: Von NS-Konzentrationslagern erzählen. Angeklagte vor Gericht über Dachau, Mauthausen, Ravensbrück und Neuengamme. Bielefeld 2020 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 9783837650945 302 S. € 45,00

: "Niemand ist fähig das alles in Worten auszudrücken". Tagebuchschreiben in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, 1939–1945. Göttingen 2020 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-3674-2 490 S. € 39,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dennis Bock, Institut für Germanistik, Soziologisches Institut, Universität Hamburg

Das gesellschaftliche Wissen über das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager ist wesentlich durch ein Erzählen geprägt – zumeist in Form mündlicher oder schriftlicher Erinnerungen von Überlebenden. Daneben existieren u.a. Aufzeichnungen, Memoiren und Fotoalben von Tätern, die ebenfalls erzählen, sich in Hinblick auf die Lebenswirklichkeit der Verfolgten aber wesentlich unterscheiden. Die vorliegenden Texte von Dominique Schröder und Dominique Hipp eint wiederum die Analyse von Erzählungen, gleichwohl ihr jeweiliger Quellengegenstand nicht gegensätzlicher sein könnte: Während Schröder mit ihrer Perspektive auf das „Tagebuchschreiben in nationalsozialistischen Konzentrationslagern 1939-1945“ etwas über „die Erfahrungen der politischen und jüdischen Häftlinge“ (Schröder, S. 9) anhand ihrer unmittelbar schriftlich festgehaltenen Eindrücke herauszufinden sucht, steht bei Hipp das Erzählen der Angeklagten vor Gericht in Verfahren zu „nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG)“ (Hipp, S. 12) der ersten zehn Nachkriegsjahre an den Beispielen Dachau, Mauthausen, Ravensbrück und Neuengamme im Fokus.

Ihrem Gegenstand entsprechend erweitern beide Autorinnen den methodischen Rahmen ihrer geschichtswissenschaftlich ausgerichteten Dissertationsschriften um literatur- bzw. sprachwissenschaftliche Ansätze und tragen damit in unaufgeregter Weise zu einer wachsenden Selbstverständlichkeit interdisziplinären Arbeitens in den Geschichtswissenschaften bei. In ihrem stark theoriegeleiteten Design untersucht Hipp ihr Material in drei Hauptkapiteln auf Marker des unzuverlässigen Erzählens in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen (Kapitel 2), Selbsterzählungen der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen (Kapitel 3) sowie auf performatives Erzählen im Gnadengesuch (Kapitel 4). Weil insbesondere das „Konzept des unzuverlässigen Erzählens auf Basis von literarisch-poetischen Texten entworfen wurde“, erklärt Hipp, „müssen die in der bisherigen Forschung gelisteten Marker für unzuverlässiges Erzählen nach ihrer Tauglichkeit für die Diagnose eines unzuverlässigen Erzählens im Faktualen überprüft werden.“ (Ebd., S. 32) In ihren folgenden Darlegungen rückt sie das Konzept nahe an die „geschichtswissenschaftliche[] quellenkritische[] Vorgehensweise“ heran, hebt ihr gegenüber aber hervor, dass beim unzuverlässigen Erzählen der „Gestaltung neben den Inhalten eine gleichberechtigte, wenn nicht gar wichtigere Ebene für die Diagnose“ (ebd., S. 56) zukommt.

Vergleichend betrachtet sind es die erzählerischen Strategien, für die sich Hipp in der Folge maßgeblich interessiert und die beide Arbeiten methodisch miteinander verbindet. Denn was Hipp als Entstehung von narrativer Identität (ebd., S. 138f.) und Selbsterzählungen in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen beschreibt, entspricht den Subjektivierungen und Selbstvergewisserungen der Diarist:innen bei Schröder – die jeweiligen Autor:innen erzählen sich in ein „situatives Umfeld“ (Schröder, S. 27), in dem ihnen als Handelnde und Deutende eine wichtige Funktion bei der Analyse zukomme (ebd., S. 26). Hierin wird der sprachpragmatische Ansatz Schröders deutlich, der nicht ausschließlich nach dem Text fragt, sondern „gleichermaßen einen Zusammenhang von Kontext und Äußerung“ sieht sowie auf die „Funktionen des Schreibens“ (ebd.) abzielt. Entsprechend gliedert sich Schröders Untersuchung, die in Kapitel II nach dem familiären, jüdischen und politischen Selbst der Schreibenden fragt und herausarbeitet, dass die Selbstbezugnahmen als Sohn oder Mutter „dann an Bedeutung gewannen, wenn ihre Selbstverständlichkeit im Lageralltag […] infrage gestellt wurde“ (ebd., S. 141). Kapitel III beleuchtet unter Rückgriff auf Geschlecht, Generation und Gewalt unter anderem Distanzierungsstrategien, wie sie Maja Suderland ähnlich für den Aspekt der Männlichkeitskonstruktion beschrieben hat.1 Im Kontext des „Doing Gender“ gelang es beispielsweise „männlichen Häftlingen erfolgreich einer Marginalisierung ihrer Männlichkeit“ (ebd., S. 443) entgegenzuschreiben und so die „Krise der Männlichkeit“ konstruktiv umzuwandeln (vgl. ebd., S. 185). Interessant ist, dass die „Frauen anhand der verletzten Körper der Männer ein gänzlich anderes Bild [zeichneten]“ (ebd., S. 443). „Gleichzeitig war das Unvermögen der Frauen, hier in eine pflegende und helfende Rolle zu schlüpfen, die ihrem eigenen Geschlechtsverständnis entsprochen hätte, eine Krisenerfahrung für ihre eigene Vorstellung von Weiblichkeit.“ (Ebd.) Die anschließenden Kapitel untersuchen schließlich die Repräsentation von (Erfahrungs-)Räumen (Kapitel IV), Zeit(-Erfahrungen) (Kapitel V) und Sprache in Tagebüchern (Kapitel VI). Aufschlussreich sind hier beispielsweise Beobachtungen aus den Tagebüchern zum erlebten (Funktions-)Wandel einzelner Lager im zeitlichen Verlauf des Krieges (vgl. ebd., S. 286) oder zu Formen von Handlungsspielräumen in Baracken, die die Diarist:innen mehrfach beschreiben und damit Konzepten entgegenschreiben, die Konzentrationslager als Orte absoluter Macht verstehen. Der stringente Aufbau von Schröders Studie erlaubt insgesamt eine verschränkte Lektüre von Tagebuch, Lagergeschichte und wissenschaftlichem Forschungsdiskurs, die stets genug Raum für die Stimmen der Verfasser:innen lässt.

Dominique Hipps theoriegeleitetes Interesse, „eine neue Methodik der Quellenkritik [zu] demonstrieren“ sowie „erzähltheoretische Überlegungen […] auf ihre Tauglichkeit zur Beantwortung drängender Fragen des faktualen Erzählens“ (Hipp, S. 275) anzuwenden, führt aufgrund einer fehlenden Systematik zur Darstellung von Angeklagt:innen-Biografie, Lagergeschichte und -kontext, Anklage und Erzählstrategie im Vergleich mit Schröders Text zu zahlreichen Kleinstkapiteln, die immer neue (literaturwissenschaftliche) Aspekte aufwerfen und nur schwer über die Gliederung der Hauptkapitel zusammengehalten werden. Dabei ist der Gedanke, die erzähltheoretische Basis nicht in einem großen Theoriekapitel aufzubereiten, sondern sie gegenstandsbezogen einzuweben, durchaus nachvollziehbar. Die notwendigen theoretischen Einführungen sowie Überblicke zum jeweiligen Forschungsstand geraten im Laufe der Studie aber zu kurz, sodass die Entwicklung am Material teils stark voraussetzungsreich ist. So gerät das zunächst vielversprechende Arbeiten an den Fächergrenzen zahlreicher Disziplinen – neben geschichts- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen verortet die Autorin die Arbeit „im Bereich Law and Literature“ (ebd., S. 20) – im Verlauf der Studie bisweilen zu offensichtlichen Kompromisslösungen, die ein tiefgehenden analytischen Blick verstellen. Ein Close Reading der Texte beispielsweise, das sich aufgrund des literaturwissenschaftlichen Instrumentariums nachgerade anbietet, wie die Autorin selbst deutlich macht, aber zu selten ausbuchstabiert, hätte der Arbeit an vielen Stellen gutgetan.

Wenn es, wie der Titel ankündigt, um „Angeklagte vor Gericht“ geht, fehlt ferner eine Verortung der Studie in der Forschung zu juristischen Nachkriegsprozessen, demzufolge unter anderem völlig offen bleibt, weshalb Hipp den zugrunde gelegten Gegenstand für die Nutzbarmachung des unzuverlässigen Erzählens gewählt hat. Auch ihre Begründung zur Auswahl der vier Konzentrationslager aus „pragmatischen Gründen wie Zugänglichkeit und Umfang der Aktenbestände“ (ebd., S. 29) erscheint mit Blick auf die dreizehn (!) zitierten Quellen wenig überzeugend.

Dennoch darf nicht unterschlagen werden, dass die Arbeit einige interessante Aspekte aufwirft, beispielsweise zu den von Hipp untersuchten Aussagestrategien von ehemaligen Funktionshäftlingen (vgl. ebd., S. 196ff.; S. 268ff.). Beim Versuch der diskursiven Einordnung von Funktionshäftlingen irritieren dann wiederum Aussagen, die nahelegen, dass der Forschungsstand nicht vollständig zur Kenntnis genommen wurde, etwa, wenn Schröder sich festlegt, „dass der Begriff der Häftlingsgesellschaft keine soziale Gemeinschaft meint“ (ebd., S. 116). Ganz unabhängig von der Aussagekraft dieser Einschätzung wäre eine Einordung der These in die Diskussion zum Thema Sozialleben und Häftlingsgesellschaften im Kontext der Konzentrationslager wünschenswert gewesen.

Dominique Schröder zeigt mit ihrer Studie auf systematische und zielführende Weise, wie die von ihr untersuchten Erzählungen zu einer vielstimmigen Erinnerung beitragen. Indem die Häftlinge in ihren Tagebüchern beispielsweise über unterschiedliche Lagerkomplexe und Räume „berichteten, vermittelten sie ihre Kenntnisse über die Lager der Nachwelt und lieferten damit nicht nur Ergänzungen zu dem Wissen, das aus den oftmals nur fragmentarisch erhaltenen, offiziellen Akten der Täter und Verantwortlichen erschlossen werden kann, sondern erweitern es um ihre Perspektive und die damit verbundenen Erfahrungen“ (Schröder, S. 277).

Gerade im Vergleich der beiden Studien wird deutlich, dass die Beschränkung auf ein Erkenntnisziel, auch und gerade zugunsten des Untersuchungsgegenstandes, heilsam sein kann. Auch wenn es Hipp stellenweise überzeugend gelingt, beispielsweise den Werte- und Normenrahmen der Beschuldigten oder ihre Rolle in der Erzähl- und Handlungsgegenwart als Ausprägungen des unzuverlässigen Erzählens zu operationalisieren, hat die Autorin aufgrund der zahlreichen Fäden, die sie in der Hand hält, mitunter Schwierigkeiten, ihre Ansätze zu einem überzeugenden und stringenten Forschungsdesign zusammenzubinden. Beide Arbeiten, so lässt sich resümieren, weiten den üblichen Rahmen des methodisch-theoretischen Arbeitens um sprach- und literaturwissenschaftliche Ansätze und spielen damit für die Geschichtswissenschaften gewinnbringende Möglichkeiten durch. Wenn es, wie im Falle von Schröders Dissertationsschrift, gelingt, dann zum Beispiel deshalb, weil insbesondere der sprachpragmatische Zugang dem schreibenden Subjekt als Erinnerungsinstanz eine wichtige Funktion beimisst, die sich nicht in Form eines „Rohmaterial[s]“2 erschöpft, wie Ruth Klüger seinerzeit polemisch für die Oral History anmerkte. Wenn der historische Gegenstand jedoch zur Beweisführung für eine Theoriediskussion der Literaturwissenschaften wird – dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre von Hipps Monografie phasenweise auf –, bleiben Potenziale transdisziplinären Arbeitens ungenutzt.

Anmerkungen:
1 Maja Suderland, Männliche Ehre und menschliche Würde: Über die Bedeutung von Männlichkeitskonstruktionen in der sozialen Welt der nationalsozialistischen Konzentrationslager, in: Querelles. Jahrbuch für Frauen und Geschlechterforschung 12 (2007), S. 118–140.
2 Ruth Klüger, Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur, Göttingen 2006, S. 59.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Weitere Informationen
Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Sprache der Publikation
"Niemand ist fähig das alles in Worten auszudrücken"
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension