E. Stephan: Honoratioren, Griechen, Polisbürger

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Titel
Honoratioren, Griechen, Polisbürger. Kollektive Identitäten innerhalb der Oberschicht des kaiserzeitlichen Kleinasien


Autor(en)
Stephan, Eckhard
Reihe
Hypomnemata 143
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Pietsch, Institut für Klassische Archäologie, Universität Wien

Personale und kollektive Identitäten sind zu einem zentralen Bestandteil der Gesellschaftswissenschaften geworden. Nahm der Begriff ursprünglich in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen seinen Ausgang, so hat er heute über die Kultur- und Sozialwissenschaften seinen Einzug auch in die historische Forschung und im speziellen in der Altertumsforschung gehalten. Dabei ist oftmals die begriffliche Klarheit und Schärfe auf der Strecke geblieben. Die römische Identität wird anhand von Fallstudien aus Spanien und Britannien untersucht,1 eine griechische Identität wird in Griechenland und Kleinasien im Gegensatz zur römischen Herrschaft konstruiert.2 Um so erfreulicher ist es, dass Stephan seiner Arbeit über kollektive Identitäten in Kleinasien einen theoretischen Unterbau voranstellt, in dem er das - oder besser gesagt - sein Konzept der kollektiven Identität erläutert. Die Arbeit, die aus einer im Jahr 2001 in Freiburg eingereichten Dissertation entstand, ist eingebunden in ein größeres Forschungsprojekt der DFG über das Wechselspiel zwischen römisch-imperialen und regionalen Identitäten im östlichen Imperium Romanum, wo sich besonders klar unterschiedliche Ausprägungen von Identitäten zeigen.

In der Traditionslinie von Maurice Halbwachs und Jan Assmann definiert Stephan die kollektive Identität einer Gruppe als Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, deren Selbstverständnis sich in Vorstellungen, Bildern, Denken und Handeln äußert. Identitäten sind jedoch keine unveränderlichen Gebilde, sondern wandeln sich im Laufe der Zeit; jeder Mensch erlebt und gestaltet unterschiedliche, sich verändernde Prioritätensetzungen in seinem Leben, so dass einige Kollektive wichtiger werden, andere wiederum an Bedeutung verlieren. Die persönliche Selbstdefinition entscheidet über die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv; dieser Bewusstseinsinhalt gehört in den Bereich der subjektiven Realität. Soziale Faktoren können jedoch den Ausschlag geben, welche Identitäten in einer gegebenen Situation möglich sind.

Kollektive Identitäten können daher nicht anhand objektiver Merkmale wie Sprache oder Lebensweise erfasst werden, sondern nur über das Bewusstsein der handelnden Personen. Hier entsteht für den Althistoriker eine methodische Einschränkung. Archäologische Daten alleine reichen nicht aus, um kollektive Identitäten zu erfassen. Ein Grabbau kann etwas über das Selbstverständnis des Auftraggebers aussagen, sicherer Boden ist jedoch nur durch eine schriftliche Selbstaussage zu gewinnen.

Stephan umreißt nun die geographischen und historischen Rahmenbedingungen seiner Untersuchung. Die römischen Provinzen auf kleinasiatischem Boden werden kurz vorgestellt, dann folgt ein Überblick über das römische Herrschaftssystem sowie Zoll- und Steuerwesen. Betont wird, dass der römische Apparat recht schlank gehalten war, dass sich ein direktes Wirken von Beamten und Militärpersonal auf die großen Städte und die Regionen entlang der überregionalen Verkehrsverbindungen beschränkte und thematisch Rechtssprechung sowie Fiskalwesen zum Inhalt hatte. Dies ließ den historischen Städten als selbständige Unterzentren genügend Freiraum zur Regelung der internen Organisation, d.h. die städtischen Strukturen und Stadtverfassungen blieben im Großen und Ganzen in der römischen Zeit erhalten und bildeten den Rahmen, innerhalb dessen die Honoratiorenschicht sich entfalten konnte. In der Definition des Begriffes der Honoratioren folgt Stephan Max Weber, nach dem der Honoratior für die Politik lebt, ohne von ihr leben zu müssen, da er seine Einkünfte aus Grund- und Viehbesitz sowie Sklavenarbeit bezieht. Dies trifft besonders gut auf die städtischen Oberschichten im griechischen Osten des Römischen Reiches zu, für die die Bekleidung eines städtischen Amtes keinen Ertrag brachte, sondern die Übernahme erheblicher Kosten.

Der Status dieser gesellschaftlichen Elite, ihre Macht und ihr Lebensstil fußten auf einem ständigen Wettstreit untereinander um Ansehen und Einfluss, der sich in demonstrativer Großzügigkeit, in der Finanzierung von Festen und in der Stiftung von Bauwerken manifestierte.

Im Folgenden untersucht Stephan das Inschriftenmaterial, also Bau-, Stiftungs- und Ehreninschriften, auf Selbstaussagen der Eliten hinsichtlich kollektiver Identitäten. Grundlegend sind die großen Stiftungsinschriften des Salutaris aus Ephesos (IvE Ia) und des Demosthenes aus dem lykischen Oinoanda,3 in denen die Stifter ihre Großzügigkeit entweder selbst betonen oder von anderen berühmen lassen. Daneben steht die große Zahl der Ehreninschriften, in denen eine Gruppe, häufig der Rat bzw. der Demos einer Stadt, einen Mitbürger für seine Verdienste ehrt. Aufgezählt werden die von dem Geehrten bekleideten Ämter, seine Aufwendungen, die im Zusammenhang mit seiner Funktion stehen, getätigte Spenden außerhalb seiner Funktion und seine aristokratische Abstammung. Diese Selbstsichten und Außensichten stellen das Bewertungsraster für die kollektive Identität als Mann von Rang, als angesehener Mitbürger, als Honoratior dar.

Stephan dehnt nun seine Untersuchung weiter auf größere Identitätsfelder aus. Betrachtet werden die Beziehungen der Honoratioren zu ihrer Heimatstadt, zu ihrer Region oder Provinz, ob sie sich als Griechen im Gegensatz zu Römern sehen, ob sie sich als Bürger des Imperium Romanum fühlen. Für den Bezug zur Heimatstadt fällt der Befund positiv aus, was aber nicht weiter überrascht, ist doch die Polis seit jeher im griechischen Osten der politische Rahmen für den Bürger gewesen. Dies ist nicht nur ein Phänomen der Oberschicht, sondern ist auch bei weniger Wohlhabenden zu beobachten. Entscheidend für die Ausformung kollektiver Polisidentität sind zweifellos das intensive Festwesen mit Agonen und Prozessionen sowie die Rangstreitigkeiten der Städte (Neokoriestreit) untereinander, in denen sich das Bild widerspiegelt, wie sich die Mitglieder der lokalen Elite ihre Stadt vorstellen.

Weniger überzeugend gelingt Stephan die Herausarbeitung einer regionalen Identität auf Provinzebene, was jedoch sicherlich an dem geringen Belegmaterial liegt. Hingegen sind die Belege für eine kollektive griechische Identität wieder zahlreicher, was auf die Bewegung der Zweiten Sophistik zurückzuführen ist, die einer Renaissance des Griechentums und griechischer Traditionen das Wort redete. In Bezug auf den Kaiserkult, der im Osten eine überwiegend griechische Ausprägung im Festablauf und im Zeremoniell erhielt, auch wenn das römische Phänomen der Gladiatorenspiele eingebaut wurde, ehren die kleinasiatischen Provinzialen ihre Kaiser als Griechen, jedoch ohne römerfeindliche Einstellung und ohne "kulturellen Widerstand". In Ablehnung der These von Rogers,4 dass die Salutaris-Prozession mit ihrer starken Betonung des Griechentums einer Identitätskrise durch die "bauliche Überfremdung" von Ephesos durch zahlreiche römische Neubauten gegensteuern sollte, stellt Stephan den modernen identitätstheoretischen Ansatz der multiplen kollektiven Identitäten entgegen: Unterschiedliche Kriterien für die Identitätsfindung lassen mehrere Möglichkeiten offen, im staatlich-administrativen Bereich wird das Imperium betont, im Bildungsbetrieb, in der Literatur und Religion herrscht die kollektive Identität als Grieche vor, in der Polis selbst dominiert der Statuskampf innerhalb der Oberschicht.

Das folgende Kapitel stellt gewissermaßen den Kontrapunkt zum vorangegangenen dar: Anhand des Gegensatzes zwischen Land und Stadt demonstriert Stephan die räumlichen Grenzen des Konzeptes von Polispatriotismus und Griechentum. Dieses Kapitel gibt einen guten Überblick über die religiöse Einstellung, die intensive Verehrung von Ernte- und Wettergottheiten, die rechtliche Stellung und Sprache der Landbevölkerung. Die Zeugnisse für eine mögliche kollektive Identität der Landbevölkerung sind spärlich, zu ihnen gehören Beichtstelen, Weihe- und Grabinschriften. Es lässt sich jedoch feststellen, dass die Nennung des Heimatortes auch auf dem Lande wichtig ist.

Dass ein Gefüge mehrerer kollektiver Identitäten nicht automatisch zu einem Fehlen von Konflikten führt, zeigt das letzte Kapitel über die Christen in Kleinasien. Die Kluft zwischen Christen und paganen Kultanhängern ist ausgeprägt. Kleinasien gehörte vermutlich in vorkonstantinischer Zeit zu den am stärksten christianisierten Regionen des Imperium Romanum, auch wenn epigraphische Spuren aus der Zeit vor Konstantin zum Beispiel in Smyrna und Ephesos, wo literarisch Christengemeinden belegt sind, bisher fehlen. Stephan berücksichtigt hier übrigens nicht den neuesten Forschungsstand zu Ephesos, so fehlen insbesondere die Arbeiten von Pillinger.5 Da die Polisidentität eng mit der jeweiligen Hauptgottheit der Stadt verknüpft war, stellte der christliche Monotheismus die Christen außerhalb der städtischen Gemeinde. Daraus ist die starke Selbstabgrenzung der Christen hervorgegangen. Die daher entstehenden Spannungen entluden sich in Pogromen, wie sie in den Märtyrerakten beschrieben werden. Dieser Konflikt zeigt die Grenzen der Integrationsfähigkeit der Polisgesellschaft und ihrer Identitäten. Grundvoraussetzung dafür war die Akzeptanz der geltenden religiösen Normen.

Stephan gelingt mit diesem Buch ein im Großen und Ganzen scharfer Blick in ein schwieriges Unterfangen der Alten Geschichte, da das Aufspüren von Identitäten und Mentalitäten auch bei weitaus besserer Quellenlage bereits mit methodischen Hürden verbunden ist. An dieser Stelle soll ein in der Forschung bisher umstrittene Herangehensweise an die Quellen angesprochen werden. Es ist sicherlich selbstverständlich, dass alle Quellen, seien sie epigraphisch, numismatisch, archäologisch oder literarisch, heranzuziehen sind, aber können sie auf dieselbe Art befragt werden? Wenn es um ernsthafte politische Konflikte geht, werden Ehren- und Stiftungsinschriften wahrscheinlich wenig Aussagekraft besitzen. Auch Stephan zieht die Schriften von Dion von Prusa und Aelius Aristides in seiner Untersuchung heran, schwächt jedoch die dort sichtbar werdenden Konflikte zwischen griechischer Bevölkerung und römischer Autorität als rhetorische Übertreibung ab. Es sollte hier sicher keine griechische Resistenz gegen das Imperium Romanum konstruiert werden, sondern nur betont sein, dass die griechische Einstellung nicht nur als monolithisch zu sehen ist.

P. Veyne betont die hohen Kosten des Euergetismus, die im Statuskampf der Honoratioren zu tragen waren, und führt einige Beispiele für Weigerungen an, diese Kosten zu übernehmen.6 Es scheint jedoch nicht so zu sein, dass diese Personen sich damit aus dem Kreis der Honoratioren ausschließen. Ist demnach ein Konzept der kollektiven Identität der Polisbürger, das ausschließlich auf dem Statuskampf durch Euergesien beruht, noch zu halten?

Vermisst hat der Rezensent, gleichsam als eine Nagelprobe für das Identitätskonzept von Stephan, ein Eingehen auf den umfangreichen Stand der kaiserlichen Freigelassenen, die im griechischen Osten als kaiserliche Beamte wirkten und oftmals den sozialen Aufstieg schafften. Gerade Ephesos bietet hier viele Beispiele: Bereits in frühaugusteischer Zeit spielen kaiserliche Freigelassene und der conventus civium Romanorum eine wichtige Rolle in der Stadtverwaltung. So übernahm z.B. C. Iulius Aug. lib. Nikephoros die Prytanie auf Lebenszeit7, ein C. Iulius Atticus, wohl ein kaiserlicher Freigelassener oder der Sohn eines solchen, wird Priester der Artemis.8 Wie hätten es die beiden kaiserlichen Freigelassenen Mazaeus und Mithridates geschafft, der Stadt ein prächtiges Markttor zu schenken, das sie dem Augustus und dem Demos von Ephesos weihten und das ihnen möglicherweise zusätzlich als Grabstätte inmitten der Stadt, also an einem Ehrenplatz diente, wenn sie nicht in die Polisorganisation integriert gewesen wären? Wie ist das Nebeneinander von alteingesessenen Bürgern und Peregrinen, die Zunahme an römischen Bürgern in den Kuretenlisten zu erklären? Hier fehlt übrigens die grundlegende Literatur zu den Kuretenlisten von Ephesos.9 Wie ist es um den conventus c.R. quei Ephesi negotiantur bestellt, der oftmals als eigenständige Körperschaft agiert?10 Bleiben diese Gruppen unter sich? Wie reagiert die alteingesessene Honoratiorenschicht auf diese beiden sozialen Gruppen?

Wenn wir einen kurzen Blick über das von Stephan gewählte Untersuchungsgebiet von Kleinasien nach Griechenland werfen, so sehen wir z.B. im römischen Athen, dass Zuwanderer aus Ionien, aus der Stadt Milet, in ihren Grabinschriften ihre Herkunft betonten und so ihre kollektive Identität bewahrten. In den römischen Kolonien Korinth und Patras setzte sich hingegen die Führungsschicht fast zur Gänze aus den Nachkommen römischer Veteranen, Kaufleuten und anderen Ansiedlern zusammen, lediglich in Korinth scheint es aufgrund seiner Zentralortfunktion einige wenige griechische Honoratioren gegeben zu haben.11

In Zeiten der Gender Studies wäre auch die Einbeziehung weiblicher Amtsträger möglich gewesen, ist doch spätestens seit Friesen 12 klar, dass Oberpriesterinnen nicht die Gattinnen von Oberpriestern, sondern eigenständige Priesterinnen sind. Gerade ab dem 1. Jahrhundert n.Chr. übernehmen in Ephesos viele Frauen bisher Männern vorbehaltene Ämter. Ebenso ist die Arbeit von Schulte über die Grammateis von Ephesos zu vermissen,13 die sich eingehend mit der Sozialstruktur und dem Amtswesen in Ephesos beschäftigt.

Die vorgebrachten Kritikpunkte sollen jedoch nicht den Wert dieser Arbeit schmälern, sondern Ideen, die als Reflexion auf die vorliegende Arbeit entstanden sind, zur weiteren Verfolgung bringen. Was das Buch jedenfalls nicht verdient hat, ist die ärgerlich große Zahl an zum Teil sinnentstellenden Druckfehlern, die nur den Rückschluss auf das Fehlen jedes Lektorats zulassen.

Anmerkungen:
1 Revell, L., Exploring Roman identities: case studies from Spain and Britain in second century AD, Diss. Southampton 2000.
2 Veyne, P., L'identité Grecque devant Rome et l'Empereur, Revue des Études Grecques 112 (1999), S. 510-567.
3 Vgl. Wörrle, M., Stadt und Fest im kaiserzeitlichen Kleinasien (Vestigia 39), München 1988.
4 Rogers, G. MacLean, The Sacred Identity of Ephesos. Foundation myths of a Roman city, London 1991, S. 142.
5 Pillinger, R., Ephesos under Christian influence, Berkeley 1999; Pillinger, R. u.a. (Hgg.), Efeso Paleocristiana e Bizantina - Frühchristliches und byzantinisches Ephesos (Archäologische Forschungen 3), Wien 1999.
6 Veyne, P., Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, München 1994, S. 257f.
7 IvE III 859.
8 IvE IV 3006.
9 Knibbe, D., Die Inschriften des Prytaneions. Die Kureteninschriften und sonstige religiöse Texte (Forschungen in Ephesos IX/1/1), Wien 1981.
10 Z.B. IvE 658; ÖJh 59,1989 Beibl. 235 Nr. 2.
11 Vgl. Rizakis, A. D., La constitution des élites municipales dans les colonies romaines de la province d'Achaïe, in: Salomies, O. (Hg.), The Greek East in the Roman Context, Helsinki 2001, S. 37-49.
12 Friesen, St. J., Twice Neokoros. Ephesus, Asia and the cult of the Flavian imperial family, Leiden 1993.
13 Schulte, C., Die Grammateis von Ephesos. Schreiberamt und Sozialstruktur in einer Provinzhauptstadt des römischen Kaiserreiches, Stuttgart 1994.

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