen gegenüber den eigenen, gemeinschaftlichen Einrichtungen. Weitere Untersuchungen dieser Tatsache im spätkolonialen Mexiko versprechen lehrreiche Ergebnisse, die ohne Zweifel zum besseren Verständnis der Frage führen werden, wieso die Einführung von einer neuen, liberal-individualistisch orientierten Verfassung am Anfang des 19. Jahrhunderts im unabhängigen Mexiko im Wesentlichen ohne größere interethnische Konflikte vonstatten gehen konnte. 2 Schließlich scheint die vergleichende Studie über die indianische Teilnahme an der Vermarktung im Nordwesten Mexikos 3 und dieselbe Teilnahme in zentralmexikanischen Distrikten wie Cholula eine viel versprechende Vorgehensweise zu sein, um die Entwicklung des ökonomischen Individualismus unter den Indianern im spätkolonialen Mexiko besser verstehen zu können.

Anmerkungen:
1 Llombart, Vicent, Campomanes, economista y político de Carlos III (Alianza Universidad, 722), Madrid 1992, S. 263; Fuentes Quintana, Enrique, “Una aproximación al pensamiento de Jovellanos”, in: Ders. (Hg.), Economía y economistas españoles. III. La Ilustración, Barcelona 2000, III, S. 392-393.
2 Im Buch von Guarisco Canseco, Claudia, Los indios del valle de México y la construcción de una nueva sociabilidad política, 1770-1835, México 2003 wird schon teilweise diese Frage erörtert, ohne auf einer mikrohistorischen, auf protoindustrielle Zusammenhänge bezogenen Analyse zu beruhen.
3 Vgl. Radding de Murrieta, Cynthia, “The Function of the Market in Changing Economic Structures in the Misión Communities of Pimería Alta, 1768-1821”, in: The Americas 34,2 (1977), S. 155-169.

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