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Titel
Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich.


Autor(en)
Keller, Marion
Reihe
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft 8
Erschienen
Stuttgart 2018: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Walburga Hoff, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen

Die Institutionalisierung der modernen Wissenschaften im 19. Jahrhundert ist eng mit der Konzeption der Geschlechterdifferenz verknüpft, die als strukturbildende Kategorie die Ein- und Ausschlüsse innerhalb der scientific community maßgeblich regelte. Dabei blieb Frauen nicht allein der Zugang zur Alma Mater lange Zeit verwehrt, sondern die wissenschaftliche Tätigkeit ließ sich nur schwer mit den kulturellen Deutungsmustern von Weiblichkeit vereinbaren.1 Diesem Spannungsverhältnis wendet sich Marion Keller in ihrer 2018 erschienenen Dissertation „Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich“ zu. Genauer gesagt geht die Autorin darin dem Beitrag vergessener Nationalökonominnen zur Entwicklung empirischer Sozialforschung im Kaiserreich nach. Bezeichnend für die frühen Sozialwissenschaftlerinnen war ihre Einbindung in die bürgerliche und konfessionelle Frauenbewegung sowie ein sozialpolitisches Engagement in der Sozialreformbewegung, aus dem sich das wissenschaftliche Interesse am Gegenstand des Sozialen speiste. Demzufolge entstanden ihre Untersuchungen „an der Schnittstelle zwischen akademischer Wissenschaft und praktischer sozialpolitischer und Sozialer Arbeit“ (S. 9), während ihnen die Soziologie als noch nicht fest etablierte Disziplin Experimentiermöglichkeiten einräumte.

In den fünf Kapiteln des Buches werden in Form von vier Fallstudien die Bildungs- und Arbeitsbiografien der Pionierinnen, ihre Beziehungsnetzwerke innerhalb und außerhalb der Universität sowie ihre empirischen Untersuchungen nachgezeichnet. Damit rücken neben der jeweiligen lebensgeschichtlichen Einbettung der wissenschaftlichen Arbeit vor allem die Studien und das publizistische Werk von Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917), Gertrud Dyhrenfurth (1862–1946), Rosa Kemp (1874–1948) und Marie Bernays (1883–1939) in den Fokus der Betrachtung. Unklar bleibt jedoch, nach welchen Kriterien die Auswahl der untersuchten Protagonistinnen erfolgt ist. In deren jeweiliger Generationslagerung – Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth werden der Generation der Gründerzeit, Kempf und Bernays der Wilhelminischen Generation zugerechnet – spiegeln sich die unterschiedlichen Rahmenbedingungen für Wissenschaftlerinnen im Kaiserreich wider. Denn während die beiden Erstgenannten lediglich als Gasthörerinnen an der Universität reüssieren konnten, erschlossen sich für die zweite Gruppe erstmalig Möglichkeiten einer akademischen Qualifizierung, so dass Marion Keller zwischen den „Autodidaktinnen“ und den „Promovendinnen“ unterscheidet.

Eingeleitet wird die Darstellung der einzelnen Gruppen durch eine Skizzierung der gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Kontexte in Verbindung mit dem Methodenverständnis in den aufkommenden sozialen Wissenschaften. Einen wesentlichen Bezugspunkt für die Pionierinnen bildete dabei der 1872 unter anderem von einflussreichen Nationalökonomen gegründete Verein für Sozialpolitik. Dieser war als Gegengewicht zu einer liberalistischen Wirtschaftspolitik darauf ausgerichtet, wissenschaftliche Kenntnisse in Form von Enqueten über soziale Missstände zu generieren, um über das Instrument der Politikberatung Einfluss auf die Sozialgesetzgebung zu nehmen. Ähnliche Ziele, nämlich durch eine empirische Erfassung sozialer Problemlagen zur Verbesserung der Verhältnisse beizutragen, verfolgten auch die frühen Sozialwissenschaftlerinnen. Im Unterschied zur bisherigen Sozialforschung verlagerten die Pionierinnen allerdings das Erkenntnisinteresse auf die weibliche Betroffenheit von den negativen Folgen der Industrialisierung. Dementsprechend vermittelten ihre Forschungsarbeiten über den Alltag und die Arbeitsverhältnisse von Fabrikarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen, Frauen in der Landwirtschaft sowie Arbeiterinnen in der geschlossenen Großindustrie umfassende Einblicke in die prekären Lagen weiblicher Beschäftigter und legten damit zugleich problematische Aspekte des Geschlechterverhältnisses offen (vgl. S. 354ff.).

Während auf diese Weise die „Frauenfrage zum anerkannten Gegenstand akademischer Auseinandersetzung“ (S. 356) avancierte, erwiesen sich die Studien auch in methodischer Hinsicht als innovativ. Denn neben den bewährten Verfahren bedienten sich die Sozialwissenschaftlerinnen verstehender Forschungszugänge, um beispielsweise in Form verdeckter und offener teilnehmender Beobachtung den eigenen Blick für die Lebenswelten der Beforschten zu schärfen. Darüber hinaus beriefen sich die Pionierinnen auf Methoden, die den subjektiven Erfahrungen der Proband/innen einen größeren Stellenwert einräumten. Die sich dabei ausbildende Forschungskultur, welche sich zwischen den beiden Polen einer generalisiert-nomologischen Forschung einerseits und der historisch-verstehenden idiografischen Forschung andererseits bewegte, stellte wesentliche Impulse für die später einsetzende qualitative Sozialforschung bereit. So im Fall der niederbayerischen Nationalökonomin Rosa Kempf, die nach ihrem Studium zunächst als Lehrerin gearbeitet hatte. Um dem Innenleben junger Fabrikarbeiterinnen auf die Spur zu kommen, ließ sie diese Aufsätze über ihre Zukunftserwartungen schreiben und nahm so das Instrument der Aufsatzforschung voraus, das kurze Zeit später in jugendpsychologischen Untersuchungen zur Anwendung kam. Zusammen mit der Dissertation von Marie Bernays (1910) über den Einfluss der Industriearbeit auf den Lebensstil der Arbeiterschaft gehört die Untersuchung von Rosa Kempf, die 1911 unter dem Titel „Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München“ erschien, zu den bedeutsamsten Teilstudien der Enquete „Untersuchungen über Auslese und Anpassung der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie“ (S. 229). Unmittelbar nach der Promotion arbeitete Kempf als freie Mitarbeiterin am Institut ihres Doktorvaters Lujo Bretano, während sich Bernays vergeblich um die Möglichkeit einer Habilitation bemühte. Beide Nationalökonominnen konnten sich schließlich beruflich als Direktorinnen an sozialen Frauenschulen etablieren, wurden jedoch mit dem beginnenden Nationalsozialismus aus ihren Ämtern vertrieben.

Mit ihrem Buch ist es Marion Keller auf 444 gut lesbaren Seiten gelungen, die Entstehung der Gesellschaftswissenschaften durch die Beiträge von vier bedeutenden Nationalökonominnen aus einer geschlechterspezifischen Perspektive zu erweitern. Dabei bestechen zum einen die detaillierten, auf einer breiten Basis zeitgenössischer Quellen durchgeführten Fallstudien, die sowohl die wissenschaftlichen Arbeiten der Pionierinnen im Kontext relevanter Sozialstrukturen dezidiert erläutern als auch aufschlussreiche Einblicke in die Arbeitsbiografien früher Sozialwissenschaftlerinnen gewähren. In der Verbindung dieser Betrachtungsweise, bei der Perspektiven der empirischen Sozialforschung, der Wissenschaftsgeschichte und der Frauen- und Geschlechterforschung miteinander verknüpft werden, liegt zum anderen aber eine wesentliche Schwierigkeit der Studie begründet. Denn die vielfältigen Aspekte, welche die Rekonstruktion der einzelnen Fallstudien aufzeigen, werden in den jeweiligen „Zwischenresümees“ (S. 122–125; S. 223–226; S. 283–284; S. 354–357) und im Schlussteil (S. 353–357) nur rudimentär zusammengefügt. Von daher bleibt es dem/der Leser/in überlassen, eigene Bilanzierungen anhand der vier Fallporträts und einer leider nicht erfolgten vergleichenden Gegenüberstellung der beiden Gruppen zu ziehen. Darüber hinaus fallen hin und wieder Ungenauigkeiten auf, beispielsweise wenn die Untersuchungen der Nationalökonominnen am Ende allzu subsumtionslogisch als „eine auf qualitativen empirischen Methoden basierende politische Aktionsforschung“ (S. 354) bezeichnet werden. Diese Kritik schlägt auch bei der Beschreibung jener Studien zu Buche, die den weiteren Forschungskontext skizzieren, in dem die Arbeiten der Nationalökonominnen eingebettet gewesen sind. Insbesondere fallen bei den 1891 und 1883 erschienen ethnografisch angelegten Untersuchungen von Paul Göhre und Minna Wettstein Darstellungen auf (S. 88), die sachlich nicht ganz zutreffend sind und der Autorin offensichtlich als Folie dienen, die methodische Überlegenheit der Pionierinnen hervorzuheben. Möglicherweise hat die Identifikation mit dem Forschungsgegenstand hier eine stärker analytische Betrachtungsweise behindert.

Trotz aller genannten Kritikpunkte stellt das Buch von Marion Keller eine lesenswerte Lektüre dar, da es eine Gruppe nur wenig rezipierter Sozialwissenschaftlerinnen ans Licht hebt und damit sowohl eine Lücke in der Geschichte der empirischen Sozialforschung als auch in der Historiografie der bürgerlichen Frauenbewegung schließt. Nicht zuletzt veranschaulichen die Fallporträts einen eigenständigen Typus weiblicher Intellektueller, dem es im Zuge der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“2 gelang, an der männlichen Wissenschaftskultur zu partizipieren, dessen lange währende Vergessenheit im Wissenschaftsdiskurs aber zugleich auch auf die „Unterdrückungsgeschichte weiblicher Wissenschaft“3 verweist.

Anmerkungen:
1 Vgl. Theresa Wobbe, Instabile Beziehungen. Die kulturelle Dynamik von Wissenschaft und Geschlecht, in: dies. (Hrsg.), Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 2003, S. 13–38.
2 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 2, S. 165–193, hier S. 165.
3 Sabine Hering, „Frühe Frauenforschung: Die Anfänge der Untersuchungen von Frauen über Frauen, in: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2004, S. 285–297, hier S. 291.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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