Cover
Titel
Big Science Fiction. Kernfusion und Popkultur in den USA


Autor(en)
Märkl, Simon
Reihe
Amerika. Kultur – Geschichte – Politik
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Nanz, Germanistik / Europäische Medienwissenschaft, Europa-Universität Flensburg / Institut for Kulturvidenskaber, Syddansk Universitet Odense

Wenn in der nächsten Zeit wieder einmal davon die Rede ist, dass ein entscheidender Schritt in der Kernfusion geleistet wurde und in absehbarer Zeit unbegrenzte, kostengünstige und umweltfreundliche Energie zur Verfügung stehen könnte, möge man bitte sofort Simon Märkls Buch Big Science Fiction. Kernfusion und Popkultur in den USA lesen. Die Dissertation, die der Verfasser an der Ludwigs-Maximilians-Universität München eingereicht hat, ist ein lesenswertes Buch, das die Geschichte der Kernfusion im Spannungsbereich öffentlicher Debatten aufarbeitet. Eine überraschende Erkenntnis der Doktorarbeit ist die des dauernden Verkündens und Aufschubs dieser Technologie: Erste Reaktoren, so hieß es regelmäßig, würden in zehn bis zwanzig Jahren bereitstehen, nur um dann ein Jahrzehnt später dieses Versprechen zu kassieren und den Forschungsdurchbruch in den folgenden zehn bis zwanzig Jahren in Aussicht zu stellen.

Märkl nimmt sich mit der Kernfusion ein Großforschungsprojekt des Atomic Age zum Gegenstand, das bereits in den 1950er-Jahren auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges mit enormen finanziellen Aufwendungen unterstützt wurde. In erster Linie befasst sich die Studie mit den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und untersuchte dabei nicht nur Publikationen aus den Wissenschaften oder der Politik, sondern ebenso populärkulturelle Auseinandersetzungen mit der Kernfusion, die die komplizierte Technologie erläuterten und Zukunftsvisionen wie auch Versprechungen für nahezu unbegrenzte und kostenlose Energie – „too cheap to meter“ (S. 151) – skizzierten. Dementsprechend werden in dem Buch Aussagen von Präsidenten oder Nuklearwissenschaftlern gleichberechtigt neben Artikeln des Life Magazins, Annoncen, Filmen wie Dr. Strangelove oder Godzilla sowie Ausstellungen zur Kernfusion analysiert. Der Band reiht sich damit in die Forschungen zu den Cold War Cultures ein1, die nicht auf eine politische Ereignisgeschichte zielen, sondern die Bedeutung kultureller Institutionen und Produkte für die Formation der Gesellschaften des Kalten Krieges beleuchten.

Methodisch beruft sich Märkl auf die Science and Technology Studies (STS) und die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), da diese Forschungsbereiche die „Isoliertheit des sprichwörtlichen akademischen Elfenbeinturms“ aufbrechen und jenseits „souveräner und intentional handelnder Wissenschaftler“ komplexe „Geflechte menschlicher und nicht-menschlicher, materieller und nicht-materieller Entitäten“ (S. 15) in die Untersuchungen einbeziehen. Dafür müsse man auch die öffentliche Kommunikation sowie die populärkulturelle und mediale Repräsentation der Kernfusion ernst nehmen, um das gesamte Bild zu verstehen, das sich die Gesellschaft von der Kernfusion gemacht hat. Das Quellenspektrum ist dabei beachtlich: Der Autor analysiert Nachrichtenmeldungen und politische Debatten ebenso wie Sachbücher, Lehrfilme, wissenschaftliche Berichte, Werbemittel et cetera.

Die Arbeit ist in fünf Kapitel untergliedert. Nach der Einleitung, die Methodologie und Zielsetzung erläutert, folgen drei Kapitel, die chronologisch die Geschichte der Kernfusion und die mit ihr verbundenen Hoffnungen und Kritiken herausarbeiten. Dabei orientiert sich Märkl an Joan Lisa Brombergs Periodisierung der Kernfusionsforschung und untersucht grob drei je zehnjährige Phasen. Im letzten Kapitel, das sich auf die 1980er-Jahre bezieht, beobachtet er ein „nostalgisches Interesse“ (S. 40) am Fortschrittsoptimismus der Kernfusionsforschung der vorangegangenen Jahrzehnte.

So wird im zweiten Kapitel die erste Phase vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu den Genfer Atomkonferenzen 1955/58 beleuchtet und hierbei insbesondere eine Genese der ersten Atombombentests geschildert. Mit Blick auf Unfälle, Strahlung und Fallout untersucht Märkl die Diskussionen in der Populärkultur und verweist etwa auf den Film Dr. Strangelove von Stanley Kubrick (USA 1962), der ein potenzielles Atomkriegsszenario zeigt, oder das fantastische Filmmonster Godzilla, das aufgrund von Strahlungsschäden als Mutation entstand. Als Kontrast zur Kernspaltung erschien nunmehr die kontrollierte Kernfusion als hoffnungsvolle Technologie, die im Rahmen der „Atoms for Peace“-Kampagne unter anderem von Walt Disney mit Lehrfilmen beworben wurde. Die zivile und vermeintlich sichere Nutzung sollte die Nuklearenergie ins positive Licht rücken.

Im Zentrum des dritten Kapitels steht das Projekt Plowshare, das von Edward Teller, dem „Vater“ der Wasserstoffbombe, selbst vorgeschlagen wurde. Die dahinterstehende Idee war, den Blick auf die zivile Nutzung der Atomkraft zu lenken und damit auf die Notwendigkeit der Förderung der Kernfusionsforschung zu verweisen. Im Rahmen dieses „kuriosen Irrwegs“ (S. 148) wurden unterirdische Kraftwerke erprobt und der nukleare Bau eines „Panatomic Canal“ (S. 143) durch atomare Sprengungen als Konkurrenz zum Panamakanal vorgeschlagen. Die unterirdischen Kraftwerke scheiterten an der technischen Umsetzung und der Kanalbau an der erwarteten Verseuchung aufgrund des Fallouts. Ein schönes Fundstück aus dem Bereich der Populärkultur ist das „Progressland“ (S. 130ff.), das in einem futuristischen Bau auf der New Yorker Weltausstellung 1964/65 vorgeführt wurde. Dort erklärte das Unternehmen General Electric die Kernfusion anschaulich und demonstrierte eine Kernfusion spektakulär mit einem Experiment.

Eine interessante Wendung beschreibt Märkl in der letzten Phase der 1970er-Jahre. Da der euphorische Blick auf die Kernfusion einer gewissen Ernüchterung gewichen war, „galt diese nicht länger als Mittel eine bessere Zukunft zu erreichen, sondern eher einer problematischen Gegenwart zu entkommen“ (S. 158). Umweltverschmutzung durch fossile Energieträger war ein Ausgangspunkt dieser Wende. Das Unglück im Three Mile Island-Atomkraftwerk und der Kinofilm The China Syndrom (USA 1979), der sich mit einem fiktiven Störfall befasst, führt der Autor als weitere Rückschläge für die Kernfusionsforschung an.

Das abschließende Kapitel verweist mit Hollywoodproduktionen wie Back to the Future (USA 1985) auf eine „nostalgische Sehnsucht nach der im Rückblick naiven Zuversicht, mit der das Atomic Age einst gestartet war“ (S. 183). In den 1980er-Jahren wurde in den USA die Kernfusionsforschung von der Prioritätenliste gestrichen und eher als diplomatisches Mittel eingesetzt, etwa bei der internationalen Kooperation auch mit der Sowjetunion.

Simon Märkl hat ein anregendes und gut lesbares Buch vorgelegt, das die Geschichte der Kernfusion entlang einer breiten Quellenbasis aufarbeitet. Der militärische und zivile Nutzen, die Kritik und die Zukunftsvisionen, das technologische Scheitern und der nostalgische Rückblick werden anhand politischer, wissenschaftlicher und populärkultureller Quellen dargestellt, sodass die Leser:innen einen umfassenden Überblick über die Jahrzehnte des Atomic Age erhalten. Schade ist, dass der Autor die popkulturellen Quellen in erster Linie als „Spiegel“ (S. 25) der gesellschaftlichen Debatten und Verhältnisse begreift. Die vielen treffenden Beispiele und schönen Fundstücke hätten noch intensiver daraufhin befragt werden können, wie sie selbst in die Debatte eingegriffen haben, diese veränderten, also eher Motoren denn Spiegel gesellschaftlicher Diskussionen waren. Ihre disruptive Kraft vermag es stärker gesellschaftliche und technische Wandlungen einzuleiten als manch präsidiale Äußerung oder wissenschaftliche Faktenlage. Denn die Big Science Fiction erscheint anschlussfähig an kulturwissenschaftliche Überlegungen zu Gedankenexperimenten2, die „mögliches Wissen […] auf seine Tauglichkeit für die Wirklichkeit“3 überprüfen und sie formen, und bietet „kognitive Schemata“4 an, die mögliche (nukleare) Katastrophen wahrnehmbar machen. Dies gilt auch für die Ausführungen zum Retro-Futurismus der Kernfusionsforschung, die für weitere Forschungen großes Potential bieten. Aber das hat Zeit, bis vielleicht in zehn Jahren der Durchbruch in der Kernfusionsforschung gelungen ist.

Anmerkungen:
1 Zu nennen wäre etwa Dick van Lente (Hrsg.), The Nuclear Age in Popular Media. A Transnational History, 1945–1965, New York 2012; Annette Vowinckel / Marcus M. Payk / Thomas Lindenberger (Hrsg.), Cold War Cultures Perspectives on Eastern and Western European Societies, New York 2012.
2 Vgl. Thomas Macho / Annette Wunschel (Hrsg.), Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt am Main 2004.
3 Michael Gamper (Hrsg.), Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010, S. 13.
4 Isak Winkel Holm, The Cultural Analysis of Disaster, in: Carsten Meiner / Kristin Veel (Hrsg.), The Cultural Life of Catastrophes and Crises, Berlin 2012, S. 15–32; siehe auch Eva Horn, Zukunft als Katastrophe, Frankfurt am Main 2014, S. 24.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension