N. Stegmann: Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik

Cover
Titel
Kriegsdeutungen, Staatsgründungen, Sozialpolitik. Der Helden- und Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918-1948


Autor(en)
Stegmann, Natali
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Heumos, Moosburg

Das Buch ist unter zwei Gesichtspunkten hervorzuheben: Es liefert, erstens, wesentlich neue Erkenntnisse über die Sozialpolitik der Tschechoslowakei zwischen 1918 und 1948, wobei die Kriegsgeschädigtengesetzgebung – eingebettet in einen internationalen Vergleich – im Mittelpunkt steht. Es ist, zweitens, ein gewichtiger Beitrag zur Erforschung der tschechoslowakischen Geschichte zwischen 1918 und 1948 anhand methodisch-konzeptionell und methodologisch neuer Fragestellungen. Zwar sind andere Stegmann in dieser Hinsicht schon vorangegangen, aber sie stößt auf einer vergleichsweise viel breiteren Front vor und hält mit radikalen Vorbehalten gegenüber der bisherigen Forschung nicht hinter dem Berg: gängige historiographische Erklärungsmuster werden zur Disposition gestellt, und zumal die positivistische, „an Fakten orientierte“ ältere Literatur muss sich mit dem Status einer „Quelle“ begnügen, die nur noch auf ihre Grundannahmen und Ordnungsschemata hin befragt wird (S. 15). Mit einer solchen produktiven „Einübung des Tatsachenblicks“ führt Stegmann gegen das positivistische Genre vor allem Diskurstheorie, Kulturgeschichte der Politik und Geschlechtergeschichte ins Feld; letztere dient dazu, Hierarchisierungsmuster von Diskursen sichtbar zu machen. Da die Kulturwissenschaften nicht die empirische Analyse darstellbarer Wirklichkeitssegmente als ihre Aufgaben ansehen, sondern die logische Analyse von Darstellungsformen, also nicht kausalanalytisch, sondern formalanalytisch verfahren, zäumt Stegmann ihre Kritik am main stream der Literatur besonders an deren „Kausalitätsmuster[n]“ und Vorstellungen von „Entwicklungslogik“ auf (S. 15).
Stegmann analysiert den Zusammenhang von Krieg, Staatsgründung und Staatsbürgerschaft, wobei die Problematik der letzteren in der langfristigen Perspektive eines durch wechselnde Hierarchisierungskonzepte, durch nationale, politische und soziale Ein- und Ausschlussregeln bestimmten Prozesses aufgerollt wird.

Im Vordergrund des tschechoslowakischen Helden- und Opferdiskurses standen die Legionäre des Ersten Weltkrieges, die zwischen 1914 und 1918 zu einem staatsbürgerlichen Vorbild wurden, das im Prinzip bis 1948 wirksam blieb. Dieser Diskurs war sowohl mit den Deutungsmustern und Mythen von Nationsgründung und Krieg (beispielsweise „Auslandsrevolution“) und der Entwicklung der Sozialpolitik verschränkt, die die öffentlichen Zuwendungen an kriegsgeschädigte Bürger regelte. Die Beziehungen, Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse zwischen den sozialpolitischen Institutionen (im Wesentlichen dem Ministerium für Sozialfürsorge) und den Kriegsgeschädigtenorganisationen mitsamt ihren unterschiedlichen Strategien bilden den Kern der Untersuchung.

Der Ertrag des Stegmann’schen Ansatzes ist beträchtlich. Zunächst schüttelt das Konzept einer Kulturgeschichte der Politik mit seiner (von Bourdieu inspirierten) ethnologischen Perspektive, „die die Politik der Kabinette grundsätzlich nicht anders betrachtet als am Amazonas beobachtete Rituale“ (S. 15), die tradierten historischen Konstellationen durcheinander und rückt neue Kombinationen historischer Fragenkomplexe in den Blick. In die gleiche Richtung wirkt die entschiedene Absage an die Vorstellung von Nationsgründungsprozessen als zweckvoll gedachten Entwicklungen: Diese Prozesse werden als „events“ deklariert, die als Ereignisse eher „im Sinne diskontinuierlicher Praktiken“ verstanden werden sollten (S. 19). Weit über die der Nationsbildung immer wieder zugeschriebene Logik eines gerichteten Prozesses hinaus werden damit finalisierende Bewegungen aller Art aus der Diskussion ausgeschlossen, etwa auch der Topos von der Sowjetisierung der Tschechoslowakei (S. 211 ff., S. 278), den Unmengen von Untersuchungen im Sinne einer zielorientierten, geradezu teleologischen Bewegung ausgebreitet haben. Der nationale Diskurs als Bestandteil des Helden- und Opferdiskurses gewinnt durch die Entbindung des Nationalen von seiner in der Literatur immer wieder implizit vorausgesetzten monadischen Struktur an Beweglichkeit und innerer Differenzierung. Stegmann fordert mit ihrer Untersuchung dazu auf, Kritik nicht an Details, sondern auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene anzusetzen. Gerade das einleitende Kapitel ist da unmissverständlich.

Nicht stichhaltig erscheint indes die Annahme, Sozialpolitik (im weitesten Sinne, nicht nur eingeengt auf die Kriegsgeschädigtenfürsorge) habe nach dem Ersten Weltkrieg eine „tragende Säule“ in der politischen Ausrichtung der tschechoslowakischen Republik und in diesem Sinne ein Moment der Kontinuität zwischen der Vorkriegs- und der Nachkriegsrepublik (1945-1948) gebildet (S. 263 und 273). Es geht also zunächst um eine empirische Frage, deren Beantwortung aber nicht folgenlos für die Schlüssigkeit des gesamten Interpretationsansatzes ist. Überlässt man sich einmal der in der Tschechoslowakei-Forschung beliebten Manier, bei strittigen Fragen mit dem Gewicht von Masaryk-Zitaten zu operieren, kann man im vorliegenden Fall auf die Zielvorstellung des Staatspräsidenten verweisen, den Staat von der Zuständigkeit für soziale und wirtschaftliche Probleme dadurch zu entlasten, dass deren Regelung – im Owenschen Sinne – einem Verbund von Selbstverwaltungskörperschaften genossenschaftlicher Art übertragen wurde. Das Genter System, das die Hauptlast der Arbeitslosenunterstützung den Gewerkschaften aufbürdete, illustriert diese Tendenz. Ihr korrespondierten gewichtige gesellschaftliche Strukturen: das hoch entwickelte Genossenschaftswesen, die breite, „staatsferne“, auf genossenschaftssozialistische industrielle Selbstverwaltung gerichtete Strömung in der Arbeiterschaft. Ein Blick auf das Institutionensystem zeigt eine Fülle organisatorischer Vorkehrungen, die in der Tat seiner „Entlastung“ dienten, das heißt die Aggregation sozialer Konflikte einschränkten, um den Problemdruck auf dieses System zu verringern, erkennbar vor allem an der organisatorischen Teilung von Konflikten und ihrer Abkopplung von den relevanten Macht- und Entscheidungsarenen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Sozialpolitik der Vorkriegsrepublik – wie unter anderem aus zahlreichen repräsentativen Umfragen hervorgeht – von der Masse der Bevölkerung eine klare Absage erteilt. In der Arbeiterschaft herrschte 1945 die Auffassung vor, nun müsse verhindert werden, dass die Republik noch einmal ein soziales und sozialpolitisches Roll-back erlebte wie dies nach 1918 zu beobachten war. So belegt auch der sozialpolitische Diskurs eines erheblichen Teils der Bevölkerung weit mehr den Bruch mit der Zwischenkriegsrepublik als Momente der Kontinuität, die Stegmann postuliert, wenn sie die großen sozialen Maßnahmen der Nachkriegsrepublik (z.B. die Bodenreform) auf der Tradition der Ersten Republik gegründet sieht (S. 232). Das Organisationssystem mit seinen traditionell sozialpolitischen „Ansprüchen“ löste sich 1945 mit Zustimmung der Betroffenen in Luft auf; das Musterbeispiel sind bekanntlich die Gewerkschaften. Tradition mag nach 1945 als Zitat in den Verlautbarungen der politischen Führungseliten lebendig gewesen sein, gesellschaftlich wirksam war sie nicht mehr. Dann fragt sich allerdings, ob wir mit Stegmann dem nationalen Diskurs nach 1945 noch die assimilierende Kraft zuschreiben können, sich eine neue soziale Ordnung einzuverleiben und die Deutungshoheit über diese zu gewinnen (S. 274).

Vielleicht hängt eine befriedigende Antwort auf die Frage der sozialen und nationalen Kontinuität zwischen Vor- und Nachkriegsrepublik davon ab, wie man „Diskurs“ als die Ebene „kommunikativ produzierte[r] und symbolisch repräsentierte[r] Phänomene“ (S. 15) konzipiert. Man interpretiert Stegmann wohl nicht falsch, wenn man ihre Hinweise auf die Diskursen eingelagerten Macht- und Herrschaftsverhältnisse (S. 17, 19) als Skepsis gegenüber der Annahme versteht, soziales Handeln gehe in der Dimension eines in Sprache symbolisch überlieferten Sinnes auf: Die sprachliche Infrastruktur einer Gesellschaft konstituiert sich auch durch Realitätszwänge, durch Repressionen gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse. Andererseits vertraut Stegmann darauf, dass soziales Handeln durch ein bloß zeichenkontrolliertes Verhalten symbolisch vermittelt wird. Dies öffnet einem Idealismus der Sprachlichkeit Tür und Tor – der Diskurs bestimmt das materielle Sein der Lebenspraxis (S. 19) – und verdampft gesellschaftliche Entwicklung zu kultureller Überlieferung. Das Schwanken zwischen eher „schwebenden“ Diskursen und solchen mit stärkerer „Bodenhaftung“ mag darauf hindeuten, dass Stegmann von der Befürchtung umgetrieben wird, in den Geruch „materialistischer“ Reduktion zu geraten (S. 88). Wenn man aber im Übergang zur tschechoslowakischen Nachkriegsrepublik Tradition als das vermeintlich Umgreifende nicht unbestimmt lassen will, liegt es nahe, ihr Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Momenten, insbesondere zu den einzelnen sozialen Gruppen und Klassen, genau zu klären. Deren Entwicklung (materiell und in Bezug auf sprachliche Weltbilder) könnte Anhaltspunkte dafür liefern, welche Dimension des sozialen Wandels in den Nachkriegsjahren erreicht werden musste, um auch sprachlich artikuliertes Bewusstsein zu ändern. Zugleich würde auf diese Weise eine Vielzahl gruppenspezifischer Diskurse und symbolischer Formen überhaupt sichtbar werden, die sich formal und strukturell vergleichen lassen und sich vermutlich zu einem weniger einsinnigen Gesamtbild des Übergangs von der Vor- zur Nachkriegsrepublik fügen.