R. Schwoch: Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin 1938–1945

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Titel
Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin zwischen 1938 und 1945.


Autor(en)
Schwoch, Rebecca
Erschienen
Frankfurt am Main 2018: Mabuse-Verlag
Anzahl Seiten
638 S.
Preis
€ 64,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Hájková, History department, University of Warwick

„Seit diesem Tage ist Herr Boas nicht mehr Arzt,“ bestätigte im Dezember 1938 die Berliner Ärztekammer dem Augenarzt Bruno Boas. Er verlor in Folge der 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz seine Approbation. 1939 konnte Boas nach Großbritannien auswandern und sich so das Leben retten. Die Folge der Maßnahme war, dass Juden den Arztberuf nicht mehr ausüben konnten. Nur eine kleine Minderheit durfte weiter als „Krankenbehandler“ arbeiten; diese Mediziner für jüdische Patienten durften sich aber nicht mehr Ärzte nennen. Deren Geschichte erzählt Rebecca Schwochs Habilitation. Ihre Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Holocaustgeschichte der deutschen Juden. Medizingeschichte und Holocauststudien operieren weitgehend als zwei getrennte Felder; wenn sie sich überlappen, dann mit bekannten Themen wie den Zwangsversuchen in den Konzentrationslagern oder den Euthanasie-Morden.1 Die Verfolgung und Erfahrung der jüdischen Ärzte im Nationalsozialismus ist einer der weniger beleuchteten Gebiete, dabei gehört es aber zu einem der faszinierendsten.

Der Entzug der Approbation zum 30. September 1938 war nicht die erste Verfolgungsmaßnahme, die die deutsch-jüdischen Ärzte erlebten. Bereits mit dem „Berufsbeamtengesetz" wurden sie aus dem Staatsdienst entlassen. Juden stellten überdurchschnittlich viele Ärzte (1933 stellten sie 13 Prozent des Ärztestandes), neben der Rechtswissenschaft war Medizin die unter jüdischen Studenten am öftesten gewählte Studienrichtung. Es war kein Zufall, dass 1938 sowohl Ärzte als auch Anwälte aus dem Beruf ausgeschaltet wurden: es sollte für junge, arbeitslose nichtjüdische Ärzte (und Juristen) Platz geschaffen werden. Dass die Umsetzung nicht gerade überzeugte – 1942 waren 1546 jüdische Ärzte durch gerade 200 Nichtjuden ersetzt worden – interessierte die Gesetzgeber 1938 nicht. Zudem fürchteten sich die rassistisch denkenden Machthaber vor dem jüdischen Körper und dem einzigartigen Zugriff, den Mediziner zu dem Körper ihrer Patienten hatten. Weil aber die Juden medizinische Versorgung benötigten, führten der Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti und das Hauptgesundheitsamt Berlin eine Neuerfindung ein: die „Krankenbehandler“. Unter diesem auf Praxisschild und im Stempel zu führenden Titel durften einige jüdische Ärzte weiterarbeiten. Es ist nicht vollkommen klar, wie der Auswahlprozess funktionierte, und es existieren nur Schätzungen über die Zahl der „Krankenbehandler“. Sie durften nur jüdische Patienten behandeln und ihnen war jede bakteriologische Arbeit, inklusive Impfungen, verboten: in ihrem Rassenwahn verbanden die Nazis die Juden mit Bazillengefahr.

Schwoch konnte dank ihrer akribischen Forschungen 369 „Krankenbehandler“ in Berlin ermitteln. Dieses Ergebnis ist schon an sich beachtlich, aber Schwoch nutzt es, um eine Sozialgeschichte der jüdischen Mediziner zu schreiben. Sie analysiert den demographischen Hintergrund der „Krankenbehandler“: es waren mehrheitlich ältere, überwiegend männliche Ärzte. Viele von ihnen waren Allgemeinärzte und verheiratet. Nur achtzehn von ihnen waren Frauen, die aber öfter ledig waren und jünger. Sehr viele jüdische Ärztinnen arbeiteten in dieser Zeit nicht mehr in dieser Funktion, sondern als Assistentinnen oder Krankenschwestern: die Verfolgung verstärkte die konservativen Geschlechternormen. Eine bekannte Ausnahme stellt Dr. Lucie Adelsberger dar, die als Häftlingsärztin Auschwitz überlebte und nach dem Krieg einen bekannten Erinnerungsbericht über das Vernichtungslager veröffentlichte.2 Anders als früher geglaubt, zeigt Schwoch dass nicht alle der „Krankenbehandler“ in einer Mischehe lebten, die einen gewissen Schutz verlieh. Vor allem waren die meisten „Krankenbehandler“ nur beschränkte Zeit tätig: lediglich 22 von ihnen wirkten durchgehend von 1938 bis 1945 in Berlin. Die anderen emigrierten, zogen um oder stellten ihre Berufstätigkeit ein. Die meisten wurden aber deportiert und ermordet. Der Großteil der Studie, fast 400 Seiten, enthält sorgfältig zusammengestellte Biografien der 369 Ärzte, die ihre Lebensgeschichte, Publikationen, manchmal mit Foto und einschlägigen Quellen, umfassen.3 Den Aufwand hinter dieser Kleinarbeit kann man nur erahnen, und es macht das Buch unverzichtbar für alle, die sich für die Geschichte der Berliner Juden im Holocaust interessieren.

Schwoch zeigt darüber hinaus auch das Leben der Patienten. Die jüdischen Ärzte leisteten oft de facto Sozialarbeit für die verarmte, hungernde, ausgegrenzte jüdische Gemeinschaft. Die Kranken mussten oft lange Fußwege auf sich nehmen, um den Arzt zu erreichen, und dann lange Wartezeiten. Gerade die vielen zur Zwangsarbeit verpflichteten Juden waren auf die „Krankenbehandler“ angewiesen, wenn sie eine Krankschreibung benötigten oder Arbeitsunfälle behandeln lassen mussten. Dabei konnten die Ärzte den abgearbeiteten Menschen nicht immer helfen, und es ist unklar, ob auf Rezept verordnete Milch- und Eierzuteilungen tatsächlich eingelöst werden konnten. Sogar Krankentransporte bedurften über mehrere Tage zu erwirkender Sondergenehmigungen. Eine verzweifelte Familie brachte ihren Kranken mit einem Umzugswagen in das Jüdische Krankenhaus in der Iranischen Straße.

Die vielschichtige Geschichte des Jüdischen Krankenhauses in Berlin im Holocaust bedarf nach wie vor einer Gesamtaufarbeitung. Hier konnten sich Juden vor der Deportation bis auf Weiteres in eine Krankheit flüchten. Von hier operierten Stella Kübler und andere Greifer. Nach der Aufgabe des Sammellagers in der Großen Hamburger Straße im März 1944 nutzte das Judenreferat der Berliner Gestapo die ehemalige Pathologie als das letzte Sammellager, wie Akim Jah am Ende seiner wichtigen Studie kurz darstellt.4 Schwoch steuert neue Einsichten zu dieser noch nicht genug erforschten Geschichte bei. Irritierenderweise sind die erhaltenen Krankenbücher und Krankenakten des Jüdischen Krankenhauses im Centrum Judaicum nicht zugänglich. Man kann sich nur wünschen, dass sie das Archiv in der Zukunft freigibt. Trotz solcher Beschränkungen leistet die Autorin vorbildliche Arbeit. Gerade ihre Lesart der Entschädigungsakten ist inspirierend.

Was bedeutete es für Ärzte, ihren Status zu verlieren? Die Autorin deutet an, dass der Arztberuf kein Beruf wie jeder andere war. Mit dem Titel verband sich enormer Respekt, eine Macht und Wissen über andere. Deswegen war der Approbationsentzug für viele Ärzte eine so tiefe Kränkung, wenn auch manche den „Krankenbehandler“-Titel nur eine Oberflächlichkeit fanden, Hauptsache, sie konnten weiter ihrer Berufung nachgehen. Und tatsächlich: viele von Schwochs Ärzten wurden ins Theresienstädter Ghetto deportiert, wo es einigen von ihnen gelang, weiter als Mediziner zu wirken. Hier spielte die Abteilung Gesundheitswesen in der Jüdischen Selbstverwaltung eine wichtige Rolle. Sie beobachtete die Häftlingsgesellschaft aus einer sozialhygienischen Perspektive.5 So ließen sie alle Insassen gegen Bauchtyphus impfen und schickten sie zum präventiven Lungen-Röntgen, um Tuberkulosekranke zu erfassen. Die Mediziner in Theresienstadt sahen sich zuerst als Ärzte, nicht als Häftlinge, denn das gab ihnen eine Handlungsmacht. Wenn sie überlebten, zeigen ihre publizierten Erinnerungen, die sie in medizinische Fachzeitschriften einreichten, dass sie die Lager zunächst als einen für ihr fachliches Wissen bedeutsamen Punkt in ihrem Lebenslauf wahrnahmen.

Schließlich untersucht Schwoch das Mitwirken der jüdischen Ärzte bei den Deportationen. Als Vertrauensärzte mussten sie entscheiden, wer imstande war, auf Transport zu gehen. Manche gaben heimlich Milchspritzen, die kurzfristig hohes Fieber und damit Transportunfähigkeit hervorriefen; einige Ärzte taten es umsonst, andere verlangten Geld. Im Anschluss an Beate Meyers grundlegende Studie über die Reichsvereinigung der deutschen Juden schreibt Schwoch über das unmögliche Dilemma, wenn sie auch weniger Einsichten als Meyer anbietet.6 Schwochs Debatte über das Verhandeln der winzigen Freiräume erinnert an Sari Siegels differenzierte Studie über den Gynäkologen Maximilian Samuel, der in Auschwitz gezwungen wurde, an den Experimenten teilzunehmen, aber einigen Frauen das Leben und Gesundheit retten konnte.7

Es ist keine leichte Lektüre, aber die Studie wirft ein neues Licht auf die Holocaustgeschichte, Berlin im Nationalsozialismus, das Selbstverständnis der oft konservativen älteren jüdischen Ärzte und darüber, wie medizinische Fürsorge bis zum letzten anhielt. Man kann sich nur wünschen, dass weitere Forscher/innen sich inspirieren lassen werden und Holocaust- und Medizingeschichte verbinden.

Anmerkungen:
1 Die Literatur ist sehr umfangreich, hier sei stellvertretend genannt der Forschungsbericht: Robert Jütte in Verbindung mit Wolfgang U. Eckart / Hans-Walter Schmuhl / Winfried Süß, Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011.
2 Lucie Adelsberger, Auschwitz. Ein Tatsachenbericht, Berlin 1956.
3 Rebecca Schwoch (Hrsg.), Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus, Berlin 2009.
4 Akim Jah, Die Deportation der Juden aus Berlin. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und das Sammellager Große Hamburger Straße, Berlin 2013.
5 Anna Hájková, Medicine in Theresienstadt, in: Social History of Medicine (2018); https://doi.org/10.1093/shm/hky066 (07.09.2019); Harro Jenß / Peter Reinicke (Hrsg.), Der Arzt Hermann Strauß, 1868–1944. Autobiographische Notizen und Aufzeichnungen aus dem Ghetto Theresienstadt, Berlin 2014.
6 Beate Meyer, Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939–1945), Göttingen 2011.
7 Sari Siegel, Treating an Auschwitz Prisoner-Physician. The Case of Dr. Maximilian Samuel, in: Holocaust and Genocide Studies, 28 (2014), S. 450–481; Astrid Ley, Kollaboration mit der SS zum Wohl der Patienten? Das Dilemma der Häftlingsärzte in Konzentrationslagern, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2 (2013), S. 121–139.

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