S. Eastoe: Idiocy, Imbecility and Insanity in Victorian Society

Cover
Titel
Idiocy, Imbecility and Insanity in Victorian Society. Caterham Asylum, 1867–1911


Autor(en)
Eastoe, Stef
Erschienen
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jona Garz, Institut für Erziehungsswissenschaft, Universität Zürich

Während die Disability Histories im deutschsprachigen Raum nach wie vor ein eher überschaubares Feld (bildungs-)historischer Forschung sind, konnten sie sich im englischsprachigen Raum im letzten Jahrzehnt als eigenes Forschungsfeld etablieren. Zahlreiche Studien zur Geschichte von Be:hinderung, auch geistig-mentaler Be:hinderung, sind im englischsprachigen Raum entstanden, die Mehrzahl jedoch beschäftigt sich mit Kindern, nicht zuletzt in Bezug auf Beschulung.1 Die Geschichte Erwachsener mit sogenannten geistigen Behinderungen ist eine Leerstelle, die Stef Eastoe mit ihrer Untersuchung zur Geschichte der Behandlung, Unterbringung und Diagnostik erwachsener Menschen mit Intelligenzminderungen zu verkleinern sucht.

Anhand der Geschichte des Caterham Asylums, einer Anstalt für Erwachsene mit chronisch psychischer Krankheit (sogenannte Idioten und Imbezille), die 1870 als durch die Stadt London finanzierte Spezialanstalt eröffnet wurde, lotet Eastoe die vielschichtigen Bedeutungen einer sogenannten Idiotenanstalt aus – sowohl im Hinblick auf die Armenfürsorge der Stadt als auch für die Patient:innen und ihre Familien. Caterham Asylum, so die zentrale These des Buches, lässt sich nur verstehen als das, was von Michel Foucault als „Heterotopie“ bezeichnet wurde: ein Ort, der sowohl der Sanktion von abweichendem Verhalten als auch als sicherer Ort für Menschen in krisenhaften Situationen diente. Einerseits verbannte die Anstalt die chronisch psychisch Kranken aus der Stadt, andererseits war sie aber auch ein Ort der Sorge und Pflege, eine Ambivalenz, die Eastoe über das Buch hinweg anschaulich beschreibt.

Nach einer ausführlichen Einleitung, die die Ökonomie der sozialen Fürsorge im Viktorianischen England bzw. London vorstellt, zeigt das zweite Kapitel die politischen, sozialen und ökonomischen Hintergründe, die zur Eröffnung des Caterham Asylum führten. Eastoe hebt dabei insbesondere die Verbindung zu breiteren sozialen Reformen in London hervor, die in den 1860er-Jahren zur Einrichtung einer städtischen Armenverwaltung und in Folge zur Eröffnung verschiedener spezialisierter Einrichtungen wie Fieberkrankenhäusern, Pocken-Anstalten und sogenannten Idioten-Anstalten wie Caterham geführt hatten. Diese Einrichtungen waren geprägt von Fürsorge und weniger von Kontrolle und Strafe, wie Eastoe beispielhaft anhand einer dichten Beschreibung der Anstaltsarchitektur Caterhams zeigen kann. Die zweistöckige Pavillonbauweise galt als denkbar ungünstig im Hinblick auf Fragen der Überwachung, erfüllte aber sämtliche Bedingungen an hygienische, also gesundmachende Räume der Zeit. Die Entscheidung für weite Räume, naturnahe Lage, mehrstöckige Gebäude und große Fenster war gleichzeitig eine gegen Überwachung und Disziplin.

Die vermeintlich eindeutige Ausrichtung auf eine Patient:innengruppe, chronisch psychisch Kranke, stellte die Anstalt vor besondere Herausforderungen zu einer Zeit, zu der es weder eindeutige diagnostische Verfahren noch klare Beschreibungen der als Voraussetzung für die Aufnahme geltenden Diagnosen „Idiotie“ und „Imbezillität“ gab. Anhand der Auswertung der Krankenakten kann Eastoe zeigen, dass dies, entgegen des expliziten Zwecks, zu einer recht heterogenen Patient:innenauswahl in Bezug auf ihre Einschränkungen führte. Die medizinische Diagnose war zwar Teil des Aufnahmeprozesses, letztlich entscheidend für die Aufnahme waren jedoch die einweisenden Stellen, wie etwa das Arbeitshaus oder das „Metropolitan Asylum Board“, wo Laien auf der Basis alltäglichen Wissens und populärer Vorstellungen von geistiger Schwäche über die Einweisung entschieden. So kann Eastoe zeigen, dass etwa ein Viertel der Patient:innen bei der Aufnahme jenseits der 60 war und wohl Symptome von Demenz zeigten, bei anderen wurden eher depressive Symptome beschrieben. Gemeinsam war ihnen die Zuschreibung von außen, dass ihr Zustand sich nicht bessern würde. Ein Großteil der Patient:innen blieb tatsächlich 30 Jahre oder länger in der Anstalt untergebracht.

Diese lange Aufenthaltsdauer der Patient:innen hatte Folgen für die Gestaltung des Anstaltsalltags, wie Eastoe deutlich macht. So wurden die Patient:innen etwa je nach ihren Fähigkeiten in Küche, Wäscherei oder Gärtnerei zum Arbeiten eingesetzt. Die meisten Pfleger:innen lebten in der Anstalt und Eastoe deutet dies als Indiz, dass das Anstaltspersonal ein Eigeninteresse an einem ruhigen und gewaltarmen Alltag gehabt haben muss. Zum Teil, schlicht durch die Jahrzehnte des geteilten Alltags, sei zwischen Personal und Patient:innen eine Form von freundschaftlicher Beziehung entstanden, die durch jährlich wiederkehrende, gemeinsame Festivitäten noch verstärkt wurde. Andererseits schließt Eastoe Fälle von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt nicht aus. Allerdings lassen sie sich aufgrund der Quellengattung der Krankenakte, deren Inhalt der Kontrolle durch die Anstalt unterlag, in aller Regel nicht rekonstruieren. Umso schwerer wiegt ein Fall, in dem der Missbrauch einer Patientin durch einen Pfleger aktenkundig wurde.

Das wohl stärkste Kapitel ist das zu den „Geographien von Idiotie und Imbezillität“. Statt wie in den vorherigen Kapiteln die einzelnen Krankenakten lediglich als Illustration des jeweiligen Arguments zu nutzen, rücken diese im letzten Kapitel in den Fokus. Während ein Teil der Forschung in Bezug auf psychische Krankheiten und Behinderungen häufig den Willen zu Segregation (über-)betont hat2, kann Eastoe durch die Verknüpfung von 32 Patient:innenakten mit den Volkszählungsdaten ihrer Familien und einem Atlas (Charles Booths Life and Labour of the People of London) zeigen, dass die „Geographie der Idiotie“ (S. 160) deutlich nuancenreicher und komplizierter ist. Dies ermöglicht es ihr, die Durchlässigkeit der Anstaltsmauern sichtbar zu akzentuieren und ein Leben der Patient:innen vor und zum Teil auch nach ihrem Aufenthalt in Caterham sichtbar werden zu lassen.

Anschaulich gelingt das beispielsweise anhand der 30-jähren Frau Clara, die 1881 nach einem zweiwöchigen Aufenthalt im Arbeitshaus in Caterham aufgenommen wurde. Als Grund ihrer Aufnahme gaben ihre Brüder zu Protokoll, dass sie aufgrund ihrer geistigen Schwäche nicht in der Lage sei, eine Anstellung zu finden. Die Volkszählungsdaten von 1881, einige Monate vor Claras Aufnahme, zeigen, dass sie gemeinsam mit ihrem Vater und einem jüngeren Bruder einen Haushalt bildete. Bereits zehn Jahre zuvor, im Rahmen der Volkszählung von 1871, hatten ihre Eltern Clara als „imbezill“ angegeben, ohne dass diese Einschätzung eine Einweisung in eine Anstalt zur Folge hatte. Erst der Tod der Mutter, die, wie Eastoe vermutet, für die Pflege ihrer Tochter verantwortlich gewesen war, führte zu einer Einweisung nach Caterham. Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass ihr Vater zum Zeitpunkt der Einweisung arbeitslos war und auch der Bruder kaum ein Einkommen erzielen konnte – die Einweisung erfolgte erst, als die Familie nicht mehr in der Lage war, für ihre Tochter zu sorgen. Anhand anderer Fälle kann Eastoe zeigen, dass insbesondere Familien in sozial prekären Situationen imstande waren, das verfügbare Hilfesystem der Stadt für ihre Zwecke zu nutzen, indem sie beispielweise mehrfach, lediglich um einige ökonomisch angespannte Monate zu überbrücken, ihre Töchter und Söhne einwiesen, nur um sie, sobald sich die eigene Lage gebessert hatte, wieder nach Hause zu holen.

Idiocy, Imbecility and Insanity ist eine sehr sorgfältig recherchierte Untersuchung, die ihrem Anliegen gerecht wird, Anstalten nicht nur als Institutionen der Kontrolle, sondern auch der humanitären oder medizinischen Ideale, als sicheren, sauberen und gesunden Rückzugsort für vulnerable Menschen zu verstehen. Es gelingt Eastoe, ihre zentrale These der Anstalt als „Heterotopie“ überzeugend darzustellen: Sie macht die Nuancen und Ambivalenzen des Gebäudes, des Anstaltsalltags und auch der Beziehungen zwischen Patient:innen und Anstaltspersonal nachvollziehbar. Leider verliert sie sich stellenweise in genau diesen Nuancen und man bliebt beim Lesen mit der Frage zurück, ob nicht jede Institution, je genauer man hinsieht, mit ebendiesen Ambivalenzen ausgestattet ist. Die hie und da nebeneinanderstehenden Details gehen auch zu Lasten einer „erzählten Geschichte“. Phasenweise sind die Beschreibungen, sei es der Gebäudeteile oder der Patient:innenakten, ein wenig mühsam zu lesen und die Verbindung unter den Kapiteln bleibt seltsam lose. Dadurch will es nicht recht gelingen, die Kapitel untereinander zu verbinden, auch wenn jedes auf seine Weise die zentrale These der Anstalt als „Heterotopie“ überzeugend untermauert – und durchaus je für sich informativ und lesenswert ist.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch: James W. Trent, Inventing the Feeble Mind. A History of Mental Retardation in the United States, Berkeley 1994; David Wright, Mental Disability in Victorian England. The Earlswood Asylum, 1847–1901, Oxford 2001; Patrick McDonagh, Idiocy. A Cultural History, Liverpool 2008; Scott Danforth, The Incomplete Child. An Intellectual History of Learning Disabilities, New York 2009.
2 Insbesondere für Geschichten, die im Anschluss an Michel Foucault oder Irving Goffman und somit vom Interesse einer (berechtigten) Psychiatriekritik geleitet waren trifft dies zu. Vgl. zu dieser Einschätzung u. a. Eric J. Engstrom, Die „Wilden Männer“ von Dalldorf. Emotionen an der Schwelle psychiatrischer Institutionen Mitte der 1880er Jahre in Berlin, in: Geschichte der Gefühle – Einblicke in die Forschung, März 2014, https://doi.org/10.14280/08241.25 (14.04.2021); exemplarisch für den deutschsprachigen Raum: Klaus Dörner, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, 2. Aufl., Hamburg 1999; für den englischsprachigen Raum: David J. Rothman, The Discovery of the Asylum. Social Order and Disorder in the New Republic, 2. Aufl., New Brunswick 2008.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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