Cover
Titel
Kinderseelenforscher. "Psychopathische" Schuljugend zwischen Pädagogik und Psychiatrie


Autor(en)
Balcar, Nina
Reihe
Beiträge zur historischen Bildungsforschung (51)
Erschienen
Köln u.a. 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Patrick Bühler, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Brugg-Windisch

In seiner Übersicht über verschiedene Landerziehungsheime in Deutschland, England, Frankreich und der Schweiz ging Friedrich Grunder, der in der Schweiz seinerzeit selbst ein Landerziehungsheim leitete, 1916 auch auf das „Erziehungsheim und Jugendsanatorium auf der Sophienhöhe bei Jena“ ein, das 1890 „für elternlose, schwer erziehbare, langsam sich entwickelnde, körperlich schwächliche, nervöse, erholungsbedürftige oder schulmüde Kinder“ gegründet worden war.1 Die „Sophienhöhe“ und ihr Leiter Johannes Trüper (1855–1921) sind zwar nun schon länger in Vergessenheit geraten, zu Beginn des letzten Jahrhunderts erfreuten sie sich jedoch – wie ja auch Grunders Darstellung zeigt – „internationaler Bekanntheit“.2 So war die „Sophienhöhe“ auch eine reformpädagogische Pilgerstätte, unter anderen arbeiteten so bekannte Pädagogen wie Arno Fuchs, Hermann Lietz oder Paul Geheeb (sowie dessen Schwester) eine Zeitlang in diesem „Erziehungsheim“. Trüper verstand es dabei, das pädagogische und psychiatrische „Epizentrum“ Jena geschickt für seine Zwecke zu nutzen: Er selbst hatte dort das pädagogische Seminar durchlaufen und blieb mit dessen Leiter Wilhelm Rein in Verbindung, ebenso hatte er Lehrveranstaltungen in Psychiatrie belegt und seine Kontakte zu den Psychiatern Otto Binswanger, Wilhelm Strohmayer und Theodor Ziehen kamen danach seinem „Jugendsanatorium“ sehr zustatten. Trüper war ein unermüdlicher Publizist und umtriebiger Organisator – unter anderem war er einer der Herausgeber der "Kinderfehler: Zeitschrift für Pädagogische Pathologie und Therapie"3 –; spätestens seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges schlug er resolut nationale, monarchistische und antisemitische Töne an.

Die „Sophienhöhe“ war also eines der frühen institutionellen Symptome der sich im fin de siècle anbahnenden wirkmächtigen Verbindung von Psychiatrie und Pädagogik, wie Nina Balcar in ihrer in der renommierten Reihe „Beiträge zur Historischen Bildungsforschung“ erschienenen Untersuchung eindrücklich belegen kann. Allerdings sollte man den Titel „Kinderseelenforscher“ nicht unbedingt als Plural verstehen, denn Balcars Monographie zur „,psychopathischen‘ Schuljugend zwischen Pädagogik und Psychiatrie“ widmet sich eben vor allem Trüpers „Erziehungsheim“. Der mehrdeutige Titel hat jedoch insofern durchaus seine Berechtigung, als es Balcar gerade nicht um die Person Trüpers geht, sondern sie das „Forschungsnetzwerk“ der „Sophienhöhe“ insgesamt ausloten will (S. 14). So erweist sich Balcars Studie auch als eine hervorragende Ergänzung zu Alexandra Schottes empfehlenswerter Trüper-Biographie.4

Um den Nexus von Pädagogik und Psychiatrie um 1900 verstehen zu können, umreißt Balcar in ihrem ersten einleitenden Kapitel den „Aufstieg der Schulhygiene“ im ausgehenden 19. Jahrhundert (S. 31). Sie zeichnet nach, wie es zur Anstellung der ersten Schulärzte kam und wie die Debatte über die sogenannte Überbürdung, die vor allem das Gymnasium betraf, die öffentliche Wahrnehmung prägte. Wie in der damaligen Psychiatrie üblich, illustriert Balcar diese Entwicklung auch an einer eindrücklichen „Fallgeschichte“, nämlich Hermann Hesses leidvoller Schulkarriere. Wie das Kapitel zeigt, lassen sich am Ende des 19. Jahrhunderts „Rückkopplungseffekte“ zwischen Pädagogik und Psychiatrie beobachten, die nicht immer nur störungsfrei verliefen. Zum einen überwand die Psychiatrie, die bislang vor allem „Anstaltspsychiatrie“ gewesen war, mehr und mehr die engen Grenzen der „Irrenhäuser“, indem sie ihr überkommenes „Arbeitsgebiet“ vergrößerte: Zu den bekannten Geistes- gesellten sich neue Nervenkrankheiten wie Hysterie, Neurasthenie, Nervosität oder eben Psychopathie. Zum anderen wurde gleichzeitig mit der sogenannten Hilfsschule und der Anstellung von Schulärzten und später auch von Schulpsychologen ein pädagogisches „Gesundheitssystem“ für „anormale“ Kinder geschaffen. Dieser „doppelten“ Entwicklung trägt Balcar Rechnung, indem sie im zweiten Kapitel die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Erforschung der „abnormen“ Kinderseele insgesamt beschreibt und die „Sophienhöhe“ dabei kenntnisreich „im Kontext der Hilfsschulbewegung“ situiert (S. 110).

Nachdem Balcar in den ersten beiden Kapiteln ihr Augenmerk vor allem auf Diskurse, Institutionen und Professionen – mitsamt ihren Konflikten – gerichtet hat, untersucht sie in den beiden folgenden Kapiteln, welche pädagogischen und psychiatrischen Praktiken die Herausbildung einer neuen „psychopathischen“ Schuljugend begleiteten. Auch dabei traten, wie Balcar im dritten Kapitel vor Augen führt, verschiedene komplexe Wechselwirkungen zwischen psychiatrischer und pädagogischer Forschung und dem Alltag in den unterschiedlichen Heilstätten zutage, wie sie etwa an der wichtigen Praktik des Beobachtens zeigt. Auf der „Sophienhöhe“ war ein umfangreiches, von Trüper selbst entworfenes sogenanntes Personalienbuch in Gebrauch, mit dem der körperliche und geistige „Zustand“ der Kinder und Jugendlichen beim Eintritt und ihre Entwicklung während des Aufenthaltes in der Anstalt dokumentiert wurde (S. 166–177). Solche Bögen waren auch in den Hilfsschulen weit verbreitet, ihr gemeinsames Modell war das „psychiatrische Aufschreibesystem“ der Kliniken mit ihren Krankenakten.5 Wie in der damaligen Psychiatrie üblich wurde auch auf der „Sophienhöhe“ bei der Ätiologie der Psychopathie vor allem die Bedeutung der „erblichen Belastung“ hervorgehoben (S. 231). In der Psychiatrie wie in der Pädagogik wurden die Beobachtungsbögen jedoch auch für wissenschaftliche Zwecke genutzt: Trüper wie Strohmeier publizierten Fälle von Kindern und Jugendlichen, die sie auf der „Sophienhöhe“ behandelt hatten.

Das abschließende vierte Kapitel widmet sich der Frage, von welchen Kuren man im „Jugendsanatorium“ in Jena überhaupt Gebrauch machte. Dass medizinische Erwägungen nicht nur bei konkreten Therapien ausschlaggebend waren, sondern zum Beispiel auch die Organisation der Schule prägten, zeigt Balcar etwa daran, dass die „Sophienhöhe“ als „Familie“ geführt wurde – was an sich bereits schon heilende Wirkung haben sollte. Auch der Stundenplan war, um der Überbürdung entgegenzuwirken, reich an Pausen und Mahlzeiten. Nach zwei Stunden gab es am Morgen eine Stunde Pause für das zweite Frühstück und zum Ausruhen, danach dauerte der Unterricht bis 13 Uhr. Am Nachmittag war von 15 bis – je nach Alter – 18 Uhr oder später Unterricht, um 16 Uhr wurde ein Vesperbrot gereicht, am Nachmittag fanden Heilgymnastik und andere Kuren wie Bäder statt, die von der Psychiatrie übernommen worden waren (S. 239–240). Mithilfe von verschiedenen „Zöglingsberichten“ kann Balcar aufschlüsseln, welche Kuren angeordnet wurden, welche Therapien zum Einsatz kamen und wie man auf der „Sophienhöhe“ reagierte, wenn sich die „psychopathische“ Jugend nicht besseren wollte. So konnte Therapie (oder überhaupt Pädagogik), wie Balcar nachweist, auch immer als Strafe – etwa Bettruhe – eingesetzt werden, auch wenn offiziell natürlich „auf der Sophienhöhe nicht gestraft“, sondern „nur geheilt“ wurde (S. 252).

In ihrer überzeugenden Studie untersucht Balcar mithilfe vieler bislang nicht ausgewerteter Quellen die neue „Produktion und Zirkulation“ von psychiatrischem Wissen in der Pädagogik (S. 13) und liefert somit einen gelungenen Beitrag zu einer Wissensgeschichte der Pädagogik. Mit der „Sophienhöhe“ präsentiert die Autorin ein frühes Beispiel dafür, wie sich Pädagogik und Psychiatrie um die Jahrhundertwende um psychisch „anormale“ Kinder zu kümmern begannen, eine Aufgabe, die danach durch den Ausbau der Sonderpädagogik, der Einführung von schulpsychologischen Diensten sowie von speziellen Klassen und Anstalten für „erziehungsschwierige“ Kinder etc. Teil des öffentlichen Bildungssystems wurde. Balcars Untersuchung erlaubt daher auch einen faszinierenden Einblick in die Entstehung des pädagogischen „Gesundheitssystems“, dessen dicke Fundamente auch die heutige schulische Inklusion bislang nicht zu erschüttern vermochte. Nach der Lektüre des Bandes ist man daher deswegen gewillt, Michel Foucaults Einschätzung sofort zu teilen, dass es die um 1900 entstehende „Mischform zwischen der Psychiatrie und der Pädagogik“ gewesen sei, welche die „Ausbreitung“ der „Macht der Psychiatrie“ im 20. Jahrhundert entscheidend vorangetrieben habe.6

Anmerkungen:
1 F[riedrich] Grunder, Land-Erziehungsheime und Freie Schulgemeinden. Aus vieljähriger Praxis in Deutschland, England, Frankreich und der Schweiz, Leipzig 1916, S. 84.
2 Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 4. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim 2005, S. 74, Fn.
3 Das Periodikum, das zwischen 1896 und 1944 erschien, änderte 1907 seinen Namen in Zeitschrift für Kinderforschung. Die Bände wurden von der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF digitalisiert: https://goobiweb.bbf.dipf.de/viewer/toc/1010989952/1/LOG_0000/ (10.09.2019), https://goobiweb.bbf.dipf.de/viewer/toc/024493198/1/LOG_0000/ (10.09.2019).
4 Alexandra Schotte, Heilpädagogik als Sozialpädagogik. Johannes Trüper und die Sophienhöhe bei Jena, Jena 2010.
5 Vgl. Cornelius Borck / Armin Schäfer (Hrsg.), Das psychiatrische Aufschreibesystem, München 2015.
6 Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973–1974, Frankfurt am Main 2005, S. 274.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension