A. Paulin-Booth: Time and Radical Politics in France

Cover
Titel
Time and Radical Politics in France. From the Dreyfus Affair to the First World War


Autor(en)
Paulin-Booth, Alexandra
Reihe
Studies in Modern French and Francophone History
Erschienen
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 105,35
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Wernz, Historisches Institut, Universität zu Köln

Alexandra Paulin-Booth legt mit „Time and Radical Politics in France” eine bündige Geschichte der Zeitkonzeptionen des linken und rechten Randes in der Dritten Republik um 1900 vor. Das Werk basiert auf einer 2017 an der University of Oxford abgeschlossenen Dissertation und spannt einen engen zeitlichen Bogen von der Dreyfus-Affäre bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Drei Grundannahmen, die nahtlos an das zuletzt stark expandierende Forschungsfeld historischer Zeitlichkeiten und deren Verhältnis zur Politik anknüpfen, leiten Paulin-Booths Vorhaben: Zeit sei integraler Bestandteil der „architecture of political thought“ (S. 2) gewesen; Zeit habe im Sinne eines „disputed terrain“ (S. 3) als Kristallisationspunkt von ideologischer Annäherung und Abgrenzung fungiert; und Zeit habe die Positionierung von Akteuren innerhalb der politischen Konflikte der Jahrhundertwende beeinflusst. Entsprechend entfalten sich die von ihr beleuchteten radikalpolitischen Temporalitäten vor dem Hintergrund weitreichender Diskurskomplexe. Nationalismus und Antisemitismus werden ebenso wie sozialreformatorische Programme, Gender-Konstruktionen oder die Aushandlung des Erbes der Französischen Revolution zu Untersuchungsgegenständen – jedoch analytisch fixiert unter dem Brennglas der unterschiedlichen temporalen Bedeutungskomponenten, die sie im Kontext radikaler politischer Agenden erhielten.

„Time is a notoriously slippery subject matter“ (S. 19), erinnert die Autorin die Leserschaft einleitend mit dem Hinweis, dass Zeitkonzeptionen selten ausdrücklich artikuliert und daher oft erst in ihrer Verflochtenheit mit konkreten politischen Debatten sichtbar würden. Ihr Fokus auf radikale antiparlamentarische Gruppierungen kommt ihr in dieser Hinsicht entgegen. Deren Streben nach einer fundamentalen Transformation des soziopolitischen Status quo der Dritten Republik schloss, so Paulin-Booths These, vertiefte Reflexionsanstrengungen über temporale Kategorien und deren „ontological status“ (S. 4) ein. In einer Vielzahl von Zeitschriften, Briefen, Tagebüchern und Romanen geht sie deren sprachlich verfassten Manifestationen nach; Polizeiberichte liefern zudem Hinweise auf praktische Aktivitäten der antiparlamentarischen Gruppierungen. Die dabei zutage geförderten Zeitvorstellungen fasst sie unter dem an Stephen Kern angelehnten Begriff der „cultures of time“ (S. 3). Das ist grundsätzlich stimmig, verortet sie damit doch individuelle Deutungsmuster der Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in kollektiven Dynamiken und umfassenderen Wissenssystemen, ohne sie theoretisch zu überformen.

Der erste Teil der Arbeit setzt mit der Welle öffentlicher Reaktionen auf die Dreyfus-Affäre zwischen 1897–1899 ein. Die Frage nach der Schuld des 1894 zu Unrecht wegen Landesverrats verurteilten jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus brandete auch deshalb auf, weil sie, wie Paulin-Booth herausarbeitet, in einer intensiven Zeiterfahrung gipfelte, welche die Wahrnehmung einer epochalen Konfluenz von persönlicher, nationaler, politischer und historischer Zeitlichkeit zur Klimax eines epischen Zeitrahmens rückte, in der das Schicksal Frankreichs entschieden würde. Während Dreyfusarden um Daniel Halévy, Charles Péguy oder Jean Jaurès ihre politische Mobilisierung dabei auf die Kategorie einer progressiven Zukunft ausrichteten, orientierten sich die Anti-Dreyfusarden um Maurice Barrès, Jules Soury oder Jules Lemaître an einer die Vergangenheit privilegierenden Zeitkonzeption. Bis 1902, argumentiert die Autorin, habe sich Zeit dadurch nachhaltig als emotional aufgeladener Dreh- und Angelpunkt der politischen Konfrontation zwischen links und rechts ausgebildet: „[C]laiming either past or future became a clarion call“ (S. 56).

Die beiden folgenden Teile nehmen schließlich die von dieser Formierungsphase geprägten gruppeninternen Zeitkulturen bis 1914 in den Blick. Entlang der Thalamas-Affäre 1904 und der Einführung des Laizismus 1905 zeichnet der zweite Abschnitt die Temporalitäten der revanchistischen, ultranationalistischen und monarchistischen Kräfte nach. Unter dem anhaltenden Eindruck des verlorenen Kriegs 1870/71 begannen die Akteure der Ligue des patriotes, der Ligue de la patrie française und der Action française nicht nur die vermeintlich von nationalem Niedergang beherrschte Leere der Gegenwart zu kritisieren, sondern, so Paulin-Booths Befund, die Kategorie der Gegenwart als solche aus ihrem Zeithorizont zu verbannen. Das Leitbild eines „‚eternal France‘“ (S. 130) und die Präferenz für monarchische Zeitstrukturen waren ihrer Interpretation nach komplexer als eine zukunftsverneinende Flucht in die Vergangenheit: Mit ihnen sollte die von der Gegenwart verkörperte Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft geschlossen werden. Erst die jüngere Generation der 1908 gegründeten Camelots du Roi schaffte es mit ihren Planspielen eines nationalrevolutionären Staatsstreichs Paulin-Booth zufolge, die Gegenwart von der Vorstellung einer „dead category“ (S. 142) konzeptionell wieder zu befreien und mit transformativem Potential auszustatten.

Der letzte Abschnitt behandelt die Temporalitäten des „reform-revolution binary“ (S. 167) im linksradikalen Spektrum. Von der Regierungsbeteiligung des Sozialisten Alexandre Millerand 1899 über die Russische Revolution 1905 bis zur Gründung des Cercle Proudhon 1911 rekonstruiert er die tief in Zeitkonzeptionen verwurzelte Auseinandersetzung zwischen Sozialisten, Marxisten und Syndikalisten. Dabei sei es im Kern nicht um ideologische Differenzen über die Ziele der Revolution gegangen. Bei einem prinzipiell ähnlichen Zeithorizont hätten sich, so die Autorin, politische Konfliktlinien vielmehr durch die voneinander abweichenden Ideen über den richtigen Weg in die Zukunft und die Verfügbarkeit der Gegenwart aufgetan. Debatten um marxistischen Determinismus und proletarische Agency, literarische Utopien, intellektuelle Rückgriffe auf evolutionstheoretische Diskurse und geologische Erkenntnisse – Paulin-Booth verortet sie plausibel im Kontext der Bemühungen um eine Tempobestimmung revolutionärer Gesellschaftsveränderung und deren taktischen Verknüpfungsmodi von Gegenwart und Zukunft.

Zugleich wachsam zu bleiben für das zeitgenössische Operieren innerhalb eingeschliffener „moderner“ Zeitkonzepte und sie dennoch differenziert zu analysieren – dieser Spagat gelingt Paulin-Booth, indem sie wohltuend auf allzu ausgreifend-theoretische Erklärungsmodelle verzichtet. Einzige Ausnahme bildet ihre These einer zweiten „Sattelzeit“ um 1900 (S. 13), die gegenüber Reinhart Kosellecks Periodisierungsvorschlag zwangsläufig eindimensional bleibt, weil sie ausschließlich auf Aspekten der „Verzeitlichung“ fußt.1 Zu den Stärken des Buchs gehört zweifellos auch der produktive Vergleich zwischen Dreyfusarden und Anti-Dreyfusarden. Beide Seiten trennten zwar gänzlich unterschiedliche, wenngleich keineswegs einheitliche Zeitkulturen. Die temporalen Probleme, mit denen sie sich konfrontiert sahen, wiesen hingegen Ähnlichkeiten auf. Zukunftsziele langfristig mit politischem Engagement in der Gegenwart und im Zeithorizont individueller Lebensspannen aufrechtzuerhalten, obwohl der Erfolg ausblieb, erwies sich laut Paulin-Booth etwa für die Sozialreformer der proletarischen Universités populaires als ebenso schwierig wie für die Revanchisten der Ligue des patriotes. Die Zukunft ließ auf sich warten und Aktivisten beider Lager „became trapped – partly by their very way of coping“ (S. 104).

Unklar bleibt allerdings, was dieses wiederholte Sprachbild (S. 80, S. 102) im theoretischen Zusammenhang konkret bedeuten soll. Gibt es temporale Pfadabhängigkeiten, aus deren Logiken wir – einmal beschritten – nicht oder nur schwierig wieder ausbrechen können? Damit ist die im Buch an keiner Stelle explizit diskutierte Frage aufgeworfen, wie es im Wechselverhältnis von Zeit und Politik eigentlich um temporale Wirk- und Akteursmächtigkeit beschaffen ist: Wer oder was bestimmt die situativen (Un-)Möglichkeiten politischen Handelns – die politischen Akteure, die sich ausgewählter Relationierungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft narrativ bedienen, oder eher jene Zeitkonzeptionen selbst, die erfahren werden und Politik notwendigerweise imprägnieren? Paulin-Booth bleibt diesbezüglich an vielen Stellen vage, ihre Analysen scheinen mal für das eine, mal für das andere zu sprechen. Insgesamt weist sie die Vorstellung von Zeit als „self-serving bombast“ (S. 11) oder „simply rhetorical or descriptive“ (S. 47) zurück und akzentuiert stattdessen „its potential to shape, rather than simply be shaped by, […] political agendas“ (S. 244). Es ließe sich darüber streiten, inwieweit es gerade die theoretische Rahmung über den an längerfristigen epistemischen Bedeutungswelten orientierten Begriff der „Zeitkultur“ ist, die ihr diese Betonung inhärenter temporaler Prägekraft gegenüber dem Zeithandeln der Akteure vorgibt. Doch dass das Buch zu diesen weiterführenden Gedanken anregt, darf ihm gleichermaßen als Stärke angerechnet werden. So bleibt der Eindruck einer empirisch dichten Fallstudie, die selbst den mitunter extensiv erforschten radikalpolitischen Milieus in Frankreich überzeugend neue Schlaglichter zu geben vermag.

Anmerkung:
1 Koselleck nennt zudem die semantische „Demokratisierung“, „Ideologisierbarkeit“ und „Politisierung“ als Kriterien, vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: ders. / Werner Conze / Otto Brunner (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII, hier S. XV–XVIII.

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