Cover
Titel
The Art of the Bribe. Corruption Under Stalin 1943–1953


Autor(en)
Heinzen, James
Reihe
The Yale-Hoover Series on Authoritarian Regimes
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 406 S.
Preis
€ 63,49; £ 50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Kaiser, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Bis zum Ende der Sowjetunion zeichnete sich das Thema der Bestechlichkeit bzw. der Korruption durch seine starke Ambivalenz aus: Einerseits gehörten diese beiden Phänomene, genauso wie die Pflege inoffizieller Netzwerke (blat) zu den Alltagserscheinungen, mit denen beinahe jeder Sowjetbürger in der einen oder andere Form im Laufe seines Lebens konfrontiert war. Andererseits verkündete die Sowjetpropaganda stolz, Korruption und Vetternwirtschaft seien in erster Linie Kennzeichen des kapitalistischen Auslandes und hätten in einer „demokratischen sozialistischen Gesellschaft“ keinen Platz mehr. Die spektakulären „Musterprozesse“ gegen die „Diebe des sozialistischen Eigentums“, die von Zeit zu Zeit stattfanden, sollten nicht nur die Entschlossenheit der Staatsmacht demonstrieren, gegen dieses Übel vorzugehen, sondern auch die Singularität der Korruption in der Sowjetgesellschaft verdeutlichen. Erst nach dem Ende der Sowjetunion wurde das wahre Ausmaß der Korruption bekannt, die in den Partei- und Staatsorganen seit dem Entstehen des neuen Regimes bis zu dessen Zerfall grassierte. Seitdem erschien eine Reihe wissenschaftlich fundierter Arbeiten, die unsere Kenntnis über die Korrumpiertheit der sowjetischen Gesellschaft erheblich erweitert haben.1

Mit wenigen Ausnahmen konzentrierte sich die Forschung dabei entweder auf die Zeit bis zum Beginn der Industrialisierung 1928 oder aber auf die so genannte Epoche der Stagnation unter Leonid Breschnew. Die Frage nach der Verbreitung von Bestechlichkeit und Korruption unter Stalin wurde zwar immer wieder gestellt, jedoch nicht befriedigend beantwortet. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges und des Nachkriegs-Stalinismus auf die „Verdorbenheit“ der Breschnew-Epoche wurden aus den Analysen weitestgehend ausgeklammert.

Diese Forschungslücke schließt das neue Buch von James Heinzen, Geschichtsprofessor an der Rowan University, New Jersey, indem explizit die Bestechlichkeit und Korruption in der Sowjetunion in der Zeit von 1943 bis zu Stalins Tod zehn Jahre später in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden. In insgesamt acht Kapiteln nähert sich der Verfasser seinem Forschungsgegenstand aus mehreren Richtungen und erreicht dadurch eine einzigartige Multiperspektivität. Die unmittelbaren Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Praxis der illegalen Vorteilsgewährung sowie deren Annahme durch Beamte kommen dabei ebenso zur Sprache wie die alltägliche Korruption unter Richtern und Staatsanwälten. Gerade im letzteren Fall blühte die Bestechlichkeit erst recht auf, wenn es nicht um hoch brisante politische Anklagen ging, sondern „lediglich“ um wirtschaftliche Verbrechen und Vergehen. Positiv hervorzuheben sind die Bemühungen Heinzens, das Phänomen des „Geschenkgebens“ als integralen Bestandteil der alltäglichen Verhaltensnormen sowjetischer Bürger in zwei Mikrostudien (Kapitel 3 und 4) zu beleuchten, wobei er die einfachen Menschen, so oft es die Quellenlage eben zulässt, selbst zu Wort kommen lässt (siehe z.B. S. 95–103; 111–115). Dies ermöglicht dem Leser nicht nur, die vielfältigen Beweggründe, von denen sich die „unvollkommenen“ Sowjetmenschen bei der Bestechung von Amtspersonen leiten ließen sowie deren tiefe Verwurzelung in der vorrevolutionären – nicht unbedingt russischen – Tradition nachzuvollziehen (so vor allem im Kapitel 4, wo es um den Bestechlichkeits-Prozess gegen den georgischen Richter Levan Tschitschua im Jahre 1952 und dessen Vorgeschichte geht), sondern verdeutlicht auch die komplizierte Methodik, die diesen Praktiken innewohnte. Die Frage, welcher Amtsträger die Vorteilsgewährung akzeptieren würde und welcher nicht, war für das Gelingen der ganzen Aktion mehr als entscheidend; sie war für beide Seiten überlebenswichtig. Angesichts der drakonischen Strafen, die der Sowjetstaat spätestens seit 1946 sowohl gegen die Geber als auch gegen die Nehmer der Bestechungsgelder verhängte – bis zu zehn Jahre Arbeitslager (S. 35) –, war das Risiko, an den „Falschen“ zu geraten und das eigene Leben und Karriere für immer zu ruinieren, immens hoch. Unter diesen Umständen geriet die Auswahl des Partners und des passenden Augenblicks für die „Gabenüberreichung“ in der Tat zu einer hohen Kunst, wie es im Buchtitel heißt.

Doch was versteht Heinzen unter Korruption? Er wählt eine, nach seinen eigenen Worten „klassische und relativ spezifische Definition“ der Korruption als „the abuse of one’s official position for the purpose of self-enrichment or other material advantage“ (S. 2). Dabei ist er sich der dieser Definition innewohnenden Ambiguität mehr als bewusst. Seine Wahl rechtfertigt er mit der Möglichkeit, damit einen geeigneten breiteren „framework of official corruption“ zu schaffen, um sich dann im nächsten Schritt explizit auf die Fragen nach der Vorteilsgewährung und -annahme durch die Amtspersonen zu fokussieren (S. 2f.). Doch die Bestechung ist für Heinzen mehr als bloß ein Synonym für Korruption; sie repräsentiert „the paradigmatic variety of corruption“ (S. 3). Die Lektüre seines Werkes offenbart nicht nur auf eine eindrucksvolle Art diese Vielfalt, sondern zieht auch wichtige Parallelen zur Geschichte Russlands vor 1917. Die Strafgesetzgebung der Zarenzeit war nämlich durchaus imstande, zwischen verschiedenen Arten der Vorteilsgewährung wie mzdoimstvo (das Anbieten bzw. Annehmen eines Geschenks für etwas, was der Beamte sowieso tun durfte und worauf der Geber des „Geschenks“ auch Anspruch hatte) und lichoimstvo (das Annehmen eines Vorteils für eine Aktion, die offensichtlich gesetzeswidrig war) zu unterscheiden. Diese feinen Abstufungen eröffneten den Gerichten einen relativ großen Handlungsspielraum, wenn es darum ging, die Aktionen der Beamten zu bewerten. Im scharfen Gegensatz dazu stand die sowjetische Gesetzgebung mit ihrer rigorosen Einstufung von „Geschenken an die Amtspersonen“ unabhängig von ihrem Wert (oft ging es um Lappalien wie eine Flasche Wodka) oder dem Zeitpunkt der Gewährung als Verbrechen, das erbarmungslos geahndet werden musste (S. 104f.).

Genau diese Kriminalisierung von Bagatelldelikten sowie die wellenmäßig erfolgende Verfolgung und Bestrafung der Übeltäter (siehe z.B. den sehr interessanten und gut recherchierten Abschnitt über die gezielten Aktionen gegen das berüchtigte Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR Ende der 1940er-Jahre, S. 217–229) markieren das für Heinzen typisch Sowjetische an dem Phänomen der Bestechlichkeit der Amtspersonen, auch wenn man als Leser, zugegebenermaßen, etwas Zeit braucht, um diese Schlussfolgerung nachzuvollziehen. Da der Sozialismus gemäß der herrschenden Ideologie im Idealfall alle objektiven Anreize für gesetzeswidriges Verhalten eliminieren sollte, betrachtete man die Bestechung als „a disease that would be eradicated once the cruelties and injustices inherent to capitalism – poverty, exploitation, unemployment, and class hatred – disappeared in the process of perfecting this revolutionary society“ (S. 281). Dass diese „Ausrottung“ auch dreißig Jahre nach ihrer Machtergreifung nicht verwirklicht wurde, war für die sowjetischen Machthaber der Nachkriegszeit keinesfalls ein Beweis für das Versagen eigener Ideologie. Es wurde als Ergebnis gezielter „feindlicher Aktionen“ dargestellt, denen mit aller Härte begegnet werden sollte. Der Misserfolg dieser Aktionen war vorprogrammiert. Die kommunistische Elite verstrickte sich immer mehr in Widersprüche, die aus dem System selbst erwuchsen und die aufzulösen sie außerstande war (S. 283).

Berücksichtigt man die Spezifik des Forschungsgegenstandes sowie die Tatsache, dass die Quellenbasis, die der Geschichtswissenschaft momentan zur Verfügung steht, immer noch sehr unvollständig und „dünn“ ist, kann man von Heinzens Buch ehrlicherweise keine bahnbrechenden Erkenntnisse erwarten. Sein Verdienst liegt vor allem darin, durch sorgfältige und akribische Auswertung der verfügbaren Quellen einen Einblick in das Alltagsleben der Sowjetgesellschaft des Spätstalinismus zu bieten, dessen Vielschichtigkeit und Komplexität nicht unterschätzt werden darf.

Anmerkung:
1 Exemplarisch: Stephen Lovell / Alena V. Ledeneva / Andrei Rogachevskii (Hrsg.), Bribery and Blat in Russia. Negotiating Reciprocity from the Middle Ages to the 1990s, New York 2000; Stephen Solnick, Stealing the State: Control and Collapse in Soviet Institutions, Cambridge, Mass. 1998; Alena V. Ledeneva, Russia’s Economy of Favours: Blat, Networking and Informal Exchange, Cambridge 1998.

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