F. Schulz: Die homerischen Räte und die spartanische Gerusie

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Titel
Die homerischen Räte und die spartanische Gerusie.


Autor(en)
Schulz, Fabian
Reihe
Syssitia 1
Erschienen
Düsseldorf 2011: Wellem Verlag
Anzahl Seiten
X, 311 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Link, Historisches Institut, Universität Paderborn

Fabian Schulz bietet in seiner Monographie, der überarbeiteten Fassung seiner Dissertation an der Freien Universität Berlin, eine umfängliche Analyse der homerischen Räte und der spartanischen Gerusie: Auf etwa 90 Seiten bearbeitet Schulz die homerischen Räte; danach widmet er etwa 160 Seiten der spartanischen Gerusie und im Anschluss daran etwa 15 dem Verhältnis zwischen diesen beiden Institutionen. Es folgen eine Bibliographie, eine deutsch- und eine englischsprachige Zusammenfassung als Anhang sowie fünf Register und ein Hinweis auf die Möglichkeit zur Volltextrecherche im Internet.

Dem Umfang entsprechend, handelt es sich bei der Arbeit um eine auf Vollständigkeit in der Sache und Lückenlosigkeit bei der Auswahl der Blickwinkel bedachte Untersuchung. Die Unzahl einzelner Gesichtspunkte wiederzugeben, verbietet der Umfang einer Rezension; daher sei hier nur darauf hingewiesen, dass allein der erste Teil zu den homerischen Räten acht eigene Kapitel mit insgesamt 20 Unterkapiteln umfasst, deren Überschriften von so konkreten Angaben wie der „Zahl der Mitglieder“ bis zu so abstrakten wie „Entscheidung“ oder „Einordnung“ reichen. Mit dieser Fülle von auf- und durchgearbeitetem Material bietet das Werk eine solide Grundlage für eine Beschäftigung mit den behandelten Themen. Der Aufbau, so schematisch wie möglich gehalten, dient weniger dem ästhetischen Genuss als vielmehr dem einfachen Zugriff auf einzelne Kapitel und dem Vergleich zwischen ihnen, so dass die Studie zugleich auch zum bequemen Nachschlagen verwendet werden kann. Damit füllt das Buch eine unübersehbare Lücke in der modernen Literatur, und dieses Verdienst ist nachdrücklich zu loben – selbst wenn unter anderen Gesichtspunkten kritische Einwände angebracht scheinen mögen. Ich beschränke mich auf zwei:

Auch wenn es der Titel des Werkes (formal betrachtet) nicht so sagt – eine Studie, die „die homerischen Räte und die spartanische Gerusie“ in den Mittelpunkt rückt, zielt damit wenigstens implizit auf Erkenntnisse, die sich aus dem Vergleich ergeben, und das heißt auch: Sie zielt auf ein konkretes Ergebnis. Schon die reine Verteilung der Seiten (etwa 250 zu 15) macht jedoch klar, dass die Suche nach dem Ergebnis, dem historischen Verhältnis zwischen homerischen Räten und spartanischer Gerusie, nicht den Kern der Arbeit bildet, und tatsächlich stellt Schulz bereits in der Einleitung fest: „Diese Arbeit ist eine Untersuchung; es geht nicht darum, eine Kernthese zu beweisen, sondern um die umfassende Analyse des Gegenstands.“ (S. 3) Dass eine solche „umfassende Analyse“ bei gleichzeitigem Verzicht auf ein Beweisziel stets in der Gefahr steht, stumpf oder richtungslos, eher deskriptiv und daher etwas nichtssagend auszufallen, versteht sich von selbst; und auch Schulz’ Arbeit entgeht dieser Gefahr nicht durchweg. Sein abschließendes Ergebnis – „Es ist also gut möglich, dass es in Sparta ursprünglich einen Rat des homerischen Typs gegeben hat, der sich aber erst mit der Rhetra zu einem Ältestenrat entwickelte“ (S. 260) – ist jedenfalls weder sonderlich klar konturiert, noch scheint es mir mit seinen eigenen, früheren Einsichten glücklich verknüpft zu sein: Wenn es denn so war, dass sich der homerische Stadtrat im Kriegsfall aufspaltete, also der Prinz (Hektor) mit den jungen Ratsherren ins Feld zog und die alten Ratsherren mit dem König (Priamos und die Greise, das heißt ein reiner Ältestenrat, ein Rat von alten Männern) zu Hause blieben (S. 18–23), und wenn es weiterhin zutrifft, dass die Spartaner bei der Gründung ihrer Gerusie einen echten Ältestenrat, einen Rat der „an Geburt Ältesten“ einrichteten (S. 260f.)1, müsste es dann nicht naheliegenderweise der Rat des Priamos gewesen sein, der ihnen als Vorbild oder aus Tradition die Richtung wies? Und könnte diese These – die Spartaner institutionalisierten als Rat der Stadt das, was Homer als den Rat der Stadt im Krieg (!) kannte – nicht historisch interessante Vermutungen nach sich ziehen? Schulz aber insistiert darauf, dass Homer „keinen eigentlichen Ältestenrat, der ausschließlich aus Alten besteht“, gekannt habe (S. 280), so dass Sparta „mit der Einrichtung der Gerusie einen innovativen und erfolgreichen Weg ein[schlug]“ (S. 262). Der Eindruck, dass hier noch nicht alles abschließend durchdacht ist, drängt sich auf. Tiefere Einsichten finden sich fallweise (wie etwa S. 66–69 zur Frage der Spannung zwischen der Souveränität des Königs und dem Konsensprinzip des Rats – eine interessante Fragestellung, die leider nicht von Homer auf Sparta übertragen wird); sie prägen die Studie aber nicht.

Zum zweiten: Die Arbeit ist – wie sollte es anders sein? – stark institutionenkundlich angelegt. Umso vorsichtiger sollte man allerdings sein, grundsätzlich, überall und durchweg gesatzte, genormte, institutionalisierte Größen am Werk zu sehen – eine Gefahr, von der Schulz’ Deutungen nicht ganz unberührt sind und die zu perspektivisch zu erklärenden Verzerrungen führt. Immer wieder verdichten sich ihm Vermutungen, die er zunächst sachgerecht mit Kautelen wie „vielleicht“ und „wohl“ vorbringt, zunächst zu Gewissheiten und dann geradezu zu genormten Institutionen (vgl. so als beliebig herausgegriffenes Beispiel die Hypothesen zum legendären Chilon, S. 281); und auch offenkundige Anekdoten werden ohne Rücksicht auf ihren literarischen Charakter immer wieder ins institutionenkundliche Korsett gezwängt (vgl. etwa S. 199f. zum Bösewicht Epitadeus). Im Bereich der vielschichtigen und begrifflich vielfältigen homerischen Verhältnisse führt dies etwa zu der überraschenden Feststellung, dass Homer nicht nur einen, sondern sogar zwei vollentwickelte, institutionalisierte Räte gekannt habe: einen großen und einen kleinen, jeweils mit festem Mitgliederkreis (S. 13f.). Einer Überprüfung hält eine solche Behauptung nicht stand. Dafür sei ein Beispiel zitiert: „Die in der Dolonie einberufenen Ratsmitglieder und Achill“, schreibt Schulz (S. 16), „scheinen den engsten Kreis von Agamemnons Beratern zu bilden. Manchmal werden weniger genannt, aber niemals andere“ – für Schulz ein schlagender Beweis für die Existenz des zuletzt genannten „kleinen Rates“, zu dem eben stets dieselben Personen gezählt hätten. Damit gerät er jedoch in Konflikt mit Homer, nach dessen Beschreibung einer dieser Versammlungen (Il. 19,303) ausgeschlossen ist, dass an dem „kleinen Rat“ mehr Personen teilnahmen, als dort genannt werden: Die Atriden, Nestor, Odysseus und Idomeneus werden aufgeführt, und gleichzeitig sagt Homer, dass sich alle (!) anderen Könige zerstreuten. Damit ist klar gesagt, dass Diomedes, die Aianten und Meges, die sonst dabei waren, bei dieser Beratung fehlten. Der Rückschluss auf einen fest institutionalisierten, kleinen Königsrat mit stets gleichem Beraterkreis, den Schulz zieht, ist damit a priori ausgeschlossen.2

Dennoch kennzeichnet die Studie durchweg der Hang, fest gefügte Institutionen mit klaren Kompetenzen am Werk zu sehen. Dafür sei noch ein zweites Beispiel genannt: die vermeintliche Nomophylakie der spartanischen Gerusie (S. 155–157). Belegt – das gibt Schulz zu – ist sie zwar nirgendwo, aber aus der Kombination von Probouleusis und richterlicher Kompetenz, die der Gerusie zustanden, ergebe sich zwingend, dass die Gerusie auch über die Nomophylakie verfügt habe. Dass man in Sparta ähnlich kratistisch dachte wie etwa in Athen, dass es die Institution, nicht die Person war, die das Spiel der Kräfte maßgeblich prägte, wird damit ebenso als selbstverständlich vorausgesetzt wie die Annahme, dass die spartanische Verfassung überhaupt irgendwann einmal als ganze, in ihren eigenen Institutionen untereinander und folglich als eine mit sich selbst verrechnete Staatsordnung „designed“ worden sei (das einschlägige Zitat von Redfield aus dem Jahr 1978 [!] findet sich auf S. 217). Ganz auf dieser Linie liegt es auch, dass Schulz immer wieder darauf verzichtet, zwischen der Institution der Gerusie und ihren Mitgliedern, den Geronten, zu unterscheiden – ein Verzicht, der ihn leicht von der Hochschätzung, die einzelne Geronten genossen, auf eine Wertschätzung der Gerusie als Institution schließen lässt (S. 216, 220–207, 281 und andere).

Diese Reihe von Einwänden – darunter durchaus grundsätzlichen – ließe sich fortsetzen (so etwa in Gestalt der Frage, wie zuverlässig es dem Autor gelingt, homerisch-literarische Gestaltung und historische Gegebenheit voneinander zu scheiden). Doch würde dies dem Wert des Werkes nicht gerecht. Auch wenn es mit kritischer Distanz zu verwenden sein mag – umfassend in der Anlage, sehr gut lesbar und verständlich geschrieben, auf Vollständigkeit bedacht, mit einer Vielzahl neuer Einzelbeobachtungen angereichert (vgl. etwa S. 10f. oder 99) und (nicht zuletzt durch die kapitelweise wiederkehrenden Zusammenfassungen) leicht erschließbar, bietet es eine solide Grundlage für weitere Vorstöße.

Anmerkungen:
1 Zu dieser Ansicht gelangt Schulz allerdings nur, weil er darauf insistiert, dass die Könige, die als solche zur Gerusie zugelassen waren, „keine Geronten im eigentlichen Sinne“ gewesen seien (S. 120). Mir scheint die Vorstellung einer (sehr komplex gedachten) Doppelfunktion näher zu liegen: Als Könige standen sie in der Funktion von Heerführern der spartanischen Bürgergemeinschaft gleichzeitig vor und gegenüber; als Mitglieder dieser Bürgergemeinschaft waren sie Geronten, deren Mitwirkung im Rat als so entscheidend angesehen wurde und deren Doppelrolle zugleich so klar vor Augen stand, dass man einzig ihnen ein Stimmrecht in Abwesenheit zugestand – und folglich war die spartanische Gerusie, formal exakt gedacht, kein reiner Ältestenrat. Die Tatsache, dass die Gerusie „oft […] ohne einen oder ohne beide Könige“ tagte (S. 120), trägt nichts zur Qualifizierung der Könige als „echte“ oder „unechte“ Geronten bei, da ganz sicher auch die anderen 28 „echten“ Ältesten schon aus Altersgründen nicht immer vollzählig teilnahmen.
2 Vgl. etwa auch S. 34 zur Frage der Aufnahmemodalitäten oder S. 45 zu der der Zuständigkeit.

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