Cover
Titel
Imperium ante portas. Die deutsche Expansion in Mittel- und Osteuropa zwischen Weltpolitik und Lebensraum (1914—1918)


Autor(en)
Klare, Kai-Achim
Reihe
Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 27
Erschienen
Wiesbaden 2020: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
588 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Lehnstaedt, Lander Institute, Touro College Berlin

Ober Ost, das deutsch besetzte Baltikum des Ersten Weltkriegs, übt seit einigen Jahren eine gewisse Faszination auf HistorikerInnen insbesondere im angloamerikanischen Raum aus. Es steht mindestens seit einer Studie von Vejas Liulevicius1 im Verdacht, eine Art Vorbild für die deutsche Herrschaft im Osten nach 1939 gewesen zu sein. Es gilt aber auch als kontinental-koloniales Experimentierfeld für allerlei großgermanische Bestrebungen jenseits von Afrika. Außerdem wurden die Deutungen Liulevicius‘ von der Forschung dafür verwendet, um die genozidalen Dystopien des Nationalsozialismus in längere Kontinuitätslinien einzubetten, wobei Ober Ost als Brücke vom Völkermord an den Herero zum Holocaust interpretiert wurde.2

Mit seiner 2018 bei Dietmar Neutatz in Freiburg eingereichten Dissertation hinterfragt Kai-Achim Klare solche Interpretationen, die vorgeben eine Art „missing link“ des deutschen Sonderwegs gefunden zu haben. Sein Befund ist eindeutig: Sowohl die Planungen für das deutsche Imperium als auch deren Umsetzungsversuche waren viel zu widersprüchlich, um als Beleg für solche Thesen dienen zu können. Dass diese Antwort so überzeugend ausfällt, liegt auch an der großen Anzahl an Quellen, die hier in aller Gründlichkeit geprüft werden – die allermeisten davon sind bekannt, das Entscheidende ist die Vollständigkeit der Betrachtung, denn Klare hat nicht nur die Akten der Berliner Zentrale, sondern auch diejenigen der Besatzer vor Ort eingesehen.

Tatsächlich ist dies eine Vorgehensweise, die bislang viel zu selten gewählt wurde. Dazu kommt eine umfassende Evaluation der Literatur, wobei allerdings der Verzicht auf osteuropäische Studien auffällt. Das ist bedauerlich, weil es beispielsweise in Polen sehr wohl eine substantielle Beschäftigung mit dem deutschen „Drang nach Osten“ gibt. Außerdem bleibt bei diesem Zugriff die Perspektive der Einheimischen unberücksichtigt, was gerade im Sinne von gegenseitigen Einflussnahmen von Bedeutung gewesen wäre: Imperiale Logiken rufen entsprechende Reaktionen hervor, weil sich letztlich sowohl Gegner als auch Befürworter eines derartigen Projekts dazu positionieren müssen. In diesem Sinne ist die vorliegende Untersuchung methodisch konservativ und ignoriert weitgehend das avancierte Instrumentarium der Imperialismus- und (Post-)kolonialismusforschung.

Bedauerlich ist auch, dass die „Jubiläumswelle“ zum Ersten Weltkrieg, die zwischen 2014 und 2018 den Büchermarkt überschwemmte, in weiten Teilen keine Berücksichtigung findet bzw. nur für randständige Aspekte herangezogen wird, während die eigentliche, tiefschürfende Auseinandersetzung vorwiegend mit älterer Literatur stattfindet. Zumindest in dieser Hinsicht darf als Entschuldigung gelten, dass Klare mit seiner Promotion bereits 2009 begann und sie seit 2014 nur noch nebenberuflich fortführen konnte, weil er Bürgermeister der badischen Gemeinde Rust wurde. So ist das Werk zwar durchaus substantiell, aber leider partiell etwas veraltet.

In vielerlei Hinsicht versucht sich Klare als eine Art Schiedsrichter, der die wissenschaftlichen Streitigkeiten über Ober Ost anhand einer umfassenden Quellen-Neulektüre entscheiden möchte. Freilich bleibt ein konzeptionelles Problem, wenn es um die Frage nach dem Vorbildcharakter von Ober Ost für die spätere NS-Besatzungspolitik geht: Warum sollen gerade dort Kontinuitätslinien entspringen, nicht aber von den Okkupationen etwa in Polen, der Ukraine, in Rumänien oder in Belgien, oder auch, wenn man an das Großdeutsche Reich Hitlers denkt, auf dem k.u.k.-besetzten Balkan? Klare vermeidet zwar konsequent den Fehler, seine Analyse gewissermaßen rückwärtsgerichtet, also von 1945 her denkend, durchzuführen, und auch sein Ausgangspunkt 1914 ist logisch konsequent gewählt. Doch betrachtet er die genannten deutschen Eroberungen stets nur als Wege nach Ober Ost, wo die Fremdherrschaft des Kaiserreichs quasi ihre Vollendung gefunden habe. Mögliche Entwicklungen und Transfers interessieren ihn also nur von dort aus; die Erklärungsbedürftigkeit eventueller Brüche vor dem Hintergrund anderer Besatzungsgebiete beschäftigt ihn nicht.

Jedoch dauerten auch diese Okkupationen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs an und stellten Einsatzgebiete für weitaus mehr deutsche (und österreichische) Männer dar. Zusätzlich stellte das vergleichsweise kleine Ober Ost – unter den deutschen, nicht aber den habsburgischen Besatzungsregimen – einen Sonderfall dar, weil es unter ausschließlicher Militärverwaltung stand. Gerade das aber stand einem etwaigen Vorbildcharakter für die späteren nationalsozialistischen Besatzungen entgegen, denn diese sollten nach Hitlers Willen explizit politisch sein und eben nicht einem – wenn auch nur propagierten – militärischen Technokratenideal folgen.

Jenseits dieses konzeptionellen Fragezeichens hat die Studie aber viele Vorzüge. Es ist ihr bleibendes Verdienst, die Politik vor Ort im Baltikum detailliert untersucht und dies kontrastierend den Berliner Debatten über ein künftiges deutsches Imperium nach einem siegreichen Krieg gegenübergestellt zu haben. Ganz konkret geht es um Politik und Verwaltungshandeln, viel weniger um die Ausdeutung von Wahrnehmungen des Ostens, die Liulevicius‘ Studie dominierten. So wird deutlich, dass die Art und Weise, wie das deutsche Imperium denn aussehen sollte, bis 1918 stets umstritten war: Es gab unterschiedliche Vorstellungen, aber eben auch widersprüchliche Handlungen – zu denken ist hier etwa an die mit zahlreichen jüdischen Journalisten und Literaten besetzte Presseabteilung von Ober Ost, die rassistischen und antisemitischen Vorstellungen diametral widersprach und dennoch so von Ludendorff installiert wurde.

Die völkische Richtung des Imperialismus konkurrierte in jenen Jahren mit einer konservativen Richtung, die im Wesentlichen auf den Erhalt des Status quo ohne Expansion abzielte, und einem liberalistischen, wirtschaftsfreundlichen Imperialismus, der „Mitteleuropa“ einer tatsächlichen Besiedelung des „Ostraums“ gegenüberstellte. In Brest-Litowsk wurde deutlich, dass alles auf ökonomische Dominanz hinauslief. Und so war das eigentliche Besatzungsregime zwar hart, wurde im Verlauf des Krieges aber tendenziell leichter, weil immer mehr Rücksichten genommen werden mussten – auf die Bedürfnisse der Wirtschaft, die auf die Ressourcen des Ostens angewiesen war bzw. darauf aufbauen sollte. An dieser Stelle ist das Defizit der einheimischen Perspektive besonders schmerzlich, zumal auch die westliche Befreiungspropaganda wirkmächtig war und gekontert werden musste.

Die größte Stärke hat das Buch dort, wo es die Handlungsdynamiken der Entscheider darstellt: In der Logik der Ostkolonisatoren im Militär war „Zivilisierung“ deshalb kontraproduktiv, weil sie den wirtschaftlichen Imperialismus gefördert und zugleich Lockerungen nach sich gezogen hätten. Allerdings ließen sich so nur bescheidene „Erfolge“ vermarkten – ein Kreislauf des politischen Misserfolgs, aus dem es damals keinen Ausweg gab. Auch das war für die Nationalsozialisten offensichtlich, weshalb sie sich derartigen Debatten von vornherein verweigerten. Ihr „Lebensraum“ konkurrierte nicht mit „Mitteleuropa“, weil die Ideologie keine Diskussionen zuließ.

Anmerkungen:
1 Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonialisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002.
2 Vgl. etwa Shelley Baranowski, Nazi empire. German colonialism and imperialism from Bismarck to Hitler, Cambridge 2011, S. 87ff; Jürgen Zimmerer, Die Geburt des „Ostlandes” aus dem Geiste des Kolonialismus. Die nationalsozialistische Eroberungs- und Beherrschungspolitik in (post-)kolonialer Perspektive, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für die historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts (2004) 1, S. 10–43.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension