Cover
Titel
Der Rotulus im Gebrauch. Einsatzmöglichkeiten – Gestaltungsvarianz – Deutungen


Herausgeber
Doublier, Étienne; Johrendt, Jochen; Alberzoni, Maria Pia
Reihe
Beihefte zum Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 19
Erschienen
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Magdalena Weileder, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Mittelalterliche Rotuli, also Schriftstücke in Rollenform, haben in den letzten Jahren verstärkt die Aufmerksamkeit der Forschung erregt. Sie wurden Thema einer Habilitationsschrift1 und gleich zweimal Gegenstand internationaler Konferenzen: im September 2016 an der Bergischen Universität Wuppertal – mit Schwerpunkt auf Beispielen aus Italien und Deutschland2 – und im September 2017 in Heidelberg – mit Fokus auf England und Frankreich.3 Der nun erschienene Wuppertaler Tagungsband versammelt neben der Einleitung der Herausgeber Étienne Doublier, Jochen Johrendt und Maria Pia Alberzoni acht deutsche, elf italienische und einen englischen Beitrag, in vier Sektionen gruppiert. Zudem enthält der Band einen Tafelteil mit 34 Abbildungen, ein Verzeichnis der Autor/innen sowie ein Personen- und ein Ortsregister.

In der Einleitung wird das Thema knapp umrissen und das Ziel des Tagungsbandes formuliert, „die unterschiedlichen Einsatzgebiete [des Rotulus], seine kontextspezifischen Fähigkeiten“ herauszuarbeiten (S. 13). Sodann werden kurze Inhaltsangaben der folgenden Beiträge geboten.

Die 1. Sektion („Varianten der Rotulusverwendung“) fasst Beiträge zu Rotuli unterschiedlichsten Inhalts zusammen. So befasst sich Nine Miedema mit Reiseliteratur und literarischen Aufführungstexten in Rollenform, verneint dabei aber einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt. Dagegen zeigt Elena Vanellis Beitrag über eine Universalchronik, wie die Form des Rotulus gelegentlich doch eine enge Symbiose mit seinem Inhalt eingeht. Der einzige nicht aus Pergament, sondern aus Papier bestehende Rotulus, der im Band besprochen wird, ist eine Sammlung von Briefkonzepten von 1475 im Stadtarchiv Straßburg, die Bastian Walter-Bogedain beschreibt. Diese wohl von einem Feldschreiber im Kontext der Burgunderkriege konzipierten Briefe an die Straßburger Räte wurden nicht – wie für Missivenbücher üblich – gebunden, sondern zu einem Rotulus zusammengenäht. Igor Santos Salazar behandelt einen Rotulus aus Arezzo, der wegen der darin abgeschriebenen langobardischen Urkunden eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, bislang jedoch kaum in seiner Gesamtheit und seinem Überlieferungskontext untersucht wurde. Seine heutige Form erhielt der Rotulus durch mehrere, aus juristischen, vielleicht auch memorialen Erwägungen angestoßene Bearbeitungen vom 9.–12. Jahrhundert.

Die 2. Sektion ist Rotuli „im ökonomisch-administrativen Bereich“ gewidmet. Christian Lackner befasst sich mit den Rotuli, die den ältesten Teil des sogenannten Habsburger Urbars bilden, das habsburgischen Besitz u.a. am Oberrhein verzeichnet. Entgegen älterer Annahmen sei von einer prozesshaften Entstehung dieses Urbars auszugehen, wobei die Rollenform nicht von der habsburgischen Verwaltung vorgegeben wurde, sondern durch oberrheinische Gewohnheiten bedingt war. Lucia dell’Asta stellt Rotuli aus dem 13. Jahrhundert aus Bergamo vor, in denen sogenannte calcationes (von der Stadtregierung veranlasste Begehungen) und ostensiones (vereidigte Stellungnahmen gegenüber städtischen Beamten), die über lokale Besitzverhältnisse Auskunft geben sollten, notariell dokumentiert wurden. Die beiden nächsten Beiträge führen chronologisch zurück in das 12. Jahrhundert und räumlich an den Niederrhein: Jochen Johrendt behandelt drei Heberegister des St. Viktorstifts in Xanten, die vermutlich beim Einsammeln der Abgaben vor Ort zum Einsatz kamen und so der Verdichtung von Herrschaft dienten. Als Mittel und Zeugnis der Herrschaftsverdichtung interpretiert auch Étienne Doublier den von ihm vorgestellten und eingehend beschriebenen Rotulus, der Erwerbungen des Kölner Erzbischofs Philipp von Heinsberg († 1191) auflistet. Einen Überblick zu Rechnungen des 13. und 14. Jahrhundert steuert Mark Mersiowsky bei. Er vermutet, dass die zeitweise verbreitete Rollenform bei Rechnungen daher rührte, dass man die ursprünglich nur als Erinnerungshilfe gedachten Aufzeichnungen auf Pergamentreste geschrieben habe, an die man bei Bedarf weitere Stücke annähte. Sobald Papier als Beschreibstoff günstig verfügbar war, wurden Pergamentrollen für Rechnungen jedoch weiträumig durch Papierhefte abgelöst.

Der erste Beitrag der 3. Sektion („Der Rotulus im juristisch-administrativen Bereich“) stammt von Barbara Bombi, die die diplomatic enrolments der englischen Krone vorstellt. Sie sieht die Form hier jedoch nicht allein durch die Tradition der englischen Königskanzlei – die bekanntlich umfangreiche Registerserien in Rollenform führte –, sondern auch durch die funktionalen Bedürfnisse eines Reisekönigtums in unruhigen Zeiten beeinflusst. Die folgenden Beiträge dieser Sektion behandeln italienische Beispiele, die im Kontext laufender oder antizipierter Gerichtsprozesse entstanden. So zeigt Pietro Silanos, dass ein über 15 Meter langer Rotulus im Vatikanischen Archiv, der Gerichtsstandstreitigkeiten zwischen Bischof und Kommune von Parma betrifft, nicht für den internen Gebrauch im Umfeld des Bischofs entstand, sondern im Kontext eines 1218–1220 geführten Prozesses vor einem päpstlich delegierten Richter. Auch der von Miriam Rita Tessera untersuchte Rotulus des Klosters S. Ambrogio in Mailand von 1201 wurde anlässlich eines päpstlich delegierten Rechtsstreits erstellt.

Die Beiträge von Lorenza Iannacci und Annafelicia Zuffrano sind beide demselben Rotulus aus dem Kloster San Domenico in Bologna von 1298 gewidmet, der die Aussagen von 13 Zeugen enthält. Iannacci behandelt den Inhalt, Zuffrano nimmt eine paläographisch-diplomatische Analyse vor, wobei sie auf die Unhandlichkeit und die fehlenden Gebrauchsspuren hinweist. Alberto Spataro stellt anhand eines Rotulus des 14. Jahrhundert aus Vercelli, der Abschriften von Dokumenten enthält, heraus, wie durch das Zusammennähen eine Serie von Dokumenten in einer logischen Reihenfolge vereint werden konnte, ohne Form und Materialität des Einzelstücks zu verändern. Dass umfangreiche Rotuli auch prestigeträchtig waren, merkt Paolo M. Galimberti an (S. 357). Das von ihm vorgestellte 8 Meter lange Beispiel, in dem eine Schenkung Bernabò Viscontis vom Jahr 1359 festgehalten ist, wurde im Gegensatz zu einer gebundenen Kopie nicht für interne Zwecke benutzt; nur im Falle eines Rechtsstreits sollte es hervorgeholt und zur Schau gestellt werden. Riccardo Parmeggiani vergleicht vier Rotuli aus Archiven in Lucca und im Vatikan, die im Kontext der italienischen Inquisition im 13./14. Jahrhundert entstanden. Der von Alfredo Lucioni vorgestellte Rotulus enthält die Abschrift eines Briefs über die Visitation der Abtei Fruttuaria durch einen päpstlichen Legaten.

Zwei Aufsätze bilden schließlich die 4. Sektion „Archivierung, Erfassung und Aufarbeitung“: Pier Maurizio Della Porta stellt das Archivinformationssystem des Archivio di Stato di Perugia, das auch einige Rotuli aufbewahrt, vor. Johannes Burkardt weist in seinem Beitrag zu Rotuli im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen darauf hin, dass diese im Archiv oft schwer zu ermitteln sind, auch weil sie in späterer Zeit nicht selten flachgelegt oder gefaltet wurden.

Als Eindruck aus der Gesamtschau der Beiträge lässt sich festhalten: In Italien war die Rollenform bei Schriftstücken, die man in einem Prozess vorlegte, offenbar Gewohnheit. Hierbei könnte neben der Wahrung einer beweisrechtlich bedeutenden „originalen“ Materialität auch der optische Effekt, den man vor Gericht mit einer sehr langen Rolle erzielen konnte, von Bedeutung gewesen sein. Für interne Zwecke waren umfangreiche Rotuli dagegen zu unhandlich. In Deutschland wurden Rotuli anscheinend nur lokal zur mittel- oder längerfristigen Gewohnheit: Ihre Verwendung, hier vor allem im administrativen Bereich, wurde ursprünglich wohl vor allem durch die flexiblere Herstellung begünstigt. Das mehrfach geäußerte Argument der besseren Transportierbarkeit (z. B. S. 15, 78, 320, 371) scheint weniger überzeugend, da, wie auch Miedema anmerkt (S. 31), die meisten Rotuli ihrem Textumfang nach eher mit schmalen Heften zu vergleichen sind als mit schweren Büchern.

Da die meisten Beiträge auf Einzelbeispiele und deren Einordnung in die individuellen historischen Zusammenhänge fokussieren, bieten sie in diesem Bereich viele wichtige Erkenntnisse. Den Forschungsertrag für das übergeordnete Thema hätte man in einer ausführlicheren Einleitung, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der thematisierten Rotuli deutlich macht, klarer herausstellen können. Dort (S. 13) wird zwar ausdrücklich erklärt, ein systematischer Vergleich sei nicht das Ziel des Tagungsbandes, eine bessere Vergleichbarkeit der Einzelbeispiele zugunsten weiterführender Forschungen wäre jedoch hilfreich und durch Abbildungen zu allen vorgestellten Rotuli sowie eine Anordnung der Beiträge nach räumlichen und chronologischen Kriterien zu erreichen gewesen. Dennoch bietet der Band wertvolle Vergleichsbeispiele und Anknüpfungspunkte für künftige Forschungen, die das Thema Rotulus in gesamteuropäischer Perspektive in den Blick nehmen möchten – gerade in Ergänzung zum Sammelband zur zweiten, eingangs erwähnten Rotulus-Tagung, der englischen und französischen Rotuli gewidmet ist.

Anmerkungen:
1 Die 2014 eingereichte Habilitationsschrift ist noch unpubliziert, jedoch liegt ein auf deren Grundlage verfasster Aufsatz vor: Norbert Kössinger, Gerollte Schrift. Mittelalterliche Texte auf Rotuli, in: Annette Kehnel / Diamantis Panagiotopoulos (Hrsg.), Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften (Materiale Textkulturen 6), Berlin / München / Boston 2015, S. 151–168.
2 Vgl. Tristan Spillmann, Tagungsbericht: Der Rotulus im Gebrauch. Einsatzmöglichkeiten, Gestaltungsvarianz und Aussagekraft einer Quellengattung, 21.09.2016 – 23.09.2016 Wuppertal, in: H-Soz-Kult, 15.12.2016, <https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6884> (22.10.2020).
3 Vgl. Paul Blickle u.a., Tagungsbericht: The Roll in Western Europe in the Late Middle Ages, 28.09.2017 – 29.09.2017 Heidelberg, in: H-Soz-Kult, 27.11.2017, URL: <https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7418> (22.10.2020), sowie den Tagungsband: Stefan G. Holz / Jörg Peltzer / Maree Shirota (Hrsg.), The Roll in England and France in the Late Middle Ages. Form and Content (Materiale Textkulturen 28), Berlin / Boston 2019.