B. Klesmann: Die Notabelnversammlung 1787 in Versailles

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Titel
Die Notabelnversammlung 1787 in Versailles. Rahmenbedingungen und Gestaltungsoptionen eines nationalen Reformprojekts


Autor(en)
Klesmann, Bernd
Reihe
Beihefte der Francia 83
Erschienen
Ostfildern 2019: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
569 S.
Preis
€ 67,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Behrisch, Department of History and Art History, Universität Utrecht

Die Versammlung der „Notabeln“, Vertreter der soziopolitischen Eliten, zwischen Februar und Mai 1787 verkörperte die letzte große Reformanstrengung der französischen Monarchie vor der Einberufung der Generalstände zwei Jahre später. Die Pläne des seit 1783 amtierenden Finanzministers Charles Alexandre de Calonne, angelehnt an die vorausgegangenen Entwürfe der Physiokraten und seines Amtsvorgängers Turgot (1774–1776), sahen im Kern die radikale Vereinfachung und Vereinheitlichung der Besteuerung vor: Eine einheitliche Grundsteuer (subvention territoriale) sollte alle Grundbesitzer, ungeachtet ihres Standes, gleichermaßen erfassen und damit sowohl die Mehrheit der Steuerzahler entlasten als auch die Staatskasse sanieren (eine ganz ähnliche Idee war schon ein Jahrhundert zuvor durch Marschall Vauban formuliert worden). Daneben war die Abschaffung der Binnenzölle, eine Vereinfachung der indirekten Steuern (namentlich der Salzsteuer, gabelle) und eine vollständige Liberalisierung des Getreidehandels vorgesehen. Um diese Maßnahmen auf eine breite Basis stützen und sie zugleich an regionale Besonderheiten anpassen zu können, wurde schließlich die flächendeckende Einrichtung von ständeübergreifenden Provinzialversammlungen (assemblées provinciales) angestrebt, wie sie nach Turgot auch der Erzfeind Calonnes, Finanzminister Necker (1776–1781), geplant und in einigen Regionen bereits eingerichtet hatte. Um all diese Maßnahmen durchsetzen und legitimieren zu können – namentlich gegenüber den höchsten Gerichtshöfen (parlements), die es gewohnt waren, unter großem öffentlichem Applaus jegliche Neuerungen als den „Fundamentalgesetzen“ des Landes zuwider abzuschmettern – griff man auf eine nahezu in Vergessenheit geratene Einrichtung zurück: eine assemblée des notables.

Ähnlich wie bei der Debatte um die Einberufung der Generalstände eineinhalb Jahre später, berief man sich im Winter 1787 auf die ebenfalls im frühen 17. Jahrhundert zum Erliegen gekommenen Notabelnversammlungen. Sie waren allerdings weniger institutionalisiert gewesen als die Generalstände: Ihre Form und Benennung waren im Fluss, ja nur die letzten beiden Versammlungen (1617 und 1626) wurden überhaupt als „assemblée des Notables“ bezeichnet, erstere zudem auch noch als „Convention des trois Estats“ und „Convention des Notables et des trois Estats“. Insgesamt zutreffend erscheint die ebenfalls zeitgenössische Charakterisierung als „abregé [d]es Etats generaux“: Die rund 50 Teilnehmer von 1617 und 1626 (1596 waren es noch knapp 100) galten als Vertreter der drei Stände, wurden aber nicht flächendeckend im Land gewählt, sondern von den Korporationen entsandt oder von der Krone benannt. Sie traten auch nicht in Ständekurien zusammen, sondern in (meist drei) Kammern: Hier kam, unter dem Vorsitz eines Prinzen von Geblüt oder eines hochadligen Gouverneurs oder Marschalls, jeweils ein Querschnitt der Delegierten zusammen. Allerdings war der Dritte Stand nach 1596, als noch die Bürgermeister der 25 größten Städte teilnahmen, faktisch nicht mehr vertreten: An seine Stelle traten die Spitzen der Magistrate der cours souveraines (parlements und Rechnungskammern), die mittlerweile aber als Amtsadlige galten. Sie protestierten denn auch dagegen, als Vertreter des Dritten Standes angesehen zu werden – und 1626 auch dagegen, dass man in den Kammern nicht nach Köpfen (wie noch 1617), sondern nach Ständen abstimmen sollte. Kardinal Richelieu strebte dieses Verfahren offenbar gezielt an, um die Magistrate so durch (Schwert-)Adel und Geistlichkeit überstimmen lassen zu können; man einigte sich schließlich auf einen Kompromiss. Der Sache nach gleicht ihr Protest interessanterweise bereits dem des Dritten Standes von 1788/89: „[L]es officiers en furent choqués […] Ils représentèrent qu’aux assemblées precedents [sic] ils avoient opin[é] par tête avec le Clergé et la Noblesse, sans aucune distinction ni difference d’ordre“ (nach S. 80, Anm. 104).

Auch die Versammlung von 1787 rekrutierte sich aus den zentralen soziopolitischen Eliten und wichtigsten Institutionen des Landes: In sieben gleichberechtigten (und nach Individuen abstimmenden) bureaux, deren Anzahl derjenigen der vorsitzenden Prinzen von Geblüt geschuldet war – neben den Brüdern des Königs waren dies der Duc d’Orléans, die Princes de Condé und Conti und die Ducs de Bourbon und Penthièvre –, saßen je knapp zwanzig Notabeln als Querschnitt (in jeweils etwa gleichem Anteil) aus (a) höchstem (pairs, maréchaux de France) und (b) hohem Hof- und Militäradel, (c) höchsten Regierungsbeamten (darunter Provinzintendanten) und höchsten Geistlichen (Erzbischöfe und Bischöfe), (d) den Präsidenten und (e) Generalanwälten aller parlements (bzw. conseils souverains), (f) Deputierten der Provinzialstände der vier pays d’état und (g) den Bürgermeistern der 24 wichtigsten Städte. Auch wenn so die wichtigsten Körperschaften der Monarchie vertreten waren, handelte es sich faktisch auch jetzt wieder nur um die Repräsentation der allerhöchsten Schichten des Schwert- und Amtsadels (sowie allenfalls, im Fall der Bürgermeister, um jüngst oder bald Nobilitierte); entsprechend reiste die Hälfte der Notabeln nicht aus der Provinz an, sondern residierte bereits in Paris.

Trotz der zu erwartenden Bedenken gegenüber einer gleichmäßigen Besteuerung unter Einbeziehung der privilegierten Stände und trotz der Auseinandersetzungen über die Zusammensetzung der Provinzialversammlungen und viele andere Detailfragen stimmten die Notabeln den Vorlagen Calonnes schließlich sehr weitgehend zu – unter dem Eindruck der während der Sitzungen erstmals offengelegten massiven Staatsschuld wie auch unter dem Druck der (hauptstädtischen) Öffentlichkeit, die erwartete, dass man den notwendigen Beitrag zur Rettung der „Nation“ wie auch zur steuerlichen Entlastung der Bevölkerung leisten werde. Die Notabelnversammlung kann somit nicht rundweg, wie Klesmann entgegen dem vorherrschenden Bild der Historiographie betont, als gescheiterter Versuch der Reformierung der Monarchie von oben gesehen werden, wie nicht zuletzt das Plazet zur Verdoppelung des Dritten Standes (bei individueller Abstimmung) in den Provinzialversammlungen zeigt. Allerdings scheiterte die Umsetzung des Kerns des Reformvorhabens, der Steuerreform, in den folgenden Monaten: vordergründig am Widerstand der Parlamente, zugleich aber, wie Klesmann hervorhebt (S. 281ff.), auch an der Mithilfe oder Billigung zahlreicher Notabelnvertreter – darunter vieler mit den Parlamenten auf verschiedene Weise verbundener Hochadliger, von princes du sang über pairs (selbst formal Mitglieder des Pariser parlement) hin zu Hof- und Militäradligen wie dem Marquis de La Fayette. Einige waren schon in der Notabelnversammlung gegen bestimmte Reformvorhaben angetreten – namentlich die geistlichen Notabeln, die die kirchlichen (und damit ihre eigenen) Privilegien ganz besonders bedroht sahen; andere hatten die Reformen begrüßt, wie La Fayette, missbilligten nun aber ihre konkrete Form und/oder waren – in der für das Ancien Régime charakteristischen, kaum entwirrbaren Gemengelage aus Sachfragen, persönlicher Ranküne und (Hof-)Intrige – mit ihren Trägern verfeindet. Dies traf nicht zuletzt Calonne, den maßgeblichen Initiator, der noch während der laufenden Versammlung gestürzt wurde. Die Führungsrolle übernahm einer seiner raffiniertesten Widersacher, Loménie de Brienne – bis dato Erzbischof von Toulouse – der nun die von ihm selbst wiederholt diskreditierten Reformpläne gegen die Parlamente durchsetzen sollte. Angesichts unzähliger solcher Rivalitäten und Scharaden sowie angesichts vielfacher widerstreitender Sach- und Rechtsargumente waren die Beschlüsse der Notabeln letztlich auf Sand gebaut, was das Gebäude schnell wieder zum Einsturz bringen ließ.

Angesichts der Mannigfaltigkeit der sachlichen und persönlichen Motivationen und der sie begründenden Diskurse gibt es keine klare inhaltliche Formel dafür, warum die Reformbemühungen scheiterten – jenseits der Feststellung, dass keine Gruppe, kein Stand und keine Körperschaft der Hauptleidtragende der allseits als notwendig anerkannten tiefgreifenden Reformen sein wollte. Es ist deutlich, dass viele Notabeln ihre zunächst unter kollektivem und öffentlichem Druck gemachten Zusagen im Nachhinein nicht einlösen wollten – oder konnten, da sie nun wieder unter dem Druck ihrer jeweiligen lokalen, ständischen und institutionellen Kontexte standen. Auch wenn konkrete Motivationen und Diskurse einander in vieler Weise entgegenliefen, so reichten sie jedenfalls insgesamt aus, echte Reformen zu torpedieren. Es gab aber auch keine hinreichend einheitliche Führung, die sie hätte durchsetzen können – die Monarchie besaß keine hinreichende Autorität und kein hinreichendes Selbstbewusstsein mehr, um ihre Probleme zu lösen. Der während der Notabelnversammlung rasch prominent und öffentlichkeitswirksam erhobene Ruf nach einer Einberufung der Generalstände ließ sich nach dem Scheitern der Umsetzung ihrer (formalen) Beschlüsse nicht mehr abweisen. Doch all jene einander entgegenlaufenden Motivationen und Legitimationen, die zu diesem Scheitern beitrugen, wiesen zugleich auf die fatalen Zentrifugalkräfte der Revolutionszeit voraus.

Es ist Klesmanns Verdienst, die hier nur grob skizzierten Zusammenhänge und Widersprüche erstmals auf breiter Quellenbasis und auf der Grundlage einer Prosopographie sämtlicher Notabeln (S. 391–500) herausgearbeitet zu haben. Mit seiner Konzentration auf Personal und Debatten gelingt es dem Autor, die Notabelnversammlung aus dem tiefen Schatten der Revolution hervorzuholen und als Phänomen sui generis des Ancien Régime zu präsentieren – und so ein faszinierendes Licht auf dessen Selbstverständnis, Selbstbeschreibung und Funktionslogik (wie auch seine zunehmende Dysfunktionalität und Delegitimierung) zu werfen. In einer Reihe von Ausblicken geht es auch um die Bezüge der Notabelnversammlung zu Revolution, Emigration und Konterrevolution und zu den intellektuellen Ursprüngen von Konservatismus und Liberalismus. Die Fülle des Materials, so ist allerdings kritisch hinzuzufügen, wird allzu chronologisch und kleinteilig anhand der Quellen abgearbeitet; entsprechend ist die Kapiteleinteilung nicht immer unmittelbar einsichtig und erscheint die Textführung oft sprunghaft und assoziativ. Das Material hätte, etwa durch die konsequente Bündelung um spezifische Debattenthemen, konziser und analytisch gewinnbringender angeordnet und aufbereitet werden können. In diesem Zusammenhang hätte man sich auch ein beherzteres Aufgreifen einschlägiger Forschungsthemen gewünscht, sei es „Repräsentation“ oder „Nation“, „Aufgeklärter“ oder „Reform“-Absolutismus: All dies wird wiederholt erwähnt, aber nie systematisch diskutiert. Zugleich vermisst man explizitere Bezüge auf die bestehende Forschung, namentlich auf die jüngeren Monographien zur Notabelnversammlung von Vivian Gruder und John Hardman (der „wichtige Aspekte der Beratungen jüngst in großer Klarheit dargestellt“ habe, S. 215 – was bleibt dann noch konkret zu tun, zu ergänzen, zu kritisieren?) oder auf ähnlich gelagerte Forschungen wie die Arbeit von Timothy Tackett zu den Deputierten der Generalstände. In formaler Hinsicht schließlich fehlen die Nummern der Delegierten aus der Prosopographie im Index (und leider auch allzu oft im Text).

Trotz dieser Schwächen liegt hier ein Standardwerk zur Notabelnversammlung als entscheidender Nahtstelle zwischen Ancien Régime und Revolution vor, dessen Übersetzung – vielleicht in verknappter und analytisch zugespitzter Form – man von Herzen wünscht.

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