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Titel
Ars dictaminis. Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre


Herausgeber
Florian Hartmann, Benoît Grévin
Reihe
Monographien zur Geschichte des Mittelalters
Erschienen
Stuttgart 2019: Anton Hiersemann
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 196,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Galle, Professur für Kirchengeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Der weit über 700 Seiten zählende, von Florian Hartmann und Benoît Grévin herausgegebene Band präsentiert die Ergebnisse eines DFG-Netzwerks von deutschen, italienischen, französischen und englischen Experten der hoch- und spätmittelalterlichen Briefstillehre. Damit tritt er einem lange Zeit bestehenden Desiderat entgegen, denn es mangelte bislang an einer groß angelegten und vergleichenden Überblicksdarstellung – und das, obwohl die im Zentrum stehende Lehre „im lateinischen Europa des 11. bis zum späten 15. Jahrhundert das Feld der öffentlichen, politischen, aber auch privaten lateinischen Kommunikation stark beeinflusst, wenn nicht gar beherrscht“ (S. 11) hat. Diese Bewertung der Herausgeber ist keinesfalls übertrieben, denn die ars dictaminis hat mit ihren Vorstellungen von Sprachstil und korrekter Form nicht nur die Arbeit der Kanzleien und des Notariats nachhaltig geprägt, sondern wurde im 13. Jahrhundert „zur Mutter aller Wissenschaft und Rhetorik“ (S. 15) weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund ist es auch nur zu begrüßen, dass die Auseinandersetzung sowohl von einem historischen wie von einem philologischen Standpunkt aus geschieht, schließlich werden die Formalisierung der Briefstillehre, ihre Ursprünge und Entwicklungslinien auch nur unter Berücksichtigung des historischen Kontextes und eines ausgeprägten Bewusstseins für die lateinische Sprache verständlich.

Auch wenn eine Differenzierung von ars dictaminis und ars dictandi mit Blick auf die Entstehungsprozesse und den zeitgenössischen Gebrauch des überlieferten Materials nicht immer leicht fällt, wird gemäß der definitorischen Unterscheidung, die Martin Camargo1 vorgenommen hat, erstere gemeinhin als die Lehre im weiteren Sinne verstanden, während letztere indes die einzelnen theoretischen Traktate bezeichnet, die aus ihr hervorgegangen sind. Die Herausgeber sind sich dieses Differenzierungsproblems durchaus bewusst, können aber überzeugende Gründe anführen (S. 13f.), wieso sie auf Camargos Trennung zurückgreifen: Denn neben rein pragmatischen Erwägungen, die angesichts der Fülle des Quellenmaterials im Allgemeinen und der spezifischen Bewertung im Einzelnen unverzichtbar sind, erwächst daraus auch die Möglichkeit „zu verstehen, wie sich die Disziplin im Rahmen der mittelalterlichen Vorstellung von Kommunikation entwickelt hat“ (S. 13).

Versuche, die longue durée der ars dictaminis anschaulich darzulegen, wurden bereits von James Murphy2 und dem erwähnten Martin Camargo3 unternommen. Doch stellt der nun vorgelegte Band in mindestens dreifacher Hinsicht einen deutlichen Mehrwert dar: So kann er zum einen schlicht und ergreifend auf „Handschriftenbeschreibungen, Repertorien und Editionen“ (S. 40) aufbauen, die in der Zwischenzeit erschienen sind und die noch nicht Gegenstand früherer Überblicksdarstellungen sein konnten. Er bildet damit den derzeitigen Kenntnisstand ab. Zum anderen verdankt er aufgrund der Zusammenarbeit verschiedener Experten, die nicht nur aus unterschiedlichen Ländern, sondern auch verschiedenen Fachdisziplinen stammen, über eine Multiperspektivität, die ein einzelner Autor in dieser Weise niemals bieten könnte. Zum dritten aber wird auf vorbildliche Weise dem Charakter eines Handbuchs Rechnung getragen. Auch wenn das Forschungsfeld weiterhin großen Raum für die Erschließung von Quellenbeständen und Einzeluntersuchungen lässt, erscheint die Rede von einem „Zwischenbericht“ (S. 40), als den die Herausgeber ihren Sammelband ansehen, angesichts der Fülle an Informationen, die er enthält, fast als zu bescheiden. Schließlich gelingt es, nicht nur die Entwicklung und Wirkungsgeschichte der gesamten Gattung nachzuzeichnen, sondern auch detaillierte Informationen zu den Protagonisten und ihren einschlägigen Werken zu bieten. So präsentiert sich der Band als fundiertes Nachschlagewerk, das nur insofern als Zwischenbericht zu verstehen ist, als er Anlass und Hilfestellung für weiterführende Studien bieten möchte. In diesem Zusammenhang ist vor allem an die Auseinandersetzung mit methodischen und theoretischen Fragen zu denken, die sich aus den eigenen Erfahrungen der Mitwirkenden speisen und denen ein eigenes Kapitel (S. 333–367) gewidmet ist.

Die Auseinandersetzung mit der ars dictaminis erfolgt in vier Schritten, wobei die umfangreiche, erhellende Einleitung (S. 11–43) als eigenes Kapitel verstanden werden kann. In ihr wird nicht nur der angedeuteten Notwendigkeit von Begriffsdefinitionen Rechnung getragen, sondern auch eine Verortung der Disziplin vorgenommen – zunächst innerhalb der mittelalterlichen Kultur, sodann im zeitlichen und geographischen Kontext, zuletzt auch in ihrem Verhältnis zu anderen Disziplinen spätmittelalterlicher Kommunikation, insbesondere der ars poetriae und der ars praedicandi. Ein luzider Überblick über die bisherige Forschung zum Thema vervollständigt das Fundament, auf dem die folgenden drei Kapitel aufbauen.

Das zweite und zugleich umfangreichste Kapitel (S. 45–332) ist mit der schlichten Überschrift „Chronologischer Überblick“ versehen, doch wartet es mit einer Fülle an Informationen auf. Überaus detailliert wie anschaulich wird hier die Entwicklung der ars dictaminis von ihren Ursprüngen, die zu Recht in den ersten Versuchen einer Kodifikation von Regeln durch Alberich von Montecassino (ca. 1030–1094/99) gesehen werden, bis ins 16. Jahrhundert nachgezeichnet. In diesem Zusammenhang werden die einschlägigen Autoren biographisch und bibliographisch erschlossen sowie die Charakteristika ihrer jeweiligen artes dictandi im Kontext der rhetorischen Tradition verortet. Die Detailaufnahmen, die mit Blick auf einzelne prägende Personen und Werke entstehen, werden geschickt zu einem Panorama zusammengesetzt, das die Traditionslinien und jeweiligen Besonderheiten von Italien aus, sodann an der päpstlichen Kurie bis nach Mittel- und Westeuropa herausstellt. Auch die Verhältnisse zum italienischen Humanismus (S. 279–291) oder zu den Volkssprachen (S. 305–322 sowie S. 323–332) werden dabei bestimmt und lassen die ars dictaminis in all ihrer Vielfalt sichtbar werden.

Im dritten Kapitel werden „Editionsprobleme“ (S. 333–367) thematisiert, die sich bei der Erschließung handschriftlichen Materials, das gelegentlich von einer räumlich wie zeitlich weit verbreiteten Überlieferung gekennzeichnet ist, ergeben können. Fünf exemplarische Fälle werden hier angeführt, die aus der Beschäftigung der Beiträger mit den artes dictandi stammen: Für Italien u.a. Alberich von Montecassino, Boncompagno da Siena, Petrus de Vinea sowie die Kurie, für das Reich volkssprachliche Werke, aus denen wiederum andere Herausforderungen erwachsen können. In Vorbereitung befindliche oder geplante Editionsvorhaben werden von diesen Fallbeispielen profitieren, da die „Probleme bei der Edition von summae und artes dictandi […] vielfältig [sind], so wie die Überlieferungssituation und die Zahl der erhaltenen Handschriften kaum vergleichbar sind“ (S. 337). Aufgrund der Formalisierung, die die Brieflehre in zunehmendem Maße auszeichnete, können schließlich auf den ersten Blick geringfügige Formulierungsunterschiede in mehreren Überlieferungszeugen folgenreiche, weil bewusste Änderungen der Bearbeiter gewesen sein (z.B. S. 347).

Das letzte Kapitel (S. 369–612) fragt danach, inwiefern, in welchen Kontexten und an welchen Orten die hochgradig theoretische ars dictaminis mit ihrem Regelsystem Umsetzung und Anwendung in der Praxis erfuhr. Indizien für ihre Vermittlung finden sich u.a. in Form von Musterbriefen, die zwischen Schülern und Lehrern gewechselt wurden (S. 474). Genauso wird deutlich, dass die französischen Kathedralschulen stark von der italienischen Brieflehre beeinflusst waren (S. 486), während für England erst vergleichsweise spät mit einer systematischen Ausbildung in der ars zu rechnen ist (S. 491). Doch waren es nicht nur die Schulen und Kanzleien, an denen sich die formalisierte Brieflehre sodann findet, auch die Klöster scheinen von wichtiger Bedeutung für die Rezeption vorhandener und die Erstellung neuer artes dictandi gewesen zu sein (S. 492). Dieser Befund mag zunächst angesichts des Verbots von Briefen und jedweder Kommunikation mit der Welt jenseits der Klostermauern überraschen. Demgegenüber wird die Bewertung eines „golden Age of monastic letter writing“4 in Frage stellt, doch kann überzeugend dargelegt werden, dass ein Konvent, dem stabilitas loci auferlegt war, zur Wahrung seiner wirtschaftlichen und politischen Interessen gar nicht auf brieflichen Verkehr verzichten konnte (z.B. S. 496). Noch vielfältiger als die Orte, an denen die ars dictaminis entwickelt, gelehrt und angewendet wurde, sind ihre Beziehungen zu anderen artes öffentlich praktizierter Kommunikation (S. 583–595), die im 12. und 13. Jahrhundert entstanden, oder ihr Verhältnis zu Musik, Recht, Theologie, antiker Bildung und Historiographie (S. 581–583, 596–611). Schwierig und herausfordernd muss es gewesen sein, die ars dictaminis in den verschiedenen Kontexten noch greifbar zu halten, doch gelingt es den Beiträgern, gerade durch Vergleich und verschiedene Blickwinkel die Brieflehre in all ihren Schattierungen zu zeichnen.

Aus den vorgenannten Informationen dürfte bereits ersichtlich geworden sein, dass die publizierten Beiträge zur mittelalterlichen ars dictaminis von großem Gewinn sind. Wenn Giles Constable Briefe als eine der am wenigsten erforschten mittelalterlichen Quellengattungen bezeichnet hat5, so galt dies bislang noch mehr für die Zeugnisse der Brieflehre, die aus dem 12. bis 15. Jahrhundert überliefert sind. Die nun ansprechend präsentierten Resultate des DFG-Netzwerks haben an dieser Situation vieles verändert, indem sie zugleich die bisher verstreuten Erkenntnisse zusammenführen und damit den aktuellen Forschungsstand repräsentieren, gleichzeitig aber auch darüber hinaus gehen, mit neuen Ergebnissen aufwarten und Anlass wie Grundlage für weiterführende Untersuchungen bieten. Dies wird sowohl durch die im Band aufgezeigten Perspektiven für mögliche Folgestudien wie auch das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis sowie die Register im Anhang (S. 617–711) erheblich erleichtert. Die Benutzerfreundlichkeit zeichnet sich nicht zuletzt auch dadurch aus, dass ein kurzes Inhaltsverzeichnis, das die Struktur des umfangreichen Bandes erkennen lässt, vorangestellt (S. 5–7), ein detailliertes, alle Teilüberschriften enthaltenes indes nachgestellt ist (S. 713–720). Hier allerdings wäre zu überlegen gewesen, ob nicht auch die Namen der Beiträger, die für die einzelnen (Unter-)Kapitel verantwortlich zeichnen, hätten aufgenommen werden können, die so immer nur am Ende eines Abschnittes angegeben werden.

Anmerkungen:
1 Martin Camargo, Defining medieval rhetoric, in: Constant Mews / Cary J. Nederman / Malcolm Rodney Thomson (Hrsg.), Rhetoric and renewal in the Latin West 1100–1540. Essays in honour of John O. Ward, Turnhout 2003, S. 21–34.
2 James J. Murphy, Rhetoric in the Middle Age. A History of Rhetorical Theory from St Augustine to the Renaissance, Berkeley / Los Angeles / London 1974.
3 Martin Camargo, Ars dictaminis. Ars dictandi (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 60), Turnhout 1991.
4 Giles Constable, Monastic letter writing in the Middle Ages, in: Filologia mediolatina. Studies in Medieval Latin Texts and their Transmission 11 (2004), S. 16. Zuvor schon ähnlich: ders., Letters and Letter-Collections (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 17), Turnhout 1976, S. 31.
5 Constable, Monastic letter writing (wie Anm. 4), S. 7.

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