Titel
Horizontal Learning in the High Middle Ages. Peer-to-Peer Knowledge Transfer in Religious Communities


Herausgeber
Micol Long, Tjamke Snijders, Steven Vanderputten
Reihe
Knowledge Communities
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 99.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sophie Caflisch, Interfakultäre Forschungskooperation "Religious Conflicts and Coping Strategies", Universität Bern

Der vorliegende Sammelband ist das Resultat einer Konferenz, die im September 2016 an der Royal Academy for Science and the Arts of Belgium in Brüssel ausgerichtet und von einem Forschungsteam der Universität Gent organisiert wurde. Die Publikation trägt zu einem neuen Verständnis der Geschichte des mittelalterlichen Lernens bei, das neben der Text- und Institutionengeschichte und der Geschichte großer Lehrer und Schüler insbesondere die anthropologischen, epistemologischen und sozialen Aspekte des Lernens und Lehrens berücksichtigt. Statt einer „history of learning“ wird eine „cultural history of knowledge transmission” angestrebt, wie Sita Steckel in ihren zusammenfassenden Bemerkungen ausführt (S. 236). Der thematische Schwerpunkt liegt auf den Bildungsprozessen in monastischen und sonstigen religiösen Gemeinschaften im 12. Jahrhundert, immer wieder wird aber auch bis ins Früh- und Spätmittelalter ausgegriffen. Der Band enthält zwei einleitende Beiträge der Herausgeber, neun Einzelstudien, eine ausführliche Zusammenfassung, eine Gesamtbibliografie und einen sehr übersichtlichen und nützlichen Index.

Für den Ansatz des Bandes grundlegend sind Konzepte einer durch Wissensaustausch konstituierten Gemeinschaft. In ihrem einleitenden Aufsatz (S. 17–47) widmet Tjamke Snijders der community in diesem Sinn eine durchdachte Tour d’Horizon durch anthropologische und philosophische Ansätze, die von Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes bis zu Max Weber, Thomas Kuhn, Michel Foucault, Clifford Geertz und Yuval Harari reicht (S. 20–40). Als Ausgangspunkt für eine Neuevaluation des Lernens in mittelalterlichen religiösen Gemeinschaften schlägt Snijders schließlich das Konzept der community of practice vor, wie es die Anthropologen Jean Lave und Etienne Wenger in den 1990er-Jahren entwickelt haben.1 Eine community of practice wird definiert als Gemeinschaft von Personen, die ähnlichen Aufgaben (joint enterprise) gegenüberstehen und voneinander für die Bewältigung dieser Aufgaben lernen wollen (shared repertoire, mutual engagement; Schema S. 41). Charakteristisch für eine community of practice ist, dass ihre Mitglieder ständig wechseln, gleichzeitig zu mehreren communities gehören können und dass der praktische Austausch von Wissen für sie konstituierend ist. Eine formale Struktur, tatsächliches Zusammenleben oder ein ideeller Konsens der Mitglieder sind zwar möglich, aber überhaupt nicht notwendig. Dieser Austausch von Wissen kann durch Erzählen, beim gemeinsamen Arbeiten oder Spielen oder aber durch mediale Kommunikation erfolgen. Für mittelalterliche Ordensleute waren Briefe, wie Babette Hellemans ausführt (S. 185–205), ein sehr flexibles Medium des Austausches von Wissen, da sie ohne Weiteres zwischen Ordensmitgliedern von gleichem oder verschiedenem Stand sowie von Männern und Frauen ausgetauscht werden konnten (S. 187–188). Briefe sind demnach eine besonders wichtige Quelle für die vorliegenden Untersuchungen und ihre weite Verbreitung ab dem 12. Jahrhundert ist ein einleuchtender Grund für den zeitlichen Schwerpunkt des Bandes.

Die bewusst offene Ausgangslage führt Beiträge zu sehr verschiedenen Themenfeldern zusammen. Micol Long untersucht den Austausch von Briefen als Anregung und Hilfe zu spirituellem Wachstum. Sie weist darauf hin, dass diese Briefwechsel vorwiegend unter Mitgliedern der Eliten der Klöster stattfanden, während die Unterweisung der Novizen einem Schulmeister oblag und wohl eine eher „vertikale“ Ausprägung hatte (S. 47–63). In einem ähnlichen Feld bewegt sich Cédric Giraud, der anhand der Meditationes des Pseudo-Bernhard von Clairvaux und anhand des Werks De spirituali amicitia, verfasst von Aelred von Rielvaux, die Bedeutung der Freundschaft für die gegenseitige Unterstützung der Ordensmitglieder beim spirituellen Wachstum erörtert (S. 65–80). Jay Diehl beschäftigt sich mit dem tugendethischen Postulat der Wahrheitsliebe als Grundlage der Vertrauensbildung unter den Mitgliedern zweier monastischer Gemeinschaften in Lüttich und Lille und fasst diese Vertrauensbildung als Methode des horizontal learning auf (S. 81–110). Marc Saurette diskutiert den Akt des Erzählens der Wundergeschichten des Petrus Venerabilis unter dem Gesichtspunkt des horizontalen Lernens und interpretiert dieses als Praxis der moralischen Erbauung der Mönche in Cluny. Er legt dabei besonderes Augenmerk auf die räumlichen Kontexte, in denen dieser Austausch stattfinden konnte (S. 111–140). Ein kunsthistorischer Beitrag kommt von Karl Patrick Kinsella, der die Gemma animae des Honorius Augustodunensis als Instruktion für die Mönche deutet, den Kirchenbau gemeinsam für theologisches Lernen zu nutzen (S. 141–161). C. Stephen Jaeger zeichnet anhand eines wenig beachteten Gedichts von Hermann von der Reichenau (De octo vitiis) eine geschlechterübergreifende und dem Scherzen zugeneigte Lernsituation nach. Hermann, zwei fiktive Nonnen und die Muse Melpomene liefern sich einen dramatischen Dialog voller scherzhafter Anspielungen (S. 163–184). Es ist fraglich, ob eine solche Lernsituation tatsächlich als horizontal learning im Sinne des Bandes aufgefasst werden kann, auch wenn die involvierten Nonnen, wie es das Gedicht nahelegt, vergnügt mit Hermann stritten (S. 180). Gerade dadurch, dass Hermann und seine Schülerinnen nicht zu derselben community gehörten und wohl auch kein shared enterprise hatten, ist eher von einem möglicherweise besonders guten, aber ansonsten üblichen hierarchischen Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis auszugehen. Nicolangelo d’Acunto analysiert den Wissenstransfer unter Peers auf der höchsten Ebene, indem er anhand der Casus Sancti Galli zeigt, wie im Kloster St. Gallen eine aristokratische Elite ihren Nachwuchs für die Aufgaben an der Spitze des Konvents ausbildete (S. 207–216). Dabei gelingt es ihm sehr gut, die Verquickung von Wissenstransfer und persönlichen Beziehungen aufzuzeigen.

Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Neslihan Şenocak (S. 217–234), der es gelingt, das horizontale Lernen der Klerikergemeinschaften der italienischen Pievi sehr anschaulich nachzuzeichnen. Eine Pieve (von lat. plebs) war eine mit besonderen Rechten ausgestattete Pfarrkirche für die Landbevölkerung, wo in den meisten Fällen eine Gruppe von Klerikern relativ informell zusammenlebte. Diese teilten schlicht einen gemeinsamen Ort und einen gemeinsamen Tagesablauf. Überzeugend zeigt Şenocak, dass praktisches Wissen, das für die Liturgie und den Betrieb einer solchen Pieve diente, im Zusammenleben der jungen mit den erfahrenen Klerikern weitergegeben und eingeübt wurde. Sie beobachtet, dass die Bildungspraxis der Pievi sich auflöste, als sich im 13. Jahrhundert die Schulen der Bettelorden und die Universitäten etabliert hatten und theologisches und liturgisches Wissen in systematisierter und somit im Sinne des Bandes vertikaler Weise vermittelten. Auch dieses Nachdenken über die Relation von institutionalisiertem und „horizontalem“ Lernen zeichnet den Beitrag aus.

Auf eine enge Definition des titelgebenden horizontalen Lernens wird im Band bewusst verzichtet. Dies fördert die Erschließung verschiedener Aspekte des neuen Forschungsfeldes, führt aber auch zu einer gewissen Beliebigkeit in der Themenwahl. Verwirrend ist auch, dass die Metapher des horizontalen und vertikalen Lernens in der naturwissenschaftlich orientierten Lernforschung anders verwendet wird. In diesem Zusammenhang wird systematisiertes und somit bewusst auf andere Kontexte anwendbares Lernen als „horizontal learning“ bezeichnet.2 Für die meisten Beiträge hätte man sich einigen können auf eine Definition des horizontalen Lernens als Wissenstransfer unter gleichgestellten Mitgliedern einer Gemeinschaft und den informellen Charakter dieses Transfers. Informell hätte dann bedeutet, dass zwischen den am Austausch beteiligten kein formalisiertes Lehrer-Schüler-Verhältnis besteht. Bedauerlicherweise fehlen, abgesehen von einigen wenigen Randbemerkungen, auch Überlegungen zur Koexistenz und Interaktion von schulischem „vertikalem“ und informellem „horizontalem“ Lernen. Mit Blick auf die zitierte anthropologische Forschung wäre es naheliegend, nicht den horizontalen Wissensaustausch als Spezialfall zu betrachten, sondern das institutionalisierte, schulische „vertikale“ Lehren und Lernen. Dies wurde zwar bisher in der mittelalterlichen Bildungsforschung oft nicht so gehandhabt, könnte aber die Leistung und die neuen Erkenntnisse des vorliegenden Bandes akzentuieren. In Zukunft wäre es wünschenswert, den neuen Ansatz des "horizontal learning" genauer zu umreissen und auch auf höfische und städtische Kontexte des mittelalterlichen Lernens anzuwenden.

Anmerkungen:
1 Jean Lave / Etienne Wenger, Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation, Cambridge 1991; Etienne Wenger, Communities of Practice. Learning, Meaning, and Identity, Cambridge 1998.
2 Theresa S. S. Schilhab, Vertical and Horizontal Learning – Some Characteristics of Implicit and Explicit Learning, in: Evolution and Cognition 9:2 (2003), S. 1–7.

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