C. Goehrke u.a. (Hgg.): Die baltischen Staaten

Titel
Die baltischen Staaten im Schnittpunkt der Entwicklungen. Vergangenheit und Gegenwart


Herausgeber
Goehrke, Carsten; von Ungern-Sternberg, Jürgen
Reihe
Texte und Studien 4
Erschienen
Basel 2002: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Mesenhöller, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Als eine „Reise durch die Geschichte des Baltikums“ bezeichnet einer der Herausgeber den Band (S. 179), und das trifft die Sache: Man kommt herum, bekommt hier eine Ereignisfolge, dort einen Strukturzusammenhang präsentiert – dass es jedoch gelingt, „ein interessiertes [...] Publikum in die Gesamtprobleme der baltischen Geschichte in Raum und Zeit einzuführen“ (S. 7), darf bezweifelt werden. Zu erratisch stellt sich die Auswahl der Themen daher, zu heterogen die Qualität der Beiträge, zu unkonzentriert das Ganze. Was als gemeinsamer Ansatz hätte verbindend wirken können, die beständige Frage nach aktuellen Nachwirkungen der einzelnen Gegenstände (S. 7, 133, 179), hindert die Autoren eher an stringenter Arbeit auf dem knapp gehaltenen Raum, verführt zu Relevanzhaschereien oder wirkt gezwungen zugefügt. So bestätigt die Lektüre, was der schief-gedrechselte Titel befürchten lässt: Insgesamt handelt es sich um einen eher ziellos ambitionierten Versammelband.

Nichtsdestoweniger, die Einzelbeiträge haben ihre Meriten. So ist Carsten Goehrkes Auftakt „Das Baltikum um 1200“ ein solide gearbeiteter, den Forschungsstand reflektierender Überblicksartikel, der zunächst gescheit gerafft die Einbeziehung der baltischen „Zwischenregion“ in die lateinische, nicht die Kiewer Christenheit erklärt. Doch lässt er bereits die Probleme des Bandes aufscheinen: Allem Spott über die akademische Fußnote zum Trotz vermisst man einen Apparat, der die Debattengänge erkennbar machte, Thesen nachprüfbar belegen und Anhaltspunkte zum Weiterlesen über die schmalen Literaturanhänge hinaus geben könnte. Manche Ausführung wünschte man sich gründlicher, differenzierter, und wäre dafür durchaus bereit, auf den abschließenden Vergleich zwischen „frühem Mittelalter“ (S. 19) und Gegenwart, Kiew und UdSSR, Rom und NATO zu verzichten.

Die heikle Seite des Willens zum Bezug noch deutlicher macht Alexander Loits Versuch, eine (in der Tat) „gebrechliche Brücke von der Schwedenzeit zur Gegenwart“ (S. 89) zu schlagen. Die Argumentation wirkt überkonstruiert, muss Diskontinuitäten verblenden und in halsbrecherischer Parforce durch die Jahrhunderte getrieben werden: Der schwedische Absolutismus habe das deutschbaltische Programm der Autonomie und Selbstverwaltung provoziert; dessen ummünzende Nachahmung wiederum die entsprechenden Forderungen der lettischen und estnischen Nationalbewegungen hervorgebracht, später die nach Souveränität und ihrer Erfüllung 1918; auf deren Basis sei die Anerkennung als Teilrepubliken nach der sowjetischen Annexion 1940 erfolgt, die die erneute Selbständigkeit 1991 ermöglicht habe – am Anfang steht ein dialektischer Purzelbaum, am Ende die verkürzende Deutung einer Ähnlichkeit als genetischer Zusammenhang, die die Frage aufwirft, wie Tschechen, Ukrainer oder Makedonier ohne Wasa-Absolutismus auf dieselbe Idee kamen.

Der komparatistische Vorbehalt impliziert den zweiten grundlegenden Einwand gegen den Band: die Auswahl der „Schnittpunkte“. Goehrke selbst entschuldigt das schmerzliche Fehlen wenigstens eines Beitrags zur Sowjetzeit mit dem Mangel an entsprechenden Forschungen bzw. Bearbeitern. Wie dem auch sei, zur Geschichte der Nationalbewegungen und Nationalstaatsbildungen gibt es genug, ihre Verhandlung am Rande (v.a. Loit, Ungern-Sternberg, Goehrke S. 184f.) ist unbefriedigend. Auch das Scheitern der demokratischen Republiken in der Zwischenkriegszeit bleibt weitgehend unerörtert (Anklänge aus rechtgeschichtlicher Perspektive: Järvelaid), zugleich der in dieser Zeit stattfindende gesellschaftliche Wandel und dessen eminente Bedeutung für die Erinnerung etwa der Letten an die Ulmanis-Zeit. – So wohlfeil es ist, anzusprechen, was alles nicht da ist, die frappierenden Lücken einerseits, die bei allem Verdienst im Einzelnen sich zu keinem Bild fügenden Akzentsetzungen andererseits sind es, die den Leser nach dem Sinn der Sache fragen lassen.

Im Überblick: Alvydas Nikžentaitis’ „Das Großfürstentum Litauen: eine Großmacht zwischen Byzanz um Rom“ ist eine knappst gehaltene, problemorientierte Einführung, die auch offene Fragen anspricht, nicht zuletzt explizit vom Ost-West-Transfer handelt, dabei höchstens ein wenig unter plakativem Exotismus leidet („Sonderweg“ als „‚richtiges’ Mitteleuropa“, S. 25f.).

Wie es auch anders geht, zeigen der ebenso unaufgeregte wie instruktiv kritische Beitrag von Ilgvars Misans zu „Alt-Livland und der Hanse“ oder Christoph Schmidts konzise Abhandlung der „Ursachen und Bedeutung der Reformation in Livland“.

Inge Lukšaite kommt das Verdienst eines Überblicks über „Reformation und Gegenreformation in ihrer historischen Bedeutung für Litauen, Lettgallen und Kurland“ zu, also einer Betrachtung, die die zumal in der deutschsprachigen Literatur verbreitete „Est-, Liv- und Kurland“-Sichtweise zugunsten einer für das 16. bis 18. Jahrhundert historisch adäquaten Rzeczpospolita-Perspektive verlässt.

Jürgen von Ungern-Sternbergs „Die ‚russische Ära’ (1710 - 1917)“ fällt dagegen nach einem gelungenen Einstieg leicht ab. Zunächst ordnet er die Kapitulationen Estlands und Livlands mit Russland in die „alteuropäischen“ Praktiken von Herrschaftswechseln ein und nimmt ihnen auf dem Wege des Vergleichs ihren legendenhaften Sonderstatus; der folgende, wesentlich auf die deutschen Oberschichten konzentrierte Abriss ist dann, wenn auch differenziert, recht konventionell und streckenweise verplaudert.

Durchaus interessante Einblicke und eine erstaunlich lange Liste von Schweizer Wissenschaftlern, die in den Ostseeprovinzen tätig waren, liefert Rudolf Mumenthalers „Die Wissenschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und dem Baltikum“, ohne allerdings den systematischen Ort seiner Erkenntnisse zu klären.

Ceslovas Laurinavicius stellt in einer prägnanten Analyse die Optionen und Entscheidungen der drei jungen Staaten angesichts der sie umgebenden Machtakteure dar. Ohne auf eine kritische Erörterung insbesondere des litauischen Verhaltens in der Vilnius-Frage zu verzichten, arbeitet er das Dilemmatische der Situation zwischen den Weltkriegen heraus. Freilich, die Stringenz der Darstellung dankt sich nicht zum wenigstens der Konzentration auf den Gegenstand, dem Verzicht auf einen explizierten Gegenwartsbezug – vermiedener Verzettelung.

Dagegen rennt Peeter Järvelaids aus rechtsgeschichtlicher Sicht vorgetragenes Plädoyer für eine Periodisierung, die das „20. Jahrhundert“ mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnen lässt, längst weit geöffnete Türen ein. Ähnlich verhält es sich mit seinem Hinweis auf eine Rezeptionstheorie, die den Transfer von Rechtsinstituten nicht als reine Nachahmung auffasst. Im Weiteren bleiben die Ausführungen allgemein, werden Probleme angerissen aber nicht fassbar gemacht.

Peter Bernholz schließlich liefert eine faktensatte Zusammenstellung der wichtigsten Weichenstellungen und ökonomischen Daten seit 1991.

Hier wie in der Publikation selbst sei das Problem des Regionskonstrukts „Baltikum“ zum Ende erwähnt: Carsten Goehrke geht in seiner zusammenfassenden Schlussbetrachtung auf die Historizität des Begriffs ein (S. 179f., 190f.) und lässt es in wohltuendem Pragmatismus dabei bewenden; ansonsten nehmen die einzelnen Autoren die für sie notwendigen Präzisierungen stillschweigend oder explizit (etwa Loit, S. 75) selbst vor. Die Gelegenheit, das Ausbleiben eines subjektiv die Region konstituierenden baltischen Bewusstseins analytisch zu erklären, hätte sich in Seraina Gillys Abhandlung zu „kulturellen Affinitäten in den Gesellschaften des Baltikums“ geboten, zumal sie die Frage anspricht – doch verschenkt Gilly den ihr vergleichsweise großzügig zugemessenen Platz an eine unfokussierte Tour d’horizon zum Thema Identität, deren Leitmotiv eine entschieden betuliche Anklage der globalisierte Marktwirtschaft ist.

Vielleicht hätte Carsten Goehrkes straffes, übersichtliches Fazit in ausgebauter Form eben jene Einführung werden können, die der Tagungsband nicht bietet. So aber bleibt ein widersprüchliches Buch anzuzeigen, das auch seine gelungenen Strecken durch den Verzicht auf Literaturhinweise verpuffen lässt, dem etwas mehr sprachliche Sorgfalt gut getan hätte, das vor allem aber an seinen eigenen Vorgaben scheitert und nicht klarmachen kann, welche Lücke es zu schließen vermöchte.

(Diese Besprechung wurde ursprünglich für das Journal of Baltic Studies erarbeitet.)

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