K. Raptis: Die Grafen Harrach und ihre Welt 1884–1945

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Titel
Die Grafen Harrach und ihre Welt 1884–1945.


Autor(en)
Raptis, Konstantinos
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
373 S., 29 s/w-Abb.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Schlemmer, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

„Von altösterreichischem Adel handelt diese Studie, von einer gräflichen Familie und ihrer Welt […]“ (S. 15). Mit diesen Worten beginnt Konstantinos Raptis‘ Arbeit über die Grafen Harrach zwischen 1884 und 1945 – und dieser thematischen Vorgabe bleibt er von der ersten bis zur letzten Seite treu. Mit den Grafen Harrach im Mittelpunkt öffnet Raptis ein Panorama adeligen Lebens in Zentraleuropa und schreibt sich von Anfang an in Narrative der Adelsgeschichte ein, etwa einen langen „Niedergang des Adels seit dem frühen 19. Jahrhundert“ und den „Kampf ums Obenbleiben“ (S. 15). Daraus leitet Raptis eine als These präsentierte Bestandsfeststellung der bisherigen Forschung ab: Trotz Verlusterfahrungen, Krisen und Umbrüchen bis 1918 gelang es vielen Adeligen ihr Vermögen und Einkommen größtenteils zu bewahren und ein „standesgemäßes“ Leben weiterzuführen sowie als „lokale Elite“ (S. 16–17) weiter zu agieren. Neben Raptis‘ Kernanliegen, die Erforschung von Strategien sowie Grenzen der Selbstbehauptung des zentraleuropäischen Adels zu ergänzen, strebt er eine weitere Kontextualisierung dahingehend an, dass er Abgrenzungen vom Bürgertum veranschaulichen, Widerständigkeit gegen neue „am praktischen und ökonomischen Nutzen orientierte[] Wertmaßstäbe“ (S. 26)1 zeigen und die Repräsentation adeligen Lebens darstellen will. Der Begriff Familie steht dabei im Zentrum der empirischen Arbeit, was auch Raptis‘ Quellenauswahl beeinflusst, deren Kern aus dem innerfamiliären Briefverkehr besteht.

Den Anfang macht stringenterweise die Familie, wobei sich das erste Kapitel zunächst mit der Frage beschäftigt, was Familie für Adelige eigentlich bedeutet habe. Diese habe, so Raptis, „gerade im Adel […] stets die Gesamtheit der Personen einer Verwandtschaftsbeziehung“, also auch alle Angeheirateten, umfasst (S. 45). An der Spitze dieser Beziehungen standen jeweils die Familienoberhäupter, die in multiplen Rollen auftraten und, zusammengefasst, Macht über andere in der Familie ausübten. Frauen dagegen spielten eine untergeordnete Rolle, was Raptis differenziert erörtert und etwa betont, dass deren Lebensumstände nicht selten Symptome nach sich zogen, die man heute als Depression diagnostizieren würde (S. 66–71). Kinder wiederum lebten in einer „größtenteils getrennten Lebenswelt von Erwachsenen“ (S. 71), sahen sie in den ersten Lebensjahren doch häufiger Kindermädchen und Hauslehrer als etwa den Vater.

Im zweiten Kapitel erörtert Raptis das Wirtschaften der Familie Harrach. Ausgehend von der Annahme, Fideikommisse seien für den Adel im 19. und 20. Jahrhundert als „wirkungsvoller Schutzmechanismus für den adeligen Grundbesitz“ von großer Bedeutung gewesen (S. 96), legt er Besitzgrößen, -verteilung und deren Entwicklung anschaulich dar. Interessant ist Raptis‘ Befund, dass das Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie für den Besitz der Harrach kein so gravierender Einschnitt war. Nicht nur anhand der Wirtschaftsführung kann Raptis Befunde liefern, welche die Transformation des Herrschaftsbesitzes nach 1848 und die Intensivierung der Agrarwirtschaft verdeutlichen, sondern er kann implizit auch manches Klischee über unwirtschaftlich agierende Adelige widerlegen.2 Ebenso machen seine Erkenntnisse zur hohen Eigenbewirtschaftungsquote gerade der Wälder und der industriemäßig betriebenen Forstwirtschaft hellhörig.

Das dritte Kapitel leitet Raptis mit einer Baugeschichte einzelner Schlösser ein. Er kontextualisiert dabei ebenso die Bedeutung von Häusern für Adelige, wie auch Veränderungen dieser keineswegs „fossile[n] […] Wohnstrukturen“ (S. 152). Erstaunlicherweise fehlt hier die Familie: Kondominate oder Wohnrechtsansprüche naher und ferner Verwandter sowie Erbschaften bleiben unerwähnt. Dafür veranschaulicht Raptis die „Multilokalität“ (S. 159) der Familie Harrach: Regelmäßig verreisten Familienmitglieder, was Raptis tabellarisch darstellt und dabei besonders auf Kuraufenthalte eingeht. Ebenso zogen die Familienoberhäupter mehrmals im Jahr um, gingen von der Stadt aufs Land und zurück. Hier sieht Raptis eine Entwicklung im Gange, die in ganz Europa das Verhältnis des Adels zu Stadt und Land veränderte.

Das vierte Kapitel handelt vom Alltag der Harrach, welchen Raptis in die Bereiche Privatsphäre sowie „Gesellschaft“ unterteilt – wobei Letztere für Hochadelige nur eine begrenzte, nämlich inneradelige Welt umfasste (S. 202). Exklusivität und Standesbewusstsein bestimmten den Alltag, etwa bei familieninterner Freizeitgestaltung. Dieser wurde „im engeren Kreis“ und vor allem auf dem Land nachgegangen (S. 194), wobei Raptis die besondere Bedeutung des Pferdes und die Übernahme neuer Trends vom britischen Adel, etwa Tennis, darstellt. Die „Gesellschaft“, bei Dinés oder Teegesellschaften, war ritualisiert und vom Denken in Familienkategorien geprägt: Geselliges Beisammensein zelebrierte Zusammenhalt, Bälle dienten dazu, den „Heiratsmarkt zu erkunden“ (S. 211). Dem Thema Jagd widmet Raptis einen gesonderten Abschnitt des Kapitels als eine „typisch adelige Tätigkeit“ (S. 221).

Das Schlüsselkapitel ist das fünfte, da Raptis hier die bisherigen Erkenntnisse mit Fragen zu Selbstverständnis und Positionierung Adeliger in ihrer Umwelt verquickt. Diese für die Adelsforschung insgesamt wichtige Diskussion läuft oft Gefahr, adelsimmanentes Denken zu reproduzieren – wenn nicht gar zu konstruieren; ein Problem, das auch Raptis nicht umfahren kann: Ein „Anspruch auf Überlegenheit“ wird zur Vorannahme (S. 242), um die „Abschottung“ gegenüber den „ [bürgerlichen] Konkurrenten […] auf dem Gipfel der sozialen Pyramide“ darzustellen. Eine Definition von Bürgertum bleibt Raptis schuldig, stattdessen versteigt er sich zu der Feststellung: „Wie allgemein bekannt, neigten in der Regel Bürgerliche dazu, den aristokratischen Lebensstil nachzuahmen.“ (S. 245) Unterlegt ist dies mit einer Fußnote, die wissen lässt, dass „die Bourgeoisie nicht ohne Einschränkung als führender Vertreter des modernen Stils betrachtet“ werden könne.3 Von da aus geht Raptis auf die „gemeinsame adelige Identität“ in Zentraleuropa ein (S. 251), die er über Aussagen Stephanie Harrachs (Interview von 2004) als Wertekanon konstruiert: Patriotismus, Dienst, Pflicht und Ehre. Die scheinbare Zeitlosigkeit der Begriffe bleibt dabei unhinterfragt.

Das darauffolgende sechste Kapitel ist in die Bereiche Frömmigkeit und Wohltätigkeit aufgeteilt. Beide Bereiche sieht Raptis als wichtig für die Konstruktion des adeligen Selbstverständnisses an. Über Frömmigkeit wurde dabei stets eine enge Verbindung zur katholischen Kirche praktiziert und zugleich, etwa über Kirchenpatronate, Einfluss auf die jeweils lokale Bevölkerung ausgeübt. Die nach außen getragene Wohltätigkeit manifestierte sich ebenfalls auf lokaler und regionaler Ebene. Eine wichtige Feststellung, die Raptis an umfangreichen Zitaten der Forschungsliteratur festmacht, überraschenderweise aber an keiner einzigen Quelle (S. 270).

Im letzten Kapitel, das eine knappe chronologische Abhandlung über politische Gesinnung und Engagement ist, zeigt Raptis, dass die Harrach während der Habsburgerzeit nicht in führenden Regierungsämtern, aber in der Landespolitik engagiert waren und enge Beziehungen zum Kaiserhaus pflegten. Der Einsatz für Böhmen stand dabei weder in Widerspruch zur Kaisertreue, noch zu einem moderat-konservativen Patriotismus, den besonders Otto Harrach während des Ersten Weltkrieges und danach als Zeitungsherausgeber und Essayist propagierte. Allerdings sieht Raptis nach dem Auseinanderbrechen der K.u.K. Monarchie wachsende Spannungen und eine „Entfremdung“ (S. 302) der Harrach von der politischen Landschaft.

Konstantinos Raptis formuliert auf den gut 300 Textseiten präzise und durchweg verständlich, liefert eine große Menge an Quellenbeispielen, die jedoch nie erschlagend wirken. Er hält sich dabei stets an sein nachvollziehbar gegliedertes Arbeitsprogramm und argumentiert von der Familie aus. Dabei liegt die eine Schwäche von Raptis‘ Werk darin, dass er dieses bereits in der Einleitung zu einem „Beitrag zur Minderung der Forschungslücken in Bezug auf den altösterreichischen Adel im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert“ reduziert. Die daraus resultierende Festlegung auf eingefahrene Wege älterer Adelsforschung lassen manch empirische Erkenntnis ungehört verhallen. Hervorzuheben wären hier unter anderem Raptis‘ differenzierte Einbeziehung adeliger Frauen in seine Analyse. Aber auch die detaillierte Darstellung des Waldbesitzes, die bei ihm ohne Forschungsdiskussion auskommt.4

Ebenso präsentiert Raptis die Zeit des Ersten Weltkriegs als großen Umbruch, zeigt aber eigentlich durchweg, dass die Geschichte des langsamen Niedergangs, oder des Obenbleibens, über klassische Epochengrenzen hinweg erzählt werden muss, dass Adelsgeschichte hier einen anderen Blickwinkel auf die Moderne ermöglicht.5 So kommt er einerseits zu dem Schluss, die Abschaffung des Adels in Österreich 1919 habe die dortigen Adeligen hart getroffen, weil sie diese „nicht mehr offiziell als besondere Gesellschaftsgruppe auftreten und wirken“ ließ, relativiert aber sogleich und hält fest, die Umbrüche 1919 seien „keineswegs ein radikaler Schnitt“ (S. 309) gewesen. Dabei konnte er in den empirischen Kapiteln doch immer wieder zeigen, dass gerade nicht „offizielle“ Positionierungen, sondern ein über lange Zeit selbstkonstruierter Habitus und praktizierte Familientraditionen das Agieren Adeliger in der Gesellschaft prägten. Nichts desto weniger wird hier eine überaus lesenswerte Monographie rezensiert, deren empirische Erkenntnisse wichtige Impulse für zukünftige adelsgeschichtliche Studien beinhaltet.

Anmerkungen:
1 Diese Formulierung übernimmt Raptis aus Hans Wilhelm Eckardt, Herrschaftliche Jagd, bäuerliche Not und bürgerliche Kritik, Göttingen 1976.
2 Hier wäre ein Verweis auf vergleichbare Erkenntnisse erfreulich gewesen, vgl. René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003.
3 Eigentlich ist die Adelsforschung über die Dichotomie Adel-Bürgertum längst hinaus, vgl. stellvertretend Charlotte Tacke, "Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden". 'Adel' und 'Adeligkeit' in der modernen Gesellschaft, in: Neue politische Literatur 52/1 (2007), S. 91–123, hier S. 93–98.
4 Zur Diskussion der deutschsprachigen Adelsforschung über die Bedeutung von Fideikommiss und Forst vgl. u. a.: Monika Wienfort, Wirtschaftsschulen, Waldbesitz, Wohltätigkeit. Neue Handlungsspielräume des deutschen Adels um 1900, in: Walter Demel / Barbara Kink (Hrsg.), Adel und Adelskultur in Bayern. München 2008, S. 395–418; Tacke, Kurzschluss, insbes. S. 109–111; Wolfram Theilemann, Adel im grünen Rock. Adliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866–1914, Berlin 2004.
5 Vgl. Monika Wienfort, Adlige Handlungsspielräume und neue Adelstypen in der "Klassischen Moderne" (1880–1930), in: Geschichte und Gesellschaft 33/3 (2007), S. 416–438.

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