Titel
Herrschaftspraxis in Bayern und Preussen im 19. Jahrhundert. Ein historischer Vergleich


Autor(en)
Krauss, Marita
Reihe
Historische Studien 21
Erschienen
Frankfurt am Main 1997: Campus Verlag
Anzahl Seiten
467 S.
Preis
€ 51,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Eifert, FB Geschichtswissenschaften, FU Berlin

Das Buch beruht auf einer Habilitationsschrift, die an der Fakultaet fuer Geschichts- und Kunstwissenschaften der Muenchner Ludwig-Maximilians-Universitaet angenommen wurde. Die landesgeschichtliche Arbeit zielt darauf, die Eigenstaendigkeit der bayerischen politischen Kultur zwischen 1848 und 1870/71 vor der Folie des preussischen Herrschaftsstils herauszuarbeiten und zu ueberpruefen, ob Bayern eine Alternative zur preussisch-deutschen Staatsgruendung bot. Die Autorin geht in vier grossen Schritten vor: In einem ersten Kapitel wird "Der theoretische Bezugsrahmen: das Konzept der 'kulturellen Hegemonie' oder 'symbolischen Herrschaft' als Interpretationsmuster" erlaeutert (16-58). Sodann werden im zweiten und ausfuehrlichsten Kapitel der bayerische Koenig und Adel als alte Eliten, drittens die bayerische Buerokratie als "hegemoniale Kultur" und schliesslich viertens konkurrierende Gruppierungen in Bayern untersucht.

Aeusserst problematisch, zumindest sehr eigenwillig scheint mir das methodologische Vorgehen der Verfasserin zu sein. In ihrem grossen 'Theorie'-Kapitel arbeitet sie mit Analogien. Sie benennt eine Reihe fuer ihre Studie zentraler Begriffe, naemlich Gesellschaft, Herrschaft, Kultur, kulturelle Hegemonie, Vergesellschaftung, legitime Ordnung, Revolution. Zu jedem dieser Begriffe wird zumindest eine Referenz eingefuehrt, also Max Weber fuer Gesellschaft und Herrschaft, Pierre Bourdieu fuer symbolische Herrschaft, Karl Rohe fuer politische Kultur, Edward P. Thompson fuer kulturelle Hegemonie etc. Zwischen den einzelnen Begriffen und ihren jeweiligen Referenz-Autoren wird ein Netz aufgezogen, das durch "Naehe", "Verwandtschaft", "Verbindungsglied", kurz durch Korrespondenzen konstituiert ist. Dieses aus Analogien gewebte Netz tritt an die Stelle einer inhaltlichen Verknuepfung der vielen verschiedenen Forschungsinteressen und Forschungsansaetze, die die Autorin auffuehrt. Als wichtigstes Ergebnis ihrer harmonischen, weil jede Kontroverse umgehenden Begriffsdiskussion erkennt die Verfasserin: Symbolische Herrschaft und kulturelle Hegemonie sind synonyme Begriffe (S. 21). Im Verlauf ihrer Untersuchung verwendet sie beide Begriffe auch synonym. Mit dieser Vorgehensweise zeigt sich Krauss in der abschliessenden Wuerdigung ihres Untersuchungsansatzes zufrieden: Erst das "Konzept der kulturellen Hegemonie" habe den zwischenstaatlichen Vergleich ermoeglicht (S. 394). Die Grenzen des Konzeptes sieht sie u.a. erreicht, als "symbolische Herrschaftsrituale im 19. Jahrhundert vielfach von den Gesetzen des Marktes abgeloest wurden. Dies liess neue Abhaengigkeiten und andere Formen des Umgangs zwischen den Beteiligten entstehen" (S. 394). Als ein letztes Beispiel fuer die offenkundig sehr eigene Auffassung von 'symbolischer Herrschaft' und 'kultureller Hegemonie' zitiere ich aus dem Schlusskapitel die folgende Zusammenfassung: "Eine aehnliche Wirkung hatte die allmaehliche Verdraengung des bayerischen Koenigs aus der aktiven Politik: Sie legte ihm zunehmend Gesten symbolischer Repraesentation nahe und verstaerkte damit den bestehenden Herrschaftsstil der kulturellen Hegemonie." (384f.) Die Begrifflichkeit verschwimmt voellig; unklare Begriffe koennen jedoch nicht als analytische Instrumente dienen.

Irritationen loest zudem die Weise aus, in der die Verfasserin das als Kontrast benutzte preussische Beispiel von politischer Kultur (von ihr gleichgesetzt mit Herrschaftsstil) entfaltet. Bayern wird liebevoll als moderner Staat im traditionalen Gewand geschildert (S. 43), in dem sich der 'konstitutionelle Koenig' "bemuehte ..., wenigstens in symbolischen Bereichen alte traditional-paternalistische Konzepte zu revitalisieren" (S. 45). Neben diese "von symbolischer Herrschaft gepraegte, spezifisch bayerische Gemengelage zwischen Moderne und Tradition" (S. 51) tritt dann das militaristische Preussen, das den deutschen Sonderweg bestimmte (54). Das Preussenbild, dessen sich Krauss in leicht durchschaubarer Absicht bedient, laesst kaum ein Klischee aus und markiert deutlich ihre Unkenntnis der preussischen Verhaeltnisse. Es basiert in weiten Teilen auf sehr wenigen Werken der Sekundaerliteratur, wie der Anmerkungsapparat ausweist. So notiert sie als Ergebnis ihrer Studie, dass "im Gegensatz zu der weiterhin umfassenden Herrschaft preussischer Junker ueber ihre Landarbeiter ... der bayerische Adel sehr viel bescheidener auftreten" musste (S. 386). Eine Militarisierung der bayerischen Gesellschaft sieht die Verfasserin erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter preussischem Einfluss verwirklicht (ebda.). Insgesamt sei der bayerische Staat viel zu arm gewesen, um sich einen militaerischen oder polizeilichen Apparat preussischer Effizienz leisten zu koennen. (S. 387) Dies sei zudem nicht noetig gewesen, denn: "Gehorsam und Fuegsamkeit beruhten hier (in Bayern, C.E.) mehr auf religioes abgesicherter, tief verwurzelter Bejahung des Bestehenden als auf dem abstrakten Prinzip der Subordination oder der Angst vor Strafe. Eine Politik der Herrschaftsbewahrung musste sich in Bayern deshalb stets um die innere Zustimmung der Regierten zum System bemuehen. Dies gelang durch die symbolische Herrschaft" (S. 387). Ich erspare es mir, die aufgefuehrten Statements im einzelnen zu widerlegen. Sie belegen allemal, dass ein so durchgefuehrter historischer Vergleich keinen Erkenntnisgewinn erzielen kann.

Ein weiterer sehr ernster Mangel der Untersuchung liegt darin, dass sie Geschlechtergeschichte voellig ignoriert. Besonders im vierten Kapitel, in dem "konkurrierende Gruppen und Konzepte" (man muss wohl ergaenzen: fuer hegemoniale Kultur) vorgestellt werden, faellt dieses Manko deutlich auf. Von Raub, Holzdiebstahl und Lebensmitteltumulten als Bestandteilen eines "traditionalen Rechtsverstaendnisses" zu sprechen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Formen der Rechtsaneignung vornehmlich von Frauen ausgeuebt wurden; ueber Wilderer, Haberer und Raufer zu sprechen, ohne diese "vormodernen Rituale" als Herstellung des 'guten Rechts' durch Maenner zu begreifen, ist vor zwanzig Jahren noch moeglich gewesen, faellt aber heute weit hinter den Stand der (sogar im Literaturverzeichnis aufgefuehrten, aber offenbar nicht zur Kenntnis genommenen) Forschung zurueck. Ebenso sollte es heute nicht mehr moeglich sein, ueber die in Wirtshaeusern entwickelte und gepflegte politische Kultur zu sprechen, ohne zu bedenken, dass dies ein Ort der Maenner ist. Auf das letztlich unhistorische Verstaendnis von 'vormodern' und 'traditional', das hierbei ebenfalls deutlich wird, sei lediglich hingewiesen.

Ein letzter kritischer Einwand sei vorgetragen. Problematisch finde ich die ausschliessliche Konzentration auf Herrschaftspraxis fuer den Untersuchungszeitraum 1848 bis 1870, der durch den Prozess der Parlamentarisierung gepraegt ist und eine mit ihm einhergehende, durch seine Bedingungen strukturierte Politisierung, ohne dies zu beruecksichtigen. Herrschaft wird zudem stets als vertikale Beziehung, als von oben nach unten funktionierende, gesehen. Die Welt in Bayern scheint ganz einfach in eine gute und eine boese einteilbar zu sein; alle Verhaeltnisse sind eindeutige und dichotomische. Dass das Wirtshaus als Ort der Verstaendigung ueber die Gemeindepolitik eben auch andere Formen der Herrschaftspraxis, so etwa die Kompromissfindung, sah, und wie sich die politische Praxis im Wirtshaus zu der in den Parlamenten verhielt, bleibt unbeachtet.

Redundanz blaeht auf und erhoeht niemals die Plausibilitaet. Dies gilt auch fuer Rezensionen. Insgesamt wird in dem vorliegenden Buch ein sehr spannendes Thema auf geschwaetzige Weise vertan. Das ist aergerlich und hoechst bedauerlich.

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