Cover
Titel
Die Politik von Athenes Schild. Zur dramaturgischen Logik des Politischen im fiktionalen Film


Autor(en)
Nuy, Sandra
Reihe
Schriften zur Medienmorphologie und Medienphilosophie
Erschienen
Berlin 2017: LIT Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaudija Sabo, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Der von Sandra Nuy mit Bedacht gewählte Buchtitel eröffnet sogleich ein breit gefächertes Themenspektrum, das sich auch in ihrer Monografie in Hinblick auf „die dramaturgische Logik des Politischen im fiktionalen Film“ widerspiegelt. Athenes Schild, das nach Kracauer metaphorisch als Filmleinwand verstanden werden kann, verweist anschaulich auf die Funktion des Films als Medium, das einen gesellschaftskritischen Blick aus der Distanz heraus ermöglicht.1 Denn Athenes Schild verhalf dem griechischen Helden Perseus bekanntlich dazu, die Medusa zu besiegen, indem er ihren Kopf abschlug. Dank des Schildes musste der griechische Held dem todbringenden, schlangenumwobenen Gesicht der Medusa nicht direkt ins Auge sehen und konnte sich so vor der Versteinerung schützen. Athenes Schild tritt in der Sage zwischen den tödlichen Blick der Gorgone und den Held Perseus.

Überträgt man dieses „Dazwischenschieben“ auf die Filmleinwand, so wird diese zu einer Projektionsfläche, die zwar die „Realität“ und damit gesellschaftskritische Prozesse widerspiegelt, ihnen jedoch den direkten Schrecken nimmt. So können die dargestellten Schrecken durch die (Computer-, Kino- etc.) Leinwand in einer quasi geschützten Umgebung konsumiert werden. Diese angsteinflößenden Filme nimmt Nuy in ihrer Monografie in den Blickpunkt, zerlegt sie theoretisch in ihre Einzelteile und widmet sich schließlich der noch wenig beleuchteten Frage, inwiefern die Dramaturgie Einfluss auf die politische Erzählung nimmt und wie diese politisch kodiert ist.

Nach Nuy ist die dramaturgische Logik des Politischen im fiktionalen Film erzähltheoretisch verankert und damit vor allem der Narratologie verpflichtet. Bedauerlicherweise werden damit jedoch die dramaturgischen Möglichkeiten des „Visuellen“ in weiten Teilen ausgeklammert – und damit auch der gesamte Bereich der symbolisch besetzten Kommunikation, Repräsentation und Reflexivität. Nuy stützt sich diesbezüglich auf die Grundlagen des Theaters. Doch gerade die Theaterwissenschaften setzen sich seit einigen Jahrzehnten verstärkt mit den Möglichkeiten und den Funktionsweisen visueller Dramaturgie auseinander. Schon Anfang der 1990er-Jahre wurde von Knut Arntzen die „visuelle Dramaturgie“ definiert, um eine dramaturgische Praxis zu beschreiben, die meist weder auf Text noch auf Sprache, sondern auf Bildern basiert und ihre Expressivität vorwiegend aus ihrer Visualität gewinnt.2 In seiner Studie „Postdramatisches Theater“ hat Hans-Thies Lehmann diese Idee weiterentwickelt, indem er „Visuelle Dramaturgie“ nicht als eine exklusiv visuell organisierte Dramaturgie beschreibt, sondern als eine, die sich nicht dem Text unterordnet und ihre Logik frei entfalten kann.3

Nichtsdestotrotz wird von Nuy ein beachtenswerter und detaillierter theoretischer Rahmen vorgestellt, um die dramaturgische Logik des Politischen zu entschlüsseln. Gleichzeitig verfolgt sie den Anspruch, ein „Handwerkszeug“ aus Begrifflichkeiten für die Analyse zu entwickeln. Die Herleitungen der Begrifflichkeiten gehen jedoch ein wenig in der Vielfalt der theoretischen Ausführungen unter; hier hätten mehr integrative Beispiele von filmischen Erzeugnissen geholfen, um mithilfe einer anwendungsorientierten Folie neue Maßstäbe zu setzten.

In den auf acht Kapiteln aufgeteilten Ausführungen, inklusive Einleitung und Zusammenfassung, werden in den ersten zwei Abschnitten (Kapitel 2 und 3) die in der Monografie operativ genutzten Begrifflichkeiten vorgestellt. Außerdem finden sich hier detailreiche und gut erfasste Ausführungen über Film, Politik und Dramaturgie. Die skizzenartigen Darstellungen an dieser Stelle bieten einen Überblick und werden in den darauffolgenden Kapiteln theoretisch und methodisch weiter ausdifferenziert. Das vierte Kapitel widmet sich dann umfassend den Figurationen im Film. Dabei wird von der Ontologie der Figuren bis hin zu der jeweiligen Anthropologie der Schauspieler/innen ein weiter Bogen gespannt.

Das fünfte Kapitel nimmt Situationen, Orte und Zeiten in den Blickpunkt. Dabei werden unter anderem sowohl chronologische als auch non-lineare Erzähltechniken sowie Konfliktlinien behandelt. Die Konfliktkonstellationen innerhalb der filmischen Narration werden von Nuy gesondert durch ihre strukturierenden dramaturgischen Fähigkeiten herausgehoben und von ihr als „Architektin des Handlungsverlaufs“ bezeichnet, welche die Wissensvermittlung organisiert und dadurch auch die Aufmerksamkeit der Rezipienten lenkt. In diesem Zusammenhang erwähnt Nuy das filmische Konzept der Heldenreise4 leider nur am Rande. Bei der Heldenreise ist ebenfalls eine organisierte Abfolge von Konflikten sowie Höhepunkten und Figurationen innerhalb eines Films festgelegt und ablesbar. Hierbei wäre von Interesse gewesen, inwiefern die Heldenreise sich ergänzend zu der Fragestellung Nuys verhält oder ob sie diese gegebenenfalls weiterführt.

Im sechsten Kapitel geht es dann vornehmlich um die von Nuy formulierte „Informationsvergabe“ sowie die damit verknüpften Strategien der Wissensvermittlung. Wie werden hier politische Botschaften weitergetragen? Die damit verknüpften Erzählperspektiven nehmen einen entscheidenden Stellenwert in Hinblick auf politische Weltanschauungen sowie die Aushandlung von Deutungshoheiten ein. Ausgespart werden kameraästhetische Semantiken, dabei würde die Frage, inwiefern Kamerafahrten politisch sein können, weitere Perspektiven eröffnen.5

Das letzte Kapitel widmet sich der dramaturgischen Analyse. Die filmischen Portraits Adolf Hitlers werden dabei als Beispiele genutzt, um einen Einblick in die unterschiedlichen möglichen Darstellungsweisen zu erlangen und die zuvor entwickelten Begrifflichkeiten zur Anwendung zu bringen. Darunter fallen unter anderem die Filme: „The Great Dictator“ (USA 1949), „To be or not to be“ (USA 1942), „Der Untergang“ (D 2004) und „Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler“ (D 2007). Als zweiter Analysekomplex werden Darstellungen der RAF herangezogen – wie beispielsweise Fassbinders Filme zur RAF oder auch der Film „Baader Meinhof Komplex“ (D 2007/2008). Nuy begrenzt sich explizit auf politisch geprägte „Populärfilme“. Eine mögliche Ergänzung hätten jedoch auch nicht offensichtlich politische Filme geboten, also Filme, die mehr zwischen den Zeilen eine politische Botschaft haben, denn so wie in den späten 1960er-Jahren der Ansatz lautete „the private is political“ nimmt auch der Film schlussendlich immer eine politische Stellung ein, egal welchen Themenkomplex er behandelt.

Das letzte Kapitel bietet zwar einen facettenreichen Überblick über die verschiedenen Darstellungsweisen Hitlers sowie der RAF, ein „in“ das filmische Material gehender Einblick fehlt jedoch. Mikroanalysen einzelner Filmsequenzen, die eventuell auch das in den vorherigen Kapiteln erarbeitete Analysemodell klarer hätte hervortreten lassen können, bleiben leider ausgespart.

Letztlich bietet Nuy mit ihrer Monografie einen profunden Überblick über grundlegende theoretische Ausführungen, die sich mit den Begrifflichkeiten Film, Dramaturgie und Politik auseinandersetzen und schafft so einen guten Einblick in das Feld. Das Erstellen eines entsprechenden Handwerkszeugs wirkt überzeugend und notwendig, um die dramaturgische Logik des Politischen zu entschlüsseln. Letztere geht jedoch ein wenig in der Masse an theoretischen Ausführungen verloren, ebenso wie die Spezifika des vorgelegten Konzepts. Immerhin finden die Begrifflichkeiten im letzten Kapitel eine Anwendung. Besser wäre es jedoch gewesen, die Beispiele integrativ in den Text einzuflechten – so wirkt der letzte Teil ein wenig angehängt.

Anmerkungen:
1 „Die Filmleinwand ist Athenes blanker Schild“; Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1985, S. 395.
2 Vgl. Knut Ove Arntzen, A Visual Kind of Dramaturgy. Project Theater in Scandinavia, in: Claude Schumacher / Derek Fogg (Hrsg.), Small is Beautifull, Glasgow 1991, S. 43–48.
3 Vgl. Hans-Thies Lehmann. Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 2011, S. 156.
4 Aus der Vielzahl an Theorien zu Heldenreisen stellt die Publikation von Joseph Campbell eine der bekanntesten dar: ders., Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt am Main 1999.
5 Vgl. Eva Hohenberger, Sind Kamerafahrten politisch?, in: Aylin Basaran / Julia Köhne / Klaudija Sabo (Hrsg.), Zooming in and Out. Produktionen des Politischen im neueren deutschsprachigen Dokumentarfilm, Wien 2013, S. 63–79.

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