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Titel
Wege zum Pik Stalin. Sowjetische Alpinisten, 1928-1953


Autor(en)
Maurer, Eva
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 57,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Reichherzer, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Berge faszinieren die Menschen. Die unwirtlichen Landschaften aus Schnee, Eis, Fels und Geröll sind ein mit hoher Bedeutung aufgeladener Raum. Hielten sich Menschen lange Zeit wenn nur irgend möglich von den lebensfeindlichen Gegenden fern, begann in der Moderne die „Eroberung“ des Gebirges. Mit der Aufklärung setzte sich eine radikale Neubestimmung des Verhältnisses von Menschen und Natur durch, was auch einen völlig neuen ästhetischen Blick auf Landschaften zur Folge hatte. Berge waren zwar immer noch Furcht einflößend, nun aber auch schön – und in der Kombination aus beidem der Inbegriff des „Erhabenen“. Es wundert daher nicht, dass der Bergsteiger zu einer zentralen Figur der Moderne wurde. Auf einen Gipfel zu klettern, nur „weil er da ist“ (George Mallory), und damit den Berg und auch sich selbst zu „besiegen“, erschien als klarer Ausdruck menschlicher Raumaneignung und Dominanz über die Natur. Dass der Umgang des Menschen mit dem Berg deshalb einen hervorragenden Zugang für aktuelle geschichtswissenschaftliche Fragen und Debatten bildet, zeigt die kaum mehr überschaubare Fülle von „Bergliteratur“, die in den letzten Jahren erschienen ist.

In diesem Kontext ist auch die Arbeit von Eva Maurer zu verorten, die kenntnisreich und quellengesättigt den sowjetischen Alpinismus und Bergtourismus während des Stalinismus betrachtet. Maurers erklärtes Ziel ist es, mit Hilfe der sowjetischen Alpinismusdiskurse und -praktiken einen anderen Blick auf den Stalinismus und die sowjetische Gesellschaft von den 1920er- bis zum Ende der 1950er-Jahre zu werfen. Gerade im Alpinismus werden signifikante Merkmale des Stalinismus deutlich. Besonders interessiert sich Maurer für zwei Punkte: Das sind erstens das Spannungsverhältnis zwischen dem nahezu totalen staatlichen Lenkungsanspruch und privaten Ambitionen, Praktiken und Freiräumen sowie zweitens das Verhältnis des Machtzentrums Moskau zu den gebirgigen Räumen der Peripherie des Sowjetimperiums. Damit rücken Diskurse und Leitbilder, Organisations- und Vergemeinschaftungsformen, aber auch Ansprüche und Alltag der sowjetischen Alpinisten in den Fokus. Maurer skizziert Herrschafts- und Sozialisierungstechniken des Stalinismus, lenkt den Blick auf die Konstruktion und den Einbezug von Gebirgslandschaften in die Bildwelt der Sowjetunion, zeigt Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten einzelner Akteure und Gruppen auf und beschreibt den Alltag und die Freizeit zwischen sowjetischer Aufbaueuphorie, Terror, Krieg und der Lust auf Berge zu steigen. Ein ambitioniertes Programm, in dessen Verlauf Maurer unzählige Themenfelder öffnet. Die Ergebnisse und Anschlussmöglichkeiten, die Maurer ihren Lesern bietet, sind beinahe zu vielfältig. Hier werden daher nur die großen Linien des Buches skizziert, um dazu zu ermuntern, Eva Maurers Buch selbst in die Hand zu nehmen.

Der Aufbau des Buches folgt im Wesentlichen einer chronologischen Herangehensweise. Dem eigentlichen, fein gegliederten Hauptteil geht zunächst eine Einführung voraus, die pointiert über die Entstehung des Imaginationsraums „Alpen“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie die Institutionalisierung des Bergsteigens in den (bürgerlichen) Alpenvereinen Westeuropas informiert, um daran anschließend die zeitversetzten Transfers und Reproduktionen alpiner Deutungsmuster, Praktiken und Organisationen im zaristischen Russland zu beschreiben.

Daran knüpft der Hauptteil an, in dem Maurer zunächst vor dem Hintergrund der „Gesellschaft für proletarischen Tourismus und Exkursionen“ (OPTE) die „Proletarisierung“ und die Organisationsformen des Urlaubs in der Sowjetunion der 1920er-Jahre beschreibt. Bergsteigen und Bergtourismus waren in ein System der Freizeitorganisation und Körperkultur eingebaut, das sowohl auf den sozialistischen Aufbau und die Erziehung zum neuen Menschen als auch auf die Transformation und Aneignung der sowjetischen Peripherie zielte. Freizeit und Urlaub waren in der Sowjetunion ein hoch ideologisiertes Unterfangen. In der Organisation des touristischen Reisens wird die tiefe Angst des Regimes vor ungefüllter Zeit und unkontrollierten Räumen der Privatheit deutlich. Maurer zeigt, wie Alpinisten – meist männliche Angehörige der Intelligenzija – geschickt ihre Freizeitbeschäftigung in das System mit seiner Rhetorik und seinen Diskursen einpassen konnten.

Weiter macht sie auf die „vertikalen Hierarchien“ – die Reproduktion Moskauer Machtverhältnisse in Raumkonstruktionen der Gebirge und Bergbenennungen – und die wissenschaftliche Durchdringung des Raumes durch Expeditionen, Vermessung und symbolische Aneignung aufmerksam. Kartographisches Material und die Benennung von Bergen standen auch und gerade in der Sowjetunion für Repräsentation und Realisation von Herrschaft, Gestaltungsmacht und Projektionen einer sozialistisch/kommunistischen Zukunft. In Zentralasien entstand etwa um den höchsten Berg der Sowjetunion – den Pik Stalin – ein regelrechter „Gipfelpantheon“ (S. 128) sowjetischer Größen, die auch hin und wieder je nach innenpolitischer Entwicklung umbenannt werden mussten.

Der sowjetische Alpinismus der 1930er-Jahre war durch einen enormen Popularisierungsschub – vor allem im Kaukasus – gekennzeichnet. Insbesondere die von Militär und Massenorganisationen veranstalteten Massenbesteigungen, die so genannten Alpiniaden, verbanden körperliche Massendemonstration mit technischer Leistungsschau. Auch Frauen brachen jetzt in die bis dahin männlich dominierte Domäne des Alpinismus ein. Nun wurde auch der Trend zur Zentralisierung des organisierten Bergsports im Rahmen einer verstärkten Etatisierung deutlich sichtbar. Der Massenansturm auf die Berge setzte einen Differenzierungsprozess in Gang, der ein System unterschiedlicher klar hierarchisch gestaffelter Abzeichen und Privilegien nach sich zog. Allerdings konnte die Entwicklung der Infrastruktur (Alpinistenlager, Ausbildung etc.) mit dem forcierten rasanten Wachstum kaum mithalten, was zunehmend auf Kosten der Qualität ging.

Die 1930er-Jahre sahen auch den versuchten Ausbau des Bergrettungswesens und das steigende Interesse an einem „‚unfallfreien‘ Alpinismus“ (S. 204). Maurer erkennt, wie sich der Zugriff des Staates auf den Einzelnen und die (willkürliche) Entscheidung des Staates über Leben und Tod in der UdSSR symbolisch in den Debatten über alpine Sicherheit und in der Praxis der Bergrettung widerspiegelten. Routenberatung, Registrierung, Kontrolle vor Ort und auch Verbote bei mangelhafter Ausrüstung und Fähigkeiten und sollten nach dem Motto „Kontrolle und Vorbeugung“ (S. 205) Rettungstrupps ergänzen. Der Diskurs über Sicherheit am Berg macht den radikalen Zugriff des Staates auf das Leben deutlich. Maurer sieht hier vor dem Hintergrund der sowjetischen Rationalisierungsideologie „den planvollen und sicheren Einsatz des Lebens – gekoppelt an den omnipräsenten Zugriff des Staates darauf“ (S. 228) – durchscheinen.

Auch der Terror und die Paranoia der 1930er-Jahre hatten Einfluss auf die Alpinisten und ihre Funktionäre. Jenseits des Massentourismus waren ambitionierte Bergsteiger Teil einer transnationalen Community der Alpinisten und bildeten allein deshalb eine äußerst suspekte Gruppe. Auf die „Säuberungen“ unter den Alpinisten folgte ein Vakuum, das junge Kräfte und das Militär füllten. Eine militärische Komponente und Ausrichtung auf den Krieg war bereits dem frühen Sowjetalpinismus – zumindest als Begründungsressource – eingeschrieben, sie wurde jedoch in den 1930er-Jahren unter dem Einfluss des Militärs und ziviler Bellifizierung weiter intensiviert und erreichte im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt.

Die ungeheuerlichen Kriegsanstrengungen führten zu einer Erschöpfung der sowjetischen Gesellschaft und zum Rückzug der Bevölkerung aus dem gemeinsamen politischen Projekt. Zudem differenzierten sich Breitensport und Leistungsport weiter aus. Im Kontext des „Kalten Krieges“ und der Besteigungsversuche der ersten Achttausender in den 1950er- und 1960er-Jahren wurde Bergsteigen zu einer Leistungsschau der wetteifernden Systeme. Im Inneren zeigt sich die „‚Entmilitarisierung‘ der sowjetischen Vorstellungswelt“ (S. 231) und der Spätstalinismus als „Apotheose der Stagnation“ (S. 232). Das wirkte sich auch auf Bergsport und Bergtourismus aus. Die Beziehungen von Individuum, Gruppe und Staat wurden neu verhandelt und Mauer erblickt Foren der pointierten Kritik, die sich im Alpinismus öffneten. Mit der Sowjetunion war auch der Alpinismus gereift. Nicht mehr die gipfelstürmende Jugend der Zwischenkriegszeit sondern die beschauliche Familie im Bergurlaub prägte neben dem Bergsteigen als Hochleistungssport nun die Vorstellungen und Spielarten des Alpinismus in der Sowjetunion.

Maurers Arbeit und die darin enthalten Themen und Teilergebnisse leisten zweierlei: Zum einen kann ihr Buch als umfassende, fein – vielleicht manchmal zu fein – gegliederte Gesamtdarstellung des Alpinismus in der stalinistischen Sowjetunion und seiner Organisation und Praxis mit Handbuchcharakter gelesen werden. Zum anderen wird sie auch dem Anspruch gerecht, exemplarisch Licht auf zahlreiche Felder der Kultur-, Alltags- und Sozialgeschichte der Sowjetunion zu werfen. Wer eine einzige durchgängige These erwartet, wird aber enttäuscht sein. Maurer liefert stattdessen ein detail- und facettenreiches Panorama. Wer sich jedoch auf Sprünge einlässt und bereit ist, Quergänge zwischen den Kapiteln zu machen und Maurers Blick und Denken vom Berg zu folgen, der wird unzählige Teilergebnisse, Details und Anschlussmöglichkeiten zu weiteren Themen sowie kleine und große Thesen entdecken. So etwa zeichnet sie ein differenziertes Bild der Herrschafts- und Machtverhältnisse zwischen Zentrale und peripheren Regionen oder verdeutlicht individuelle und gruppenspezifische Handlungsspielräume, die einzelnen Bergsteigern und Bergurlaubern, Organisationen oder den Machthabern in den Gebirgsrepubliken der Sowjetunion offen standen. Dem Buch ist ein breites (Fach-)Publikum über den engeren Kreis der Osteuropahistoriker hinaus zu wünschen. Sowohl Stalinismus-Forschern und Russland-Spezialisten als auch am Alpinismus, an Alltags-, Tourismus und Sportgeschichte interessierten Lesern wird die Lektüre Anregung und meist auch Vergnügen liefern.

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