P. Szlanta: Der "Polenfresser" gegen die "Reichsfeinde"

Cover
Titel
Der "Polenfresser" gegen die "Reichsfeinde". Kaiser Wilhelm II. und die Polen 1888–1918


Autor(en)
Szlanta, Piotr
Reihe
Polnische Profile
Erschienen
Wiesbaden 2022: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas von Bezold, Reinbek

In Preußen lebte seit den drei Teilungen Polens eine nicht unbeträchtliche polnische Minderheit, die Preußen dann auch in das 1870/71 gegründete Deutsche Reich einbrachte. 1910 machten die ca. 4 Millionen polnischsprachigen Einwohner immerhin 10 Prozent der Bevölkerung Preußens aus. Dass diese weder bei den Teilungen Polens noch bei der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 oder des Deutschen Reichs irgendeine Form der Mitsprache hatten, liegt auf der Hand. Umso entscheidender war, wie die Obrigkeit mit diesen Untertanen wider Willen umging. Dieser Frage widmet sich das 2018 auf Polnisch erschienene Buch des Warschauer Historikers Piotr Szlanta, das nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt.

Das „Problem“ der Polen in Preußen bzw. im Deutschen Reich wurde in der Geschichtswissenschaft durchaus wahrgenommen. So hat zum Beispiel Hans-Ulrich Wehler den Polen in seinem Werk über die Krisenherde des Kaiserreichs gleich drei Kapitel gewidmet.1 Eine Gesamtdarstellung gab zuletzt Hans-Erich Volkmann2; zur Geschichte der polnischen Fraktionen in Reichstag und Preußischem Abgeordnetenhaus liegt das grundlegende Werk von Albert Kotowski vor.3 Die bisherige Forschung stimmt darin überein, dass die preußische Minderheitenpolitik nach anfänglichen versöhnlichen Gesten immer deutlicher von Rücksichtslosigkeit gegenüber den anderssprachigen Bevölkerungsgruppen geprägt war. Das Ideal des deutschen Nationalstaats überdeckte zunehmend das Bewusstsein einer preußischen Identität, die nicht zwingend rein deutsch hätte sein müssen, es im Sog des wachsenden Nationalismus aber wurde. So wurden sprachliche Minderheiten als störendes Element wahrgenommen – ganz besonders, wenn sich diese, wie die Polen, zudem noch durch ihre katholische Konfession von der Mehrheit unterschieden.

Eine wissenschaftliche Analyse des Verhältnisses des letzten preußischen Königs und deutschen Kaisers Wilhelm II. zu seinen polnischen Untertanen fehlte jedoch bislang. Mit Piotr Szlanta, der 2015 die bisher einzige original polnischsprachige Biographie Wilhelms II. vorgelegt hat,4 macht sich nun ein ausgewiesener Kenner der Materie daran, diese Lücke zu schließen. Sein Buch stützt sich auf eine breite Recherche der einschlägigen deutsch- und polnischsprachigen Literatur und zudem auf gründliches Quellenstudium. Szlanta hat Material aus Archiven in Berlin, Wien und Posen ebenso ausgewertet wie die Tagespresse, stenographische Berichte von Parlamentssitzungen, Memoiren und Briefe.

Das Buch ist neben der Einleitung in sieben Kapitel gegliedert, die im Wesentlichen chronologisch aneinander anschließen. Im ersten Kapitel werden „die Funktionen und die Bedeutung der Institution Monarchie“ (S. 9) in der hier relevanten Zeitperiode allgemein beschrieben und die Herrschaftspraxis sowie der Charakter Wilhelms II. im Speziellen dargestellt. Dabei hebt Szlanta die in der Forschung weithin bekannte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hervor, die schon unter Zeitgenossen zu Kritik oder auch zu Belustigung führte.

Das zweite Kapitel skizziert die – wie sich bald herausstellen sollte: trügerische – Hoffnung auf eine Annäherung zwischen preußischem Staat und polnischer Minderheit in den ersten Jahren der Regierung Wilhelms II. Die eigentliche Schlüsselfigur für dieses atmosphärische Zwischenhoch war jedoch nicht der an die Regentschaft gekommene junge Kaiser, sondern der alte Kanzler Bismarck, dessen Rückzug aus der Regierung von den Polen freudig begrüßt wurde. Die polnische Fraktion in den Parlamenten unterstützte Projekte der Regierung, erhielt jedoch nicht die erwarteten Zugeständnisse und ging nach internen Auseinandersetzungen zunehmend von dieser Kooperationslinie wieder ab. So kam es 1894 zum Bruch zwischen der polnischen Fraktion in Berlin und dem Kaiser, der sich zudem über die Teilnahme nicht weniger seiner Untertanen an einer Landesaustellung im österreichischen Lemberg empörte. Wilhelm II. drohte den Polen in einer Rede in Thorn den Entzug seiner Gnade an, sollten sie nicht von ihrem Nationalbewusstsein abgehen und sich ganz als preußische Untertanen fühlen und verhalten. Hier bilanziert Szlanta treffend, dass es angesichts der Ende des 19. Jahrhunderts dominierenden Ideologie des Nationalismus gar nicht anders kommen konnte, als dass „der Versuch einer polnisch-deutschen Verständigung zu Beginn der 1890er-Jahre mit einem Fiasko endete“ (S. 61).

Wie Szlanta im dritten Kapitel zeigt, hatte Wilhelm II. zwar keine Probleme, privat mit Polen Umgang zu pflegen, wenn dies für ihn nützlich war – konkret geht es um zwei Maler polnischer Herkunft. Das Verhältnis zu seinen polnischen Untertanen insgesamt war jedoch zunehmend von Verhärtung und Unversöhnlichkeit geprägt. Das wird anhand von Beispielen und, wie in anderen Kapiteln des Buches auch, mit anschaulichen Zitaten aus der polnischen Presse belegt. Szlanta zieht interessanterweise nicht nur die in Preußen erscheinende polnische Presse heran, sondern auch die aus den beiden anderen Teilungsgebieten. Generell fällt positiv auf, dass er die Wechselwirkung zwischen den polnischen Teilgesellschaften, besonders ihrer Presse, im Habsburgerreich, in Russland und in Preußen immer wieder berücksichtigt. In den dortigen diplomatischen Vertretungen des Deutschen Reiches wurden auf den Kaiser bezogene Veröffentlichungen aufmerksam registriert und nach Berlin gemeldet.

Das vierte Kapitel nimmt die sogenannten Kaisertage, die Besuche des Kaisers in der Provinz Posen zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg, sowie die Reaktionen der polnischen politischen Elite darauf in den Blick. In diesem Rahmen traf der Kaiser auf die führenden Kreise der Polen – oder besser gesagt: er hätte auf diese treffen können, denn nicht wenige Repräsentanten der polnischen Eliten verweigerten sich demonstrativ der Begegnung mit dem höchsten Repräsentanten des ungeliebten Staates.

Anschließend behandelt Szlanta „[v]erschiedene Aspekte des Verhältnisses der Polen zu Wilhelm II. und seiner Politik“ (S. 125). Hinter dieser eher schwammigen Überschrift verbirgt sich die überzeugende Analyse des Blickes der Polen auf verschiedene Jubiläen wie Kaisergeburtstage, die Silberhochzeit des Kaiserpaares und Thronjubiläen, und besonders auf dessen Kolonial- und Rüstungspolitik. Auch der Wahrnehmung des Kaisers im österreichischen und im russischen Teilungsgebiet sowie der Reaktion Wilhelms II. auf die Haltung der Polen außerhalb seines Herrschaftsgebiets widmet Szlanta ein eigenes Kapitel.

Das abschließende siebte Kapitel behandelt die Zeit des Ersten Weltkrieges und des anschließenden Exils Wilhelms in den Niederlanden. Hier werden die weitgehend erfolglosen Versuche von Kaiser und Heeresleitung geschildert, die Polen im nunmehr deutsch bzw. österreichisch besetzten russischen Teilungsgebiet als Verbündete gegen den Kriegsgegner Russland zu gewinnen. Die Bemühungen, den Polen eine bessere Zukunft unter einem siegreichen Deutschland bzw. Österreich vorzugaukeln, erwiesen sich jedoch als zu unglaubwürdig. Echt war hingegen die Verachtung des Kaisers gegenüber den Polen, die er in rassistischer Manier den Deutschen für unterlegen hielt. Diese Haltung zeigte sich nicht zuletzt in seiner späteren Zustimmung zum Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen.

Szlantas Buch beleuchtet das Verhältnis Wilhelms II. zu den Polen in all seinen Facetten, ist dabei sinnvoll aufgebaut und argumentiert überzeugend. Positiv fällt insbesondere die Weitung des Blickes über das rein preußisch/deutsch-polnische Verhältnis auf die Polen in Österreich-Ungarn und Russland auf. So ergeben sich neue Perspektiven; schließlich standen die Polen in allen drei Teilgebieten in engerem materiellen und geistigen Austausch, als es den jeweiligen Obrigkeiten lieb war.

Sinnvoll ergänzt wird das Werk durch eine Auswahl von Karikaturen Wilhelms II., überwiegend aus polnischen satirischen Magazinen, die das Verhältnis des Kaisers zu den Polen (und andersherum) pointiert in Szene setzen. Das fügt sich gut in das Bild der erheblichen Bedeutung, die Szlanta der Presse für den Meinungsbildungsprozess innerhalb der polnischen Eliten zumisst. Allerdings ist oft lediglich pauschal von „den Polen“ die Rede – hier wäre doch eine gewisse Differenzierung wünschenswert, um welche sozialen bzw. politischen Gruppen innerhalb der polnischen Minderheit es sich jeweils vorrangig handelte.

Die gelungene Übersetzung aus dem Polnischen von Matthias Barelkowski hält sich eng an das Original und enthält erfreulich wenige Fehler. Etwas unpräzise ist jedoch die Aussage, Elard von Oldenburg-Januschau sei „der deutschkonservative Abgeordnete des Regierungsbezirks Danzig“ gewesen (S. 16). Tatsächlich war er einer von insgesamt fünf Repräsentanten dieses zur Provinz Westpreußen gehörenden Regierungsbezirks. Bei der Auflistung der Befugnisse des Kaisers im ersten Kapitel heißt es irreführend, dieser habe „die Verfassung ändern“ können (S. 26), was suggeriert, der Kaiser hätte in dieser Hinsicht gewissermaßen freie Hand gehabt. Das ist so nicht korrekt, denn laut Reichsverfassung von 1871, Art. 78, konnte die Verfassung „im Wege der Gesetzgebung“ geändert werden, was eine aus moderner Sicht zwar erstaunlich niedrige Schwelle darstellte, aber immer noch die Mitwirkung aller Verfassungsorgane, also auch von Reichstag und Bundesrat, erforderte.5 Schließlich bestand der Reichstag seit 1874 nicht aus 395 (S. 26), sondern aus 397 Abgeordneten.

Diese wenigen, marginalen Kritikpunkte ändern jedoch nichts daran, dass das Buch uneingeschränkt empfohlen werden kann. Es schließt eine Lücke in der bisherigen Forschung und sollte zu weiterer Beschäftigung mit der polnischen Minderheit in Preußen bzw. im Deutschen Reich und deren Verhältnis zur deutschen Obrigkeit und Mehrheitsgesellschaft anregen. Nicht zuletzt eröffnet dies neue Perspektiven auf die Frage, inwieweit dadurch Grundlagen für das bis in die Gegenwart nicht konfliktfreie Verhältnis beider Staaten und Gesellschaften gelegt wurden.

Anmerkungen:
1 Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1979, S. 184–237.
2 Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016.
3 Albert Kotowski, Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe. Die polnische Fraktion im Deutschen Reichstag 1871–1918, Düsseldorf 2007.
4 Piotr Szlanta, Wilhelm II. Ostatni z Hohenzollernów, Warszawa 2015.
5 Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Band 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, Stuttgart 1964, S. 305.

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