Zentrum für Historische Forschung Berlin, PAN (Hrsg.): Historie (1-3)

Cover
Titel
Historie (Folge 1 bis 3).


Herausgeber
Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften
Erschienen
Leverkusen 2008: Budrich UniPress
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Guth, Historisches Institut, Universität Bern / Universität St. Gallen

Wenn in Zeiten erregter deutsch-polnischer Erinnerungskontroversen eine neue Zeitschrift unter dem Titel „Historie“ antritt, dem deutschen Publikum die An- und Einsichten polnischer Geschichtsforscher näher zu bringen, so lässt das hoffen und bangen zugleich: hoffen darauf, dass das neue Forum dem Austausch zwischen deutschen und polnischen Historikern neue Impulse und zusätzliche Sichtbarkeit verleiht. Und bangen, dass das Projekt seinerseits ins Fahrwasser geschichtspolitischer Auseinandersetzungen geraten könnte und damit nicht nur der deutsch-polnischen Verständigung, sondern auch der Geschichtswissenschaft einen Bärendienst erweisen würde. Was ist also – nach dem Erscheinen von bisher drei Jahrgangsbänden – zu berichten vom Nutzen und Nachteil der „Historie“ für das deutsch-polnische Geistesleben?

Um es vorweg zu nehmen: vorwiegend Vielversprechendes. Herausgegeben vom „Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN)“ in Berlin, dem mit Robert Traba ein vormaliger Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Warschau vorsteht, zählt das Jahrbuch sowohl große Namen der polnischen Geschichtswissenschaft, als auch jüngere polnische Historiker und deutsche Polenforscher zu seinen Autoren. Erklärte Absicht der Zeitschrift ist es, „die spezifische polnische Erfahrung von Geschichte“ in die „wichtigen öffentlichen Debatten über die Vergangenheit“ in Deutschland einzubringen – ein Anliegen, das Traba in Vorwegnahme möglicher Vorwürfe gleich selbst im Zusammenhang der Geschichtspolitik verortet, aber für legitim erklärt, solange der Historiker dem „universellen Grundsatz wissenschaftlicher Ethik“ verpflichtet bleibe (Folge 1, S. 8, vgl. ebd., 127). Das mag zunächst an jene Lippenbekenntnisse erinnern, mit denen deutsche Ostforscher und polnische Westforscher im vergangenen Jahrhundert einem Elfenbeinturm mit Schiessscharten das Wort redeten – man denke etwa an die „Zeitschrift für Ostforschung“ des Marburger Herder-Instituts oder die „Westrundschau“ des Posener Westinstituts. Ein Blick auf die Inhalte der „Historie“ offenbart freilich schnell, dass eine politische Nutzbarmachung von Geschichte hier eher im Sinne des Versöhnungsanliegens intendiert wird, das sich die deutsch-polnische Schulbuchkommission seit den 1970er-Jahren auf die Fahnen geschrieben hat. (Nicht von ungefähr amtiert Traba derzeit auch als deren Vorsitzender.)

„Historie“ hat sich mithin eine doppelte Vermittlungsaufgabe gestellt – zum einen zwischen Polen und Deutschland, zum anderen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Ersteres gelingt über weite Strecken überzeugend, sind die Autoren doch in aller Regel bestens mit deutschen Geschichtsinterpretationen vertraut und deshalb in der Lage, die zeitweise arg selbstreferentielle deutsche Beschäftigung mit der Vergangenheit um neue, bisweilen kalkuliert provozierende, aber stets anschlussfähige Perspektiven zu erweitern. Das zeigt sich insbesondere dort, wo deutsche Topoi wie die Sonderwegsthese aus polnischer Warte unter die Lupe genommen werden (Hubert Orłowski in Folge 3, 185-203) oder wo deutsche und polnische Geschichtswahrnehmung unmittelbar aufeinander bezogen werden – etwa wenn umstrittene oder (scheinbar) parallele Erinnerungsorte in verschränkter deutsch-polnisch-(jüdischer) Perspektivik untersucht werden, wie das Zofia Wóycicka für Auschwitz / Oświęcim (Folge I, 138-144), Stefan Dyroff für Grunwald / Tannenberg (Folge 3, 204-222) und Hans-Jürgen Bömmelburg für Reich und Rzeczpospolita (Folge 1, 145-157) leisten. Mit Gewinn lesen sich erwartungsgemäss auch jene Beiträge, in denen junge Forscher die Erträge laufender Dissertationsvorhaben zur polnischen Geschichte präsentieren. Herausgegriffen seien in diesem Zusammenhang Maciej Górnys Untersuchung zur polnischen, ungarischen und ostdeutschen Geschichtswissenschaft in den Jahren des Spätstalinismus (Folge II, 22-39) und Stephan Stachs quellengesättigter Abriss zur wechselvollen Geschichte des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau (Folge 2, 57-81). Metahistorische Beiträge zur gegenwärtigen Befindlichkeit der polnischen Historikerzunft (Rafał Stobiecki in Folge 1, 37-56) oder zu den jüngsten Entwicklungen in der polnischen Geschichtspolitik (Piotr Witek in Folge 3, 23-50) lassen sich nicht nur als Kontrastfolie zum deutschen Umgang mit Geschichte lesen, sondern vermitteln darüber hinaus auch inhaltliche Referenzpunkte für deutsche Debatten. Dass das Nachdenken über die Wechselfälle der deutsch-polnischen Vergangenheit jenseits des konkreten Anwendungsfalls auch der Methodenreflexion zuträglich ist, zeigt die Auseinandersetzung mit dem Erinnerungsbegriff, die Etienne François, Georg Kreis und Kornelia Kończal in Folge 2 (91-137) betreiben.

Als Botengängerin zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit weiß die Zeitschrift vor allem dort zu überzeugen, wo sie den öffentlichen Umgang mit deutsch-polnischer Geschichte am konkreten Gegenstand historiographisch reflektiert. So fasst ein thematischer Schwerpunkt in Folge 1 die Opferdiskurse zum Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Polen bei ihrer numerischen Dimension. Im Zuge dessen, wie Mateusz Gniazdowski, Rüdiger Overmans, Zbigniew Gluza und Ingo Haar sich aus verschiedenen Richtungen einer plausiblen Quantifizierung der Bevölkerungsverluste annähern, dekonstruieren sie die überhöhten oder verzerrten Opferzahlen, welche die Historiker, Minsterialbeamten und Verbandpolitiker beider Seiten über lange Jahre aus revisions-, reparations- und gedächtnispolitischen Interessen verbreiteten. Aus diesem akribischen Bemühen spricht die Überzeugung der Autoren, dass die Geschichtswissenschaft durchaus zur Versachlichung des öffentlichen Erinnerns beitragen kann und muss – gleichzeitig aber auch die Einsicht, dass sie daran oftmals gescheitert ist. Damit ist auch zugleich der Habitus charakterisiert, mit dem die Zeitschrift der Öffentlichkeit gegenüber tritt – frei von wissenschaftlicher Überheblichkeit, aber durchaus von aufklärerischen Absichten beseelt. (Folge 1, 65-120).

Die Struktur der Zeitschrift folgt – mit gelegentlichen Variationen – einem dreigliedrigen Aufbau. „Historie in Polen“ informiert mit Tagungsberichten, Rezensionen, Forschungsberichten und ausgewählten Beiträgen über aktuelle Entwicklungen in der polnischen Geschichtswissenschaft; Ähnliches leistet die Rubrik „Historie am Zentrum für Historische Forschung“ im Hinblick auf die hauseigenen Aktivitäten. Den dritten und zentralen Teil jeder Nummer bilden von Folge zu Folge wechselnde Schwerpunktthemen, die den einzelnen Bänden inhaltliche Kohärenz verleihen und in der Summe über die Jahre vielleicht zu einer Art Enzyklopädie deutsch-polnischer Vergangenheitsbetrachtung heranwachsen werden, die im Rückblick dereinst auch zeithistorischen Wert gewinnen dürfte.

Folge 1 legt den Schwerpunkt auf „Krieg und seine Folgen“ – gemeint sind der Zweite Weltkrieg und seine Konsequenzen für Deutschland und Polen. Wiedergegeben werden die Erträge zweier Kolloquien, deren erstes sich um die historischen Konstruktion der Vertreibungsverluste bemühte (siehe oben), und deren zweites die verschiedenen Formen, Medien und Mechanismen beleuchtete, in deren Rahmen der Krieg heute aktualisiert oder historisiert wird: von der Geschichtswissenschaft über die Erinnerungs- und Geschichtspolitik bis hin zur Kunst. Die Vielzahl der Beiträge sorgt für ein facettenreiches Kaleidoskop, zwingt die Verfasser jedoch zu äußerster Knappheit, sodass Vieles angedeutet bleibt, was der Ausführung wert gewesen wäre. Folge 2 greift unter dem Leitthema „Historie erinnern – Historie erzählen“ einen Themenkreis auf, der bereits in der ersten Folge angeklungen ist. Die entsprechenden, teils methodisch, teils inhaltlich fokussierten Beiträge spannen dabei ein breites Panorama deutsch-polnischer Erinnerungsorte auf und sind im Zusammenhang einer mehrbändigen Publikation zu diesem Thema zu sehen, die unter Federführung des Historischen Instituts der PAN derzeit seiner Vollendung entgegen geht. Folge 3 überschreitet erstmals den deutsch-polnischen Horizont und begibt sich mit dem Schwerpunkt „Individuum – Freiheit – Gemeinschaft“ auf ein weites Feld, das die Themensetzung des polnischen Historikertags 2009 aufgreift und einige der dort gehaltenen Referate wiedergibt. Auf den Spuren des Individuums führen die versammelten Beiträge vom osmanischen Reich (Dariusz Kołodziejczyk, 106-114) in die frühneuzeitliche Republik Polen Litauen (Wojciech Kriegseisen, 115-132) und gehen dem „Pöbel“ des 19. Jahrhunderts (Tomasz Kizwalter, 133-148) ebenso nach wie dem wechselvollen Verhältnis von Staat und Individuum im 20. Jahrhundert (Włodzimierz Mędrzecki, 149-165). Weitere Blickwinkel eröffnen ein „Essay über zwischenmenschliche Distanz in der Geschichte (Marcin Kula, 75-105) und ein Sittenbild der Prostitution im Spiegel der polnischen Belletristik des 19. und 20. Jahrhunderts (Kamila Uzarczyk, 166-181). Zusammengenommen ergibt sich eine tour d’horizon, die nicht nur die Facetten des Gegenstands, sondern auch die Vielfalt der polnischen Historiographie abschreitet.

Was die Stärke der Zeitschrift ausmacht – nämlich ihre Aktualität und Vielfalt – ist zugleich auch für einige ihrer Schwächen verantwortlich. So können etliche der abgedruckten Aufsätze nicht verhehlen, dass sie aus Vorträgen oder Diskussionsbeiträgen hervorgegangen sind; für die Druckfassung hätte man sich eine gründlichere Überarbeitung gewünscht, für die offenbar keine Zeit blieb. Auch der Spagat zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit gerät bisweilen zur Zerreisprobe, wenn sich unter sorgfältig argumentierende Beiträge allzu essayistische oder übermäßig didaktische Texte mischen, die im Feuilleton oder im Schulbuch vielleicht geneigtere Leserkreise fänden. Letztlich sind das aber wohl Kinderkrankheiten einer jungen Zeitschrift, die zweifellos den Schwung hat, frischen Wind unter die Dunstglocke deutsch-polnischer Erinnerungsversunkenheit zu wirbeln. Dass das gelingt, ist den Herausgebern und Autoren der Zeitschrift ebenso zu wünschen wie ihren Adressaten.

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