F. Schotters: Frankreich und das Ende des Kalten Krieges

Cover
Titel
Frankreich und das Ende des Kalten Krieges. Gefühlsstrategien der équipe Mitterrand 1981–1990


Autor(en)
Schotters, Frederike
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 44
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 462 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Waechter, Institut européen-European Institute (IE-EI), Centre international de formation européenne (CIFE), Nizza

Die internationale Politik des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand ist Gegenstand einer reichen, kontroversen Forschungsliteratur. Insbesondere seine Haltung zur europäischen Zeitenwende 1989/90 und zur deutschen Vereinigung wird höchst unterschiedlich interpretiert: Auf der einen Seite stehen (zumeist deutsche) Autorinnen und Autoren, die dem Präsidenten starke Vorbehalte gegen die deutsche Einheit attestieren, ihm eine Verzögerungs-, ja Verhinderungstaktik zu Last legen und sein Selbstbild als Vorkämpfer der europäischen Einigung und Freund Deutschlands infrage stellen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die in Mitterrand einen zentralen Architekten des Europa nach dem Kalten Krieg sehen, der mit Weitblick darauf insistierte, dass deutsche und europäische Einigung mit gleicher Geschwindigkeit voranschritten. Frederike Schotters begreift ihre Dissertation nur bedingt als einen Beitrag zu dieser etwas verhärteten Forschungsdiskussion. Sie versucht den Rahmen zu erweitern, indem sie einerseits die Vorgeschichte der Zeitenwende ausführlich in den Blick nimmt. Andererseits verfolgt sie eine neuartige Fragestellung: Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen die Gefühle und Perzeptionen der Akteure, wie diese ihr Handeln beeinflussen, vor allem aber wie diese intentional eingesetzt werden, um die eigenen Handlungsspielräume zu erweitern und politische Ziele zu erreichen. Die Autorin geht in ihrer Untersuchung chronologisch vor: Zunächst geht es um den biographischen Hintergrund des Präsidenten, dann um entscheidende Etappen seiner internationalen Politik: beginnend mit der Nachrüstungsdebatte der frühen 1980er-Jahre, über die Wiederbelebung der europäischen Integration und das Projekt des Binnenmarkts, die Herausforderungen der Entspannungspolitik bis hin zur Zeitenwende der Jahre 1989/90. Mitterrands 1990 vorgestellte Vision einer "Europäischen Konföderation" bildet den Schlusspunkt der Darstellung.

Man muss sich sorgfältig auf die Fragestellung der Autorin einlassen und ihre Anwendung anhand von Schlüsselmomenten der Präsidentschaft Mitterrands auf sich wirken lassen, um diesem Buch gerecht zu werden. Es wird so ein innovativer Beitrag zu einem bereits viel erforschten Thema und ein neues Bild von dem Außenpolitiker Mitterrand erkennbar, das in vielen Hinsichten die etwas starren Auffassungen vorheriger Forschungen miteinander versöhnt. Die Gefühlswelt des Präsidenten erhellt Frederike Schotters anhand von dessen Biographie, die stark vom Zweiten Weltkrieg und damit zusammenhängenden Kontingenzerfahrungen geprägt ist. Für sein späteres Politikerleben wird somit die Angst vor abrupten Veränderungen, vor erneuter Gewalt zwischen europäischen Staaten und nationalistischen Exzessen prägend. Auch gewinnt Mitterrand aus seiner Lebenserfahrung ein Grundmisstrauen gegenüber der Stabilität historischer Konstellationen, aber auch gegenüber der Vertrauenswürdigkeit seiner Mitmenschen. So lässt sich etwa erklären, dass Mitterrand schon lange vor der Zeitenwende 1989 das "Europa von Jalta" für vergänglich hielt. Gleichzeitig, so macht Frederike Schotters sichtbar, verursachte ihm diese Perspektive Angst, denn sie stellte die politische Stabilität des Kontinents infrage.

Essentiell für die Argumentation der Autorin ist, dass Mitterrand seine Gefühle kommunizierte, um seine politischen Chancen zu erweitern. Auf diese Weise versuchte er bei seinen Gesprächspartnern Empathie zu erzeugen, ebenso wie er selbst stets Mitempfinden für die Gefühlslage seines Gegenübers kommunizierte. So entsteht ein neues Bild des Handelns Mitterrands in der Umbruchszeit 1989/90: Die Perspektive einer deutschen Einigung verursachte bei dem Präsidenten Angst, die er strategisch kommunizierte, um seine Ziele zu erreichen; wie etwa Empathie bei seinem deutschen Partner für die Situation des Nachbarlands zu wecken, keine Destabilisierung des Kontinents zu riskieren, die europäische Einigung im Gleichschritt mit der deutschen Vereinigung voranzutreiben. Auch das Erzeugen von Drohszenarien gehörte zur "Gefühlsstrategie" des Präsidenten, wie etwa seine immer wieder vorgetragene Furcht vor einem neuen "1913", in dem die europäischen Staaten von einem destruktiven nationalistischen Elan davongetragen würden. Ebenso setzte er seine Lebenserfahrung (Zweiter Weltkrieg, Résistance, Haager Kongress 1948) strategisch ein, um Empathie zu erzeugen und seine Legitimität zu erhöhen. Frederike Schotters demonstriert für mich überzeugend, dass die europäische Einigung für Mitterrand axiomatische Bedeutung hatte, da sie nicht nur die Friedenssicherung garantierte, sondern auch die "deutsche Frage" beantwortete und die Position des Kontinents gegenüber den Großmächten stärkte. Seine "Gefühlsstrategien" dienten ganz wesentlich dazu, dieses Ziel voranzutreiben.

Kritisch ließe sich anmerken, dass der Untertitel des Buchs nicht ganz glücklich gewählt ist, da von einer "équipe Mitterrand" als Gegenstand der Untersuchung die Rede ist. Einerseits ist nicht ganz klar, was mit der "équipe Mitterrand" gemeint ist (der Begriff ist sonst nicht gebräuchlich) und wer ihre Protagonisten sind, andererseits wird damit nahegelegt, als ginge das Buch sozusagen kollektivbiographisch über eine Gruppe von Menschen. Doch das ist nicht der Fall und scheint mir auch nicht die Intention der Autorin zu sein: Es geht ihr doch ganz wesentlich um Mitterrand, seine Gedanken- und Gefühlswelt und sein Handeln, während andere Akteure der französischen Administration eher eine Statistenrolle spielen. Auch hätte das Buch an manchen Stellen eine etwas gründlichere stilistische Überarbeitung verdient. Doch dies ändert nichts an der hohen wissenschaftlichen Qualität und dem Erkenntnisgewinn dieses Buchs, dem man nur zahlreiche Leserinnen und Leser sowie möglichst eine Übersetzung ins Französische oder Englische wünschen kann.

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