Handbücher und Überblicksdarstellungen, die sich ganz oder zu wesentlichen Teilen der Geschichte Südosteuropas widmen, sind in den letzen Jahren gleich mehrfach erschienen.1 Im Gegensatz jedoch zu diesen in der Regel geografisch und thematisch aufgebauten Werken liegt nun ein vom Südostinstitut München herausgegebenes Lexikon im klassischen Sinne vor, das die gezielte Suche nach Stichwörtern erlaubt. Die große Zahl von 62 mitwirkenden Autorinnen und Autoren, durchwegs renommierte Spezialisten und anerkannte Fachleute auf dem Gebiet der Südosteuropakunde, die (bis auf wenige Ausnahmen) aus dem deutschen Sprachraum stammen, garantiert ein großes Spektrum unterschiedlicher geografischer, thematischer und methodischer Schwerpunkte.
Die abgedeckte Themenpalette der fast 550 Einträge ist denn auch, dem stattlichen Umfang angemessen, sehr breit. Chronologisch wird ein Zeitraum behandelt, der im Frühmittelalter mit Stichworten wie „Christianisierung“ oder „Awaren“ beginnt und in den Länderartikeln bis in die allerjüngste Vergangenheit reicht. Geografisch wird Südosteuropa in einem sehr weiten Sinne verstanden, indem neben der Balkanhalbinsel alle Gebiete zwischen Zypern und der Zips, zwischen Ostalpen und Dnjestr dazugerechnet werden. Thematisch schließlich umfassen die Einträge geografische Begriffe, Personengruppen wie Völker, Religionsgemeinschaften und ethnografische Gruppen, zentrale Termini aus dem kulturellen, sozialen, demografischen, ökonomischen, rechtlichen, politischen und militärischen Bereich wie auch bestimmte Ereignisse (etwa Friedensschlüsse und die Revolutionen von 1848/49). Kurz und gut, es gibt kaum einen Gegenstand der südosteuropäischen Geschichte, der im Lexikon nicht in der einen oder anderen Weise vertreten wäre. Bloß wer im Lexikon nach Personeneinträgen sucht, wird enttäuscht. Auf sie wurde konsequent verzichtet, liegt doch ein ausführliches eigenständiges Werk vor, das genau diesen Bereich abdeckt.2
Der mit dem Weglassen von Personeneinträgen gewonnene Platz wird gut genutzt. Die verständlich verfassten, sehr informativen Stichworte vermitteln fundierte Informationen, die oft auch, wie etwa im Falle von „Ethnogenese“, „Bauernbefreiung“ oder „Faschismus“, in einen größeren historiografischen Kontext eingebettet sind. Entsprechenden Artikeln wurde genügend Raum zugestanden, um die wichtigsten Erkenntnisse der allgemeinen wissenschaftlichen Diskussion einfließen zu lassen und den Gegenstand dann bezüglich seiner Relevanz für Südosteuropa zu beleuchten.
Bei der Auswahl der aufgenommenen Begriffe ist zwei Bereichen, die in handbuchartigen Werken oft recht knapp abgehandelt werden, mehr Platz eingeräumt worden. Einerseits handelt es sich um die ältere Geschichte (Mittelalter und Frühe Neuzeit), andererseits um die Osmanistik. Erfreulich ist hierbei, dass neben den diesbezüglich oft wenig ergiebigen allgemeinen historischen Nachschlagewerken nun ein kompaktes Hilfsmittel zur Verfügung steht. Der im südosteuropäischen Kontext zentrale Bereich der osmanischen Verwaltungssprache findet im Lexikon mit präzisen Erklärungen und weiterführenden Literaturhinweisen zu Begriffen wie „Esnaf“, „Kaimakam“ oder „Mülk“ Niederschlag. Begrüßenswert, da in ähnlichen Werken in dieser auf die spezifischen Verhältnisse Südosteuropas ausgerichteten Weise kaum anzutreffen, sind etwa die relativ eingehenden Ausführungen zum Feudalismus in den verschiedenen Regionen und Epochen. Die den Lemmata beigegebenen Literaturangaben verweisen auf die relevante aktuelle Fachliteratur und ermöglichen so, sich rasch ein Bild vom derzeitigen Forschungsstand zu machen. Durch Querverweise werden thematisch verwandte Gebiete erschlossen, so dass man sich auch zu größeren Themenkomplexen einen recht guten Überblick zu verschaffen vermag.
Besonders hilfreich sind die Querverweise bei Stichworten, die komplexe Phänomene beschreiben wie etwa „Stamm, Stammesgesellschaft“, „Frau, gesellschaftliche Stellung“ oder „Minderheiten, Minderheitenschutz“. Die Auswahl dieser Lemmata zeigt bereits, dass nicht nur rein auf der Faktenebene zu beschreibende Einträge aufgenommen worden sind, sondern in bedeutendem Ausmaße auch problemorientierte Artikel, die einen größeren Fragenkomplex umreißen. Die Bevorzugung von synthetischen Beiträgen vor analytischen Einzelstichworten ermöglicht eine ganzheitlichere Darstellungsweise und Problematisierung des entsprechenden Themenkreises. Dabei reflektieren viele Artikel neuere Ansätze und Forschungsrichtungen wie etwa der historischen Anthropologie. Andererseits wird auch immer wieder kritisch auf divergierende Ansichten hingewiesen. So etwa, wenn beim Stichwort „Nationsbildung“ angemerkt wird, dass dieser Begriff in Südosteuropa kaum verwendet wird, da man dort von einer „Wiedergeburt“ bereits bestehender Nationen ausgehe, was sich auch in Fragestellungen und Forschungsergebnissen niederschlage.
Relativ wenig Raum nimmt der Bereich der Zeitgeschichte ein. Länderübergreifende Einträge wie „Kommunismus“, „Sozialismus“, „Stalinismus“ oder „Volksdemokratien“ sucht man vergeblich (letztere drei waren offenbar geplant, konnten aber nicht rechtzeitig fertig gestellt werden). So ist man hier vor allem auf die einzelnen Länderbeiträge angewiesen, die jedoch für diesen Zeitraum oft auf der deskriptiven Ebene verharren. Angesichts der Tatsache aber, dass der hier weniger stark gewichtete chronologische Abschnitt der Zeitgeschichte in andern Werken bereits recht gut dokumentiert ist, lässt sich dies leicht verschmerzen.
Das Lexikon zur Geschichte Südosteuropas vermittelt nicht den Eindruck einer bloßen Faktensammlung. Mit seiner Großen chronologischen und thematischen Breite stellt es ein informatives und zuverlässiges Arbeitsinstrument für alle an der Geschichte dieses Raumes Interessierten dar. Es bietet einerseits präzise Informationen zu wichtigen Termini und eignet sich so zur gezielten Informationssuche. Andererseits verschafft es aufgrund umfassender Artikel einen Überblick über zentrale historische Themen dieser Region sowie über aktuelle Forschungsfragen und -methoden. Das Lexikon ist daher mehr als ein reines Nachschlagewerk. Es kann als eine vielschichtige Gesamtschau der südosteuropäischen Geschichte benutzt werden.
Anmerkungen:
1 Hatschikjan, Magarditsch; Troebst, Stefan (Hgg.), Südosteuropa: Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Ein Handbuch, München 1999; Roth, Harald (Hg.), Studienhandbuch östliches Europa. Band 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, Köln 1999; Kaser, Karl, Südosteuropäische Geschichte und Geschichtswissenschaft. Eine Einführung., Wien 2002.
2 Bernath, Mathias; Nehring, Karl; von Schroeder, Felix (Hgg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, 4 Bde., München 1974-1981.