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Titel
Der deutsche Osten in der Schule. Institutionalisierung und Konzeption der Ostkunde in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren


Autor(en)
Weichers, Britta
Reihe
Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen 10
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
632 S.
Preis
€ 102,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Zloch, Georg-Eckert-Institut - Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig

In den letzten anderthalb Jahrzehnten haben Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Umsiedlung der Deutschen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine starke Konjunktur erfahren. Mit der Erschließung neuer Quellen in mittel- und osteuropäischen Archiven, mit regionalen und lokalen Fallstudien sowie mit Fragestellungen zur erinnerungskulturellen und medialen Verarbeitung des Geschehens sind viele neue Erkenntnisse möglich geworden.1 Vor diesem Hintergrund ist die Oldenburger Dissertation von Britta Weichers zu sehen. Die „Ostkunde“ – nicht als ein eigenständiges Fach, sondern als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip konzipiert – war eine Reaktion auf den Verlust der deutschen Ostgebiete nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Gebiete im Bewusstsein der künftigen Generationen lebendig zu halten war laut Weichers ein „zentrales Bildungsanliegen“ der 1950er- und 1960er-Jahre (S. 16). An diesem Anspruch gemessen, war die bisherige wissenschaftliche Beschäftigung mit der Ostkunde recht dünn gesät; zuletzt hat das Thema in den 1970er-Jahren Rolf Meinhardt in seiner erziehungswissenschaftlichen Dissertation verfolgt.2

Weichers behandelt zunächst die Rahmenbedingungen für die Ostkunde in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945, dann folgen die institutionellen Anfänge, die Praxis auf Länderebene, die thematische Ausrichtung und Materialgrundlage des Unterrichts, die Funktion der Ostkunde in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sowie die Geschichtsbilder zu Mittel- und Osteuropa. Dieser umfangreichen Agenda begegnet Weichers mit einer einschränkenden Perspektive: Demnach liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf den „Ostkundlern“ und der von ihnen konzipierten Ostkunde, nicht dagegen auf der Frage, „wie sich Ostkundeunterricht in der Praxis tatsächlich darstellte“ (S. 22). Außerhalb der Betrachtung bleiben erklärtermaßen die politischen Auseinandersetzungen um die Neue Ostpolitik und die „außenpolitische Dimension“ der Ostkunde (S. 22), das heißt die Reaktionen in der DDR, der Tschechoslowakei und in Polen.

Im Ergebnis verweist die Arbeit zunächst darauf, dass sich die Anfänge der Ostkunde vielschichtig präsentierten. In den ersten Nachkriegsjahren äußerten nicht wenige vertriebene Lehrer/innen den Wunsch, von der alten Heimat berichten zu können. Schüler/innen fragten bei ihren Eltern nach Erfahrungen und Erlebnissen vor der Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Umgekehrt fanden Elternabende mit Dokumentationen ostdeutschen Lebens besonderen Anklang. Der Begriff Ostkunde taucht dann erstmals in einem Erlass des bayerischen Kultusministeriums von 1952 auf.3 Der Deutsche Bundestag beschäftigte sich 1952/53 mit den Möglichkeiten einer Ostkunde, wobei als Zielvorstellung ein friedlicher Ausgleich mit den Ländern Ost- und Südosteuropas angeführt wurde. In eine ähnliche Richtung wies 1956 ein Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Bildungs- und Erziehungswesen, des damals höchsten bildungspolitischen Beratungsgremiums von Bund und Ländern. Darin wurden die Flüchtlinge und Vertriebenen aufgefordert, ihre ostmitteleuropäischen Nachbarschaftserfahrungen zum Zwecke der Völkerverständigung einzubringen. Weichers stellt dazu fest, „dass der restaurative Kurs und die völkischen Kontinuitäten, die die weitere Entwicklung des Bildungsanliegens Ostkunde bestimmten, keineswegs der vorherbestimmte Weg waren“ (S. 121).

Dagegen waren die Ostkunde-Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) 1956 wesentlich stärker von „Vertriebeneninteressen“ (S. 111) bestimmt und machten die Ostkunde eigentlich erst zu einem Politikum im Kalten Krieg. Die KMK-Empfehlungen sind in den Grundzügen bereits gut bekannt, etwa die Fokussierung auf den deutschen Anteil der Geschichte Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie die Hervorhebung von Volkstum und Volksgruppen als prägenden Faktoren eines „ostdeutschen Geschichtsbewusstseins“. Als selbstverständlich galten das Insistieren auf der Wiedervereinigung Deutschlands und die Abgrenzung von der kommunistischen Ideologie.

Außerhalb der Empfehlungen der KMK standen Vorstellungen, mit denen die „Ostkundler“ ungebrochen an die Zwischenkriegszeit und den Kampf gegen den Versailler Vertrag anknüpften, wenn sie von der Zufälligkeit der Staatsgrenzen im Osten sprachen und den Nationalsozialismus als lediglich eine Form von vielen Nationalismen in Mittel- und Osteuropa relativierten, wenn sie nicht gar in der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg die „hoffnungsvollen Ansätze einer Neuordnung“ (S. 410) sahen. Die starke Stellung der Sudetendeutschen unter den „Ostkundlern“ zeigte sich darin, dass ein Deutschland in den Grenzen von 1937 als nicht ausreichend erschien und wiederholt die Forderung nach Anerkennung des Münchner Abkommens von 1938 zu vernehmen war.

Die „Ostkundler“ sahen durchaus die Gefahr, solche Vorstellungen nicht einer breiteren Öffentlichkeit in der Bundesrepublik vermitteln zu können und sich selbst „zu einer kleinen, abgeschlossenen Sekte zu entwickeln“ (S. 384). Aber auch um die „offizielle“ Ostkunde der KMK-Empfehlungen stand es offenbar nicht zum Besten, weder methodisch noch inhaltlich. Zumeist gab es kein spezielles Lehrmaterial. Aufschlussreich sind die Beobachtungen zur Praxis der Ostkunde in Oldenburger Schulen, die Weichers in einem Exkurs vermittelt. Ohne nähere Kommentare führt die Autorin Themen und Titel aus Berichten an die Schulbehörden auf; dennoch wird deutlich, dass es sich um sehr Unterschiedliches handelte, was unter dem Stichwort Ostkunde geboten wurde: Im Deutschunterricht standen die Balladen der Ostpreußin Agnes Miegel neben Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ oder den „Webern“. Im Geschichtsunterricht wurden nicht allein die deutschen kulturellen Leistungen im Osten thematisiert, sondern auch die „Westverschiebung Polens nach 1945“ (S. 263) oder „Staat und Politik in der Gedankenwelt des Kreisauer Kreises“ (S. 292). Nicht durchweg denselben politischen Motiven entsprang es, eine Rückkehr in die ehemaligen Ostgebiete zu propagieren oder aber das DDR-Grenzregime und den Bau der Berliner Mauer zu kritisieren.

Ein kurzer Abschnitt der Arbeit geht auf die pädagogische und öffentliche Kritik an der Ostkunde ein. Demnach zeigten sich westdeutsche Kultusministerien noch zu Beginn der 1950er-Jahre zögerlich gegenüber der Ostkunde und wollten nicht „in die Propaganda zur Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete eingespannt“ werden (S. 84). Gegenüber Protesten der Vertriebenenverbände verwiesen sie auf das Recht der Meinungsfreiheit, wenn Lehrer/innen und Schüler/innen für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie eintraten. Öffentliche Kritik an der Ostkunde übten in den 1960er-Jahren Journalisten der „ZEIT“ und des Norddeutschen Rundfunks sowie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

Spätestens an dieser Stelle merkt ein aufmerksamer Leser, dass sich Weichers stark auf die bereits erwähnte Dissertation von Rolf Meinhardt stützt. Sie zitiert diese nicht nur vielfach, sondern bestätigt auch die wesentlichen Befunde und folgt in Teilen sogar deren Aufbau. Im Unterschied zu Meinhardt referiert Weichers allerdings seitenlang die Positionen der Ostkunde anhand der programmatischen Schriften ihrer Protagonisten, allen voran des aus Böhmen stammenden Soziologen Eugen Lemberg (1903–1976). Dies führt nicht nur zu Wiederholungen, sondern wirft durchaus die Frage nach dem Nutzen auf, da sich die Ostkunde nach Weichers’ eigener Einschätzung intellektuell eher dürftig präsentierte (vgl. S. 16, S. 88, S. 253). Die Schlussfolgerungen aus den langen Zitatpassagen sind daher recht knapp und wenig überraschend: So sei die Ostkunde deutschtumszentriert, revisionistisch, nationalistisch und in Teilen völkisch gewesen.

Anzumerken ist, dass quellensprachliche Ausdrücke bei Weichers mitunter ohne Anführungszeichen stehen (zum Beispiel „Ausweitung Preußens in den Ostraum“, S. 274, oder „Nach Flucht und Vertreibung der Ostdeutschen kamen in Westdeutschland zwei sehr unterschiedliche Volksteile zusammen“, S. 441). Die sudetendeutsche Bewegung der Zwischenkriegszeit wird wiederholt als „Hennlein-Bewegung“ (statt Henlein) bezeichnet. Die Klassifizierung des Historikers und Politikers Otto Hoetzsch (1876–1946) als „Ostforscher“ ist im Lichte der neueren Forschungsdiskussion fraglich, da hier Hoetzschs Ansatz einer komparativ ausgerichteten Geschichte Europas unter besonderer Berücksichtigung Ostmittel- und Osteuropas hervorgehoben wird.4

Aufgrund der allzu eingeschränkten Fragestellung geht die Arbeit nur wenig über den Erkenntnisstand der 1970er-Jahre hinaus. Dagegen wäre ein eingehender Blick in die Praxis der Ostkunde, wie sie im Exkurs zu den Oldenburger Schulen anklingt, ein interessanter Ausgangspunkt gewesen, um den Umgang mit den ehemaligen deutschen Ostgebieten und die Neujustierung mitteleuropäischer Mental Maps an einem zentralen gesellschaftlichen Ort, der Schule, zu erforschen.

Anmerkungen:
1 Siehe als Überblick jetzt Maren Röger, Ereignis- und Erinnerungsgeschichte von „Flucht und Vertreibung“. Ein Literaturbericht, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014), S. 49–64.
2 Rolf Meinhardt, „Deutsche Ostkunde“. Ein Beitrag zur Pädagogik des Kalten Krieges 1945–1968, Oldenburg 1978.
3 Zur Begriffsgeschichte: ebd., S. 171ff.
4 Ingo Haar, Osteuropaforschung und „Ostforschung“ im Paradigmenstreit: Otto Hoetzsch, Albert Brackmann und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Stuttgart 2005, S. 37–54.