R. Filarski u.a. (Hrsg.): Shaping Transport Policy

Titel
Shaping Transport Policy. Two centuries of struggle between public and private sector. A comparative perspective


Herausgeber
Filarski, Ruud; Mom, Gijs
Erschienen
Den Haag 2011: Sdu Uitgevers
Anzahl Seiten
265 S., zahlreiche Abb.
Preis
€ 41,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Ruppmann, Bad Homburg

Transport-, Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte wird immer noch vorrangig auf nationaler Ebene erforscht. Mit Abstand führend sind hier die Eisenbahnhistoriker, während die Entwicklung anderer Verkehrswege, Transportträger oder mobiler Gruppen erst nach und nach in den Blick spezialisierter Fachhistoriker gerieten.1 In den letzten Jahren versuchten Sammelbände zur Verkehrsgeschichte bzw. zur Ausformung europäischer Infrastrukturen die räumliche Engführung zu überwinden, kamen aber – trotz ihrer unbestreitbaren Verdienste für Wissenserweiterung und Erkenntnisgewinne in dieser komplexen Materie – nur wenig über die kommentierte Präsentation von Fachaufsätzen hinaus.2 Übergreifende Vergleiche zur Entfaltung von Verkehrswegen und/oder Verkehrsmitteln mit internationalem Zuschnitt ließen bislang auf sich warten.

Diese Forschungslücke füllt die vorliegende Schrift in bemerkenswerter Weise. Sie stellt das Resultat eines groß angelegten Projekts zur Analyse der Transportgeschichte vor, das die niederländische Behörde Rijkswaterstaat 2005 bei den beiden Autoren in Auftrag gegeben hat, um Einsichten zum Instrumentarium sowie zu den möglichen Wirkungen transportpolitischer Entscheidungen zu bekommen.3 Als Grundlage für die Arbeit wurde eine möglichst umfassende Sammlung der vorhandenen internationalen Literatur zum Thema angelegt und analysiert. Hierbei stellte sich heraus, dass sämtliche Regierungen, Gebietskörperschaften oder kommunalen Entscheidungsträger in allen Ländern mit ähnlichen Fragen konfrontiert waren, wenn sie auf ihrer jeweiligen Zuständigkeitsebene Transportpolitik gestalten und durchsetzen wollten. Dementsprechend war in Längsschnitten herauszuarbeiten, welche symptomatischen Problemstellungen bei Verkehrsträgern im Ablauf der Zeit entstanden sind, welche transportpolitischen Eingriffe die Entscheidungsträger vorgenommen haben und welche langfristigen Effekte das zeitigte. In diesem Kontext mussten die Akteure, nämlich die Transportunternehmer, die Nutzer von Transportleistungen (Passagiere, Autofahrer und Spediteure), die Widersacher der verschiedenen Transportsysteme und die politischen Institutionen eingehender betrachtet werden, um die Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern der Verkehrsmittel, die Schwierigkeiten der Regierenden bei der Ausformung der Transportpolitik und die daraus resultierenden Entscheidungsprozesse zu erfassen. Nicht zuletzt war auch das Verhältnis zwischen Regierungen und Wirtschaftswelt bei der Umsetzung politischer Entscheidungen zu berücksichtigen.

Ruud Filarski, ein Mitarbeiter des niederländischen Verkehrsministeriums, und Gijs Mom, Technikhistoriker an der Technischen Universität Eindhoven, untersuchten dieses vielschichtige Beziehungs- und Interaktionsgeflecht mit einem chronologisch-systematischen Ansatz für sechs verschiedene Transportsysteme in den Ländern Belgien, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweiz, Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten von Amerika. Aus arbeitsökonomischen Gründen konzentriert sich die Betrachtung der ausgewählten Verkehrswege/-mittel auf Schlüsselperioden: Der Aufstieg der Eisenbahnsysteme (1830-1910) bzw. der elektrischen Straßenbahnen (1870-1920), das Aufkommen des Automobils und die Errichtung nationaler Straßennetze (1900-1940), die Herausbildung der Omnibustransports und die Rolle des Staates bei der Regulierung des Wettbewerbs zu Eisen- bzw. Straßenbahnen (1920-1940), der Aufstieg der Lastkraftwagenindustrie und die Einflussnahme des Staates auf die Entwicklung (internationaler) Frachttransporte (1920-2005), sowie die Ära der Massenmotorisierung (1950-2008). Zur Systematisierung des Vergleichs erhielten alle Kapitel einen gleichartigen Aufbau: Entwicklungsüberblicke zum jeweiligen Verkehrsträger; die Akteure und ihre Einflussnahme auf die Evolutionsprozesse; die politischen Entscheidungsträger, ihre Maßnahmen und deren Folgen; Ergebnisse und abschließende Bemerkungen. Wo ausreichendes Erfahrungs- bzw. Archivmaterial fehlte, wurde pars pro toto auf die Beschreibung des Transportsystems und der Regierungspolitik der Niederlande zurückgegriffen.

Die Analysen der einzelnen Verkehrsträger in den ausgesuchten Ländern offenbaren – trotz einiger relevanten Unterschiede aufgrund geografischer bzw. sozio-ökonomischer Strukturen – mehr oder minder kohärente Entwicklungen, während sich zwischen Europa und den USA in vielen Fällen größere Gegensätze zeigen. Schlussendlich mussten sich jedoch alle Regierenden in den letzten zweihundert Jahren mit vier politischen Prinzipienfragen auseinandersetzen: 1) Lässt sich ein effizientes Eisenbahn- und Straßentransportnetz durch zentralstaatliches Handeln aufbauen oder wird dieses Ziel besser durch Dezentralisierung bzw. freies Spiel der Marktkräfte erreicht? 2) Hat der Nationalstaat die Pflicht, das Eisenbahnnetz selbst zu betreiben, um privatwirtschaftliche Monopole oder Oligopole zu verhindern und ‚Gemeinwirtschaftlichkeit‘ sicherzustellen? 3) Müssen staatliche Eingriffe und Regulierungen das bestehende nationale Eisenbahnnetz vor der (unfairen) Konkurrenz durch Lastkraftwagen und Omnibusse schützen, oder ist der Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern zu fördern? 4) Sollen Umweltschutz und Verkehrssicherheit im Handeln staatlicher Regierungen ein größeres Gewicht haben als die Wünsche der Autofahrer nach besseren Straßen und einer Reduzierung von Verkehrsstaus? Und wenn ja: Wie kann man den negativen Umwelteinflüssen des Kraftfahrzeugverkehrs am besten begegnen?

Bedeutung und Qualität des materialreichen Buches ist nicht allein aus der Tatsache abzuleiten, dass es sich um eine komparatistische Pionierstudie handelt. Vielmehr ist besonders die Methodik hervorzuheben, mit der Inhalt und Ergebnisse produziert wurden. Filarski und Mom verfassten zunächst für alle untersuchten Länder Überblicksstudien, die anschließend 43 anerkannten Verkehrshistorikern in zwölf Ländern mit der Aufforderung vorgelegt wurden, sie kritisch zu durchleuchten und mit einem eigenen Beitrag über die entsprechende nationale Entwicklung zu ergänzen. Zwischen November 2008 und März 2009 fanden zusätzlich drei Workshops statt, in denen jeweils zwei Verkehrssysteme noch einmal auf Basis der verfertigten Papiere diskutiert und die Erkenntnisse in Schlussfolgerungen zusammengefasst wurden.4 Das Vorgehen schlug sich auch in den ausführlichen Literaturanhängen nieder. Weshalb jedoch der Index dem Buch nur lose beiliegt, erschließt sich dem Leser nicht.

Durch das mehrfache Filtrieren kam ein signifikanter Gegensatz zwischen Schienen- und Straßenverkehrswesen zum Vorschein: Auf der einen Seite der von Eisenbahn- bzw. Straßenbahngesellschaften und politischen Entscheidungsträgern bestimmte top-down-Aushandlungsprozess zur Genehmigung und Installierung der aufwändigen Systeme, was in allen Fällen strenge, deshalb unflexible Regeln zur Folge hatte. Auf der anderen Seite der sich aus kleinen Anfängen und bottom-up entwickelnde Straßenverkehr. Dieser wurde von einer Vielzahl von privaten und gewerblichen Einzelakteuren vorangetrieben und erst nach und nach durch staatliche Gesetze und Verordnungen kanalisiert, ohne dass die Regierungen einen allumfassenden Zugriff auf diesen Verkehrsbereich bekamen. Diese Grundkonstellation evozierte immer wieder unterschiedliche Hoffnungen und Erwartungshaltungen und mündete in eine Vielzahl regionaler bzw. nationaler Entscheidungskonflikte, die nicht immer im Einvernehmen oder im gesamtgesellschaftlichen Sinne gelöst wurden.

Hat die Studie ihr anvisiertes Ziel erreicht? Nach dem derzeitigen Stand der Forschung ist das uneingeschränkt mit „Ja“ zu beantworten, weil nun erstmals ein Grundlagenwerk zu den langfristigen Entwicklungslinien ausgewählter Felder des Verkehrswesens vorliegt. Auch regt es zu weiteren vergleichenden Untersuchungen an. Die beschriebenen Beispiele können nach Ansicht Filarskis heutige (Verkehrs-)Politiker lehren, dass sie ohne profundes Verständnis der Historie von Transport- und Mobilitätssystemen das Risiko eingehen, falsche Entscheidungen zu treffen, die in der Regel nur schwer revidierbar sind und insoweit fatale Folgen zeitigen können. Deshalb sollten Regierungen die Bereitstellung entsprechenden Wissens fördern und bei ihren politischen Maßnahmen unvoreingenommen nutzen. Ohnedies dürfte es eine Binsenweisheit sein, dass heutzutage eine zielführende Verkehrspolitik nur in engem Zusammenwirken mit Wirtschaft, kritischer Öffentlichkeit und klugen Querdenkern durchzusetzen ist.

Anmerkungen:
1 Stellvertretend für die zahlreichen Publikationen seien genannt: Ralf Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800-1914, Ostfildern 2005; Christoph Maria Merki, Der holprige Siegeszug des Automobils, 1895-1930. Zur Motorisierung des Strassenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002; Ueli Haefeli, Verkehrspolitik und urbane Mobilität. Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950-1990, Stuttgart 2008; Anne-Katrin Ebert, Radelnde Nationen. Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940, Frankfurt am Main 2010; Richard Vahrenkamp, Die logistische Revolution. Der Aufstieg der Logistik in der Massenkonsumgesellschaft, Frankfurt am Main 2011; Hasso Spode, Wie die Deutschen „Reiseweltmeister“ wurden. Die anschauliche Einführung in die Tourismusgeschichte, Wiesbaden 2012.
2 Siehe z.B. Gijs Mom / Laurent Tisso (Hrsg.), Road History. Planning, Building and Use, Neuchâtel 2007; Ralf Roth / Günter Dinhobel (Hrsg.), Across the Borders. Financing the world’s railways in the nineteenth and twentieth centuries, Aldershot 2008; Ralf Roth / Karl Schlögel (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009; Gijs Mom / Gordon Pirie / Laurent Tissot (Hrsg.), Mobility in History. The state of the art in the history of Transport, Traffic and Mobility, Neuchâtel 2009; Gerald Ambrosius u.a. (Hrsg.), Standardisierung und Integration europäischer Verkehrsinfrastruktur in historischer Perspektive, Baden-Baden 2009; Alexander Badenoch / Andreas Fickers (Hrsg.), Materializing Europe. Transnational infrastructures and the project of Europe, Houndmills 2010.
3 Rijkswaterstaat, ein zentraler Bereich des niederländischen Ministeriums für Infrastruktur und Umwelt, ist zuständig für Planung, Bau und Erhaltung der wichtigen Straßen sowie des Wasserstraßennetzes, ferner für das Deich-Management und die nationale Wasserversorgung.
4 Für weitere Forschungen interessierter Verkehrshistoriker stehen die zusammenfassenden Darlegungen, die nationalen Untersuchungen und die Tagungsberichte als CD-Rom zur Verfügung. Sie kann beim ‚Nederlands Autohostorische Documentatie‘ in Helmond (NL) angefordert werden (Email: <info@ncad.nl>). Ausgewählte Aufsätze wurde auch im T2M- Jahrbuch 2011 Gijs Mom u.a. (Hrsg.) „Mobility in History – Themes in Transport“, Neuchâtel 2010, sowie in der neuen Fachzeitschrift für Transportgeschichte „Transfers“ publiziert.

Kommentare

Von Vahrenkamp, Richard05.02.2013

Die Rezension von Herrn Ruppmann ist zweifellos verdienstvoll. Aber in Fußnote 1 ordnet er mein Buch “Die logistische Revolution - Der Aufstieg der Logistik in der Massenkonsumgesellschaft”, Frankfurt 2011, als bloß auf Deutschland bezogen vollkommen falsch ein. Vielmehr behandele ich Verkehrs- und Logistiksysteme der UdSSR, der DDR, von Tschechien, Österreich, Italien, Frankreich, den Beneluxstaaten, England, Frankreich und Spanien.

Auch handelt ein großer Abschnitt über die Verkehrspolitik der EU, der Regulierung und Deregulierung bestimmter Verkehrsbereiche, wie zum Beispiel der für die Paketdienste wichtige Luftverkehr in Europa. Auch die EU-Motoren-Abgas-Normen, die zum sauberen LKW führten, werden dargestellt. Schließlich wird die europaweite Importlogistik für Konsumgüter aus Asien per Containerschiff kritisch analysiert.


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