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Titel
Die Slawen im Mittelalter. Zwischen Idee und Wirklichkeit


Autor(en)
Mühle, Eduard
Erschienen
Wien/Köln/Weimar 2020: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
503 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carolin Ann Triebler, Historisches Institut, RWTH Aachen

In seinem knapp über 500 Seiten umfassenden Werk verspricht Eduard Mühle, die Geschichte der Slawen im Mittelalter „völlig neu“ zu erzählen (so der Klappentext). Ausgangspunkt für das ambitionierte Vorhaben des Münsteraner Historikers ist eine Beobachtung aus seiner Untersuchung der neuzeitlichen Vorstellungen über „die Slawen“ bzw. das „Slawentum“. Diese Beobachtung stellt Mühle in seinem Werk noch vor seiner eigentlichen Untersuchung in seinem Prolog über die „Erfindung der Slawen in der Neuzeit“ (S. 7–39) vor. Dabei kommt Mühle nach einem ausführlichen Überblick über die Genese der neuzeitlichen Slawenidee vom 16. bis zum 20. Jahrhundert zu dem Schluss, dass die moderne Vorstellung einer allen slawischsprachigen Bevölkerungsgruppen zugrundeliegenden slawischen Abstammung, einer gemeinsamen slawischen Kultur oder eines charakteristischen slawischen Bewusstseins das Produkt kulturwissenschaftlicher Generalisierung und gezielter politischer Instrumentalisierung sei.

Ausgehend von dieser Feststellung widmet sich Mühle der seinem Werk zugrundeliegende Frage nach der Bedeutung dieser Erkenntnis für das Verständnis der slawischsprachigen Bevölkerung des Mittelalters. Zwar existieren für das Hoch- und Spätmittelalter bereits Detailstudien zu einzelnen Varianten der slawischen Idee.1 Eine umfassende deutschsprachige Untersuchung, wie sie Mühle für eine Vielzahl slawischsprachiger Bevölkerungsgruppen von ihren Anfängen im frühen bis zum ausgehenden Mittelalter vorlegt, blieb von der Forschung bisher jedoch aus.2 Zur Beantwortung seiner Fragestellung verfolgt Mühle eine doppelte Perspektive, indem er den Fokus auf die realen historischen Strukturen des 7. bis frühen 15. Jahrhunderts legt und gleichzeitig versucht, die in den mittelalterlichen Quellen dargestellten Fremd- und Selbstbilder der slawischsprachigen Bevölkerung zu untersuchen. Auf diese Weise soll Mühles Untersuchung zeigen, dass das Bild einer „slawischen“ Gemeinschaft bereits im Mittelalter als kulturelles Konstrukt entworfen und in einem Abstraktionsprozess für politische Zwecke generalisiert und instrumentalisiert worden sei.

Um diesen Abstraktionsprozess zu verdeutlichen, baut Mühle sein Werk chronologisch auf und beginnt mit der Untersuchung der ersten Erwähnungen des Slawen-Namens in den byzantinischen, lateinischen und orientalischen Quellen des frühen Mittelalters (S. 47–81). Dabei stellt er fest, dass der Slawen-Name, der von den byzantinischen Chronisten des 6. Jahrhunderts der Selbstbezeichnung einer überschaubaren in das byzantinische Reich einfallenden Personengruppe entnommen worden sei, fortan auch auf andere fremde Personengruppen übertragen worden sei, und zwar hauptsächlich abwertend (vgl. S. 52f.). Mit der Übertragung dieser Abstraktion auf das östliche Mitteleuropa habe der Slawen-Begriff Eingang in die lateinischen Quellen gefunden und sei von den Zeitgenossen mit der sprachlichen Ähnlichkeit der fremden Bevölkerungsgruppen in Verbindung gebracht worden.

Da der Slawen-Name bereits im frühen Mittelalter vorwiegend zur Abgrenzung der eigenen Bevölkerung gegenüber den heidnischen, „wilden“ östlichen Nachbarn gebraucht worden sei (vgl. S. 53), habe er sich schnell zu einem Negativstereotyp entwickelt, das innenpolitisch habe instrumentalisiert werden können. „Sclavi“, so Mühle, „war in dieser Wahrnehmung ein Synonym für barbari“ (S. 440). Der Gebrauch des Slawen-Namens in den unterschiedlichen Quellenkontexten verleitet Mühle schließlich zu dem Schluss, dass es sich bei dem frühmittelalterlichen Slawen-Namen um eine Abstraktion handele, die vorwiegend von externen Beobachtern zur Abgrenzung der eigenen Bevölkerungsgruppe gebraucht worden sei. Dafür spricht Mühle zufolge auch die Tatsache, dass die einzelnen slawischsprachigen Bevölkerungsgruppen in den Quellen des 8. und 9. Jahrhunderts vermehrt mit ihrem individuellen Namen bezeichnet würden (vgl. S. 63–76). Vor diesem Hintergrund sei die sprachliche Verwandtschaft der mittelalterlichen „Slawen“ und die Tatsache, dass sie von außen als fremd und barbarisch wahrgenommen worden seien, die einzige Gemeinsamkeit dieser heterogenen Menschengruppen. Selbst die archäologischen Befunde ließen, so Mühle, keine Rückschlüsse auf eine gemeinsame frühslawische Kultur oder eine slawische Identität zu, da sie kaum Einblicke in das Selbstverständnis der mittelalterlichen Personengruppen eröffnen würden, und viel mehr das Resultat bestimmter äußerer Umstände seien (siehe das Kapitel „Frühslawische Lebenswelten“, S. 83–133).

Stattdessen hätten die slawischsprachigen Völker des 9. bis 13. Jahrhunderts ihre eigene Kultur und ihre eigene nationale Identität ausgebildet. Mühles ausführliche und quellennahe Untersuchung der Geschichte der slawischsprachigen Bevölkerungsgruppen mit erfolgreicher, abgebrochener oder ausgebliebener Nationswerdung zeigt deutlich, dass politisch-soziale Konzepte und religiöse Vorstellung entscheidend für die Entwicklung ihres Selbstverständnisses waren (siehe die Kapitel „Die Slawen im Prozess der Nationswerdung“, S. 171–296, und „Abgebrochene Reichsbildungen und ausgebliebene Nationswerdungen“, S. 297–346). Zudem habe keine slawischsprachige Bevölkerungsgruppe, die unabhängig von dem Erfolg ihrer Herrschaftsbildung zu einem mittelalterlichen natio-Verständnis gelangte, ihr Selbstverständnis an diesen Slawen-Namen gekoppelt. Indem Mühle die Entwicklungen der unterschiedlichen slawischsprachigen Bevölkerungsgruppen nachzeichnet, kommt er zu dem Ergebnis, dass im Prozess der Nationswerdung nicht eine auf der Sprachverwandtschaft basierende gemeinsame slawische Identität, sondern die Abgrenzung zu anderen slawischsprachigen Reichen ausschlaggebend gewesen sei: „Ein umfassendes, alle Slawischsprechenden erfassendes Wir-Gefühl hat es im Mittelalter zu keinem Zeitpunkt gegeben“ (S. 443).

Dementsprechend habe sich das Bewusstsein einer Gemeinschaft einzelner oder mehrerer slawischsprachiger Völker im Mittelalter auch nicht von selbst herausgebildet, sondern sei auch hier erst nachträglich entstanden (siehe das Kapitel „Ideen von slawischer Gemeinschaft im späten Mittelalter“, S. 381–436). Anhand gezielt ausgewählter Quellenbeispiele kann Mühle schließlich zeigen, dass die Idee einer „slawischen“ Gemeinschaft im späten Mittelalter in höherem Auftrag und unter geschichtspolitischen Motiven von mittelalterlichen Gelehrten als Fiktion entworfen worden sei, und zwar meist mit dem Verweis auf eine weit zurückreichende Vergangenheit. Diesen Schluss fasst Mühle in seinem Epilog über die Erfindung der Slawen im Mittelalter zusammen (S. 437–445) und kommt nach einer Zusammenfassung der Erkenntnisse seiner einzelnen Kapitel zu dem Schluss: „‚Die Slawen‘ waren mithin auch im Mittelalter in erster Linie eine imagined community, eine ‚erfundene Gemeinschaft‘, die von Zeit zu Zeit in bestimmten Situationen primär – wenn auch wohl nicht ausschließlich – zu legitimatorischen Zwecken inszeniert und instrumentalisiert worden ist.“ (Herv. im Orig., S. 445).

Nach der anschließenden Danksagung des Verfassers (S. 447–448) endet das Werk mit einem Abkürzungsverzeichnis (S. 449–450), einem Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 451–471), dem angehängten Kartenmaterial (S. 472–476) und einem umfangreichen Register (S. 447–503).

Insgesamt schafft es Mühle in seinem Werk, die der modernen Slawenidee zugrundeliegenden Vorstellungen von den realen historischen Strukturen des Mittelalters zu trennen und einen neuen, längst überfälligen Blick auf die Slawen im Mittelalter zu bieten. Damit schreibt Mühle die Geschichte der Slawen zwar nicht völlig neu – jedenfalls nicht, was die historischen Ereignisse und Zusammenhänge betrifft. Stattdessen gelingt es ihm, eine neue Perspektive für die Slawen des Mittelalters als kulturelles Konstrukt der mittelalterlichen Geschichtsschreibung zu entwerfen, indem er die unterschiedlichen Fremd- und Selbstbilder untersucht und gleichzeitig verdeutlicht, auf welche Weise die Slawenidee im Laufe von Abstraktions- und Generalisierungsprozessen bereits im Mittelalter zu einem Mittel geschichtspolitischer Instrumentalisierung werden konnte. Mit seinem weiten Blick auf eine Vielzahl slawischsprachiger Bevölkerungsgruppen und den zahlreichen unterschiedlichen Quellenbezügen stellt das umfassende Werk Mühles eine Bereicherung zu den bereits erschienenen Untersuchungen des Münsteraner Historikers dar.

Obgleich es Mühle in seinem Werk mehr darum geht, die mittelalterliche Slawenidee vor dem Hintergrund der historischen Wirklichkeit zu problematisieren und weniger den Begriff an sich zu kritisieren, stellt sich dennoch die Frage, ob der Slawenbegriff für die Bezeichnung slawischsprachiger Bevölkerungsgruppen noch zeitgenössisch ist und ob ausgehend von den Erkenntnissen Mühles dann überhaupt noch von den „Slawen“ oder „slawisch“ gesprochen werden darf. Doch auch wenn der Slawenbegriff aus den heutigen kulturpolitischen Diskursen und der modernen geschichtswissenschaftlichen Forschung aufgrund seiner Konvention nicht wegzudenken ist, so ist es dennoch wichtig – wenn nicht sogar umso wichtiger – die von Mühle dargestellten Thesen zur Genese der slawischen Idee im Mittelalter und der Neuzeit zu berücksichtigen, wenn von „Slawen“ oder „Slawentum“ die Rede ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B.: Florin Curta, The Making of the Slavs. History and Archaeology of the Lower Danube Region, c. 500–700, Cambridge 2001; Roman Heck, Poczucie wspólnoty słowiańskiej w czesko-polskich stosunkach politycznych w średniowieczu, in: Z polskich studiów slawistycznych. Seria 3: Historia. Prace na VI międzynarodowy kongres slawistów w Pradze 1968, Warschau 1968, S. 281–304; Jaromir Mikulka, Zur Frage nach Kaiser Karls IV. ‘Slawentum’ und zum ‘slawischen’ Programm seiner Politik, in: Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus 4 (1980), S, 173–185; Monika Saczyńska, Czy istnieli Słowianie w późnym średniowieczu? Uwagi na podstawie lektury Roczników Jana Długosza, in: Słowianie – idea, S. 71–105.
2 In Ansätzen aber bereits von Mühle selbst vorgestellt in seinem populärwissenschaftlichen Überblickswerk aus der Beck’schen Reihe und einer 50-seitige Manuskriptabfassung. Siehe Eduard Mühle, Die Slawen (C. H. Beck Wissen 2872), München 2017; Eduard Mühle, Die Slaven im Mittelalter (Das mittelalterliche Jahrtausend 4), Berlin 2016.

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