Titel
Přemyslovci. Budování českého státu


Herausgeber
Sommer, Petr; Třeštík, Dušan; Žemlička, Josef
Anzahl Seiten
779 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Das populärwissenschaftlich aufgemachte Werk mit über 600 farbigen Fotografien und Grafiken erschien aus Anlass der 700-jährigen Wiederkehr des Todes des letzten Přemyslidenkönigs Wenzel III. 1306 und will an das in den 1930er-Jahren erschienene Werk „Budování státu“ (Aufbau des Staates) des überzeugten Demokraten Ferdinand Peroutka erinnern, der den „Aufbau“ der Tschechoslowakischen Republik (ČSR) darstellen wollte. Allein durch die Ähnlichkeit der Buchtitel wird eine nationale identitätsstiftende Wirkung angepeilt: Lange vor der Verwirklichung staatlicher und nationaler Unabhängigkeit der Tschechen in der ČSR habe es im Mittelalter den „Aufbau“ eines tschechischen Staates gegeben. Dessen Entwicklung zu nachhaltiger Stabilität und Unabhängigkeit und auch zu historischer Größe zu betonen, ist eines der Anliegen der „Přemysliden“.

Das von den am Prager Centre for Medieval Studies tätigen Petr Sommer, Dušan Třeštík (†) und Josef Žemlička herausgegebene und von den Lektoren Ivan Hlaváček, František Šmahel und Jan Royt für den Druck empfohlene Buch ist in fünf Kapitel gegliedert, die in größere Beiträge unterteilt sind, wobei diese wiederum von kleineren Beiträgen durchsetzt sind: I. „Die Přemysliden, der böhmische Staat und Europa“ aus vier Beiträgen, II. „Die Zeit der Anfänge“ mit 14 Beiträgen, III. „Böhmen während der Fürstenherrschaft“ aus 16 Beiträgen, IV. „Das königliche Böhmen“ aus 21 Beiträgen und V. „Staatliche und dynastische Realien“ aus sechs Beiträgen. Am Buchende folgen Anmerkungen, Verzeichnisse der Quellen, Literatur und Abbildungen, ein englisches Resümee und ausführliche Register. Beigelegt ist eine Přemysliden-Stammtafel. Insgesamt liegt eine imponierende (auch logistische) Arbeitsleistung vor, die über das politische, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Leben und das, was davon übrig blieb, Zeugnis ablegen will. 35 Historiker und Archäologen (auch der jüngeren Generation) haben Beiträge geliefert; ihre Mehrheit ist im Prager Wirkungskreis der Herausgeber tätig, als nicht-tschechische Autoren sind Robert Bartlett und Jerzy Strzelczyk zu nennen. Die Herausgeber haben 20 Beiträge verfasst oder waren an solchen beteiligt, wobei Josef Žemlička mit zehn Beiträgen herausragt.

In einem einleitenden Text formulieren die Herausgeber: „Das přemyslidische Böhmen, der přemyslidische Staat, die Zeit der přemyslidischen Fürsten und Könige – so wird oftmals die Zeitspanne unserer [!] Geschichte vom Ende des 9. bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts bezeichnet. In ihm spielen die Přemysliden eine bedeutende führende Rolle. Sie einen das Land und christianisieren es, bauen den Staat und seine Organisationen auf, gründen die böhmische Kirche, bauen Burgen, Kirchen und Klöster, unterwerfen sich mit Härte die früher freie Bevölkerung des Landes, verkünden Gesetze, richten, erheben und strafen, gründen Städte, hüten das böhmische Gebiet und sorgen für seine Verteidigung, ziehen in Kriege. Aber auch untereinander wetteifern sie unbarmherzig um die Macht, begleichen blutige Rechnungen mit ihren Widersachern, schädigen dauernd die Münze, mit bedrückenden Steuern saugen sie das Land aus.“ (S. 7) Die Přemysliden als letztlich allein handelnde historische Subjekte, denen eine zukunftsgerichtete, durchaus planvolle Initiative in vielen Bereichen zugewiesen wird, und die Reduktion der Gesellschaft und ihrer Strukturen als Objekte dieses Handelns bilden in weiten Bereichen die Folie für die im Buch präsentierten Aussagen. Auch der „Staat“ tritt oftmals als Subjekt auf. Neue kulturalistische Ansätze (einer Kulturgeschichte des Politischen), deren fruchtbare Anwendbarkeit etwa für die staufische und welfische Geschichte zur Genüge bewiesen ist, wurden kaum rezipiert. Dementsprechend wird in vielen Beiträgen eine detailreiche, traditionelle Ereignisgeschichte, eine politische Geschichte der Přemysliden geboten, die ohne neue Akzente bleibt. Zu wenig wird etwa nach konsensualer Herrschaftspraxis gefragt, womit die Möglichkeit ungenutzt blieb, die zweifellos vorhandene politische und soziale Integrationsleistung der Přemysliden und die Bindungs- und Anziehungskraft ihrer Herrschaft schärfer zu fassen.1 Auch eine eingehendere Problematisierung der Quellen (vor allem der Chronik Kosmas’ von Prag), auf denen die Autoren ihre „Konstrukte“ aufgebaut haben, wäre wünschenswert gewesen, auch wenn das schön illustrierte Kapitel „Schriftkultur im přemyslidischen Böhmen“ von Marie Bláhová (S. 508–529) sehr informativ ausgefallen ist und in einigen Bereichen zeigt, dass neue Forschungen nötig sind.

Von den Beiträgen können nur einige vorgestellt werden: Robert Bartlett („Europa und der přemyslidische Staat“) betrachtet gekonnt die Integration Böhmens und Mährens in das europäische Umfeld und zieht einen interessanten Vergleich mit der Integration Schottlands. Er resümiert unter anderem: „Es ist wahr, die přemyslidischen Länder waren politisch und kirchlich dem Reich unterstellt, aber diese Verbindung bot, so scheint es, eher die Möglichkeit für eine breite politische Selbstverwirklichung, als dass es als Joch empfunden wurde, dem man sich widersetzen muss.“ (S. 31) Jan Klápště („Europa, Mitteleuropa und die Böhmischen Länder“) bettet den Wandel der Böhmischen Länder vom 10. zum 13. Jahrhundert kenntnisreich in die mitteleuropäische Situation ein und ruft diesbezüglich zu weiteren Forschungen auf, indem er postuliert: „Aus dem Blickwinkel der europäischen Mediävistik wird im Übrigen ganz Ostmitteleuropa bis heute unter verschiedenen Theorien und Vorstellungen betrachtet, die eine ausführliche kritische Aufmerksamkeit verdient hätten.“ (S. 55) Dušan Třeštík („Von der Ankunft der Slawen zum ‚Reich‘ der tschechischen Boleslavs“) erblickt in einer Hypothese im großmährischen „Staat“ Svatopluks, der durch „Entlehnung, Nachahmung, hauptsächlich aber eigene Schöpfung entstand (gezielt, nicht durch ‚Entwicklung‘)“, ein Modell, das sich im 10. Jahrhundert in den „Staaten“ der Přemysliden, Piasten und Arpaden durchsetzen konnte, auch wenn die „staatliche Organisation“ Großmährens und das „mährische Ethnikum“ am Anfang desselben Jahrhunderts zugrunde gegangen sind (S. 85f.). Die These bedarf, wie auch Klápště bemerkt, weiterer Diskussion, ebenso wie jene vom fürstlichen kriegerischen Gefolge, das – einem stehenden Heer gleich – vom Fürsten unterhalten worden sein soll. Zum „Aufbau des böhmischen Staates“ gehörte der systematische Ausbau von přemyslidischen Burgen. Alte befestigte Orte mussten dabei „dem neuen Staat weichen“, und die neue „Burgenorganisation“ bildete bis ins 12. Jahrhundert den Kern der staatlichen Verwaltung, wie Petr Sommer („Burgzentren“) ausführt (S. 182, 184).

Dušan Třeštík („Die Idee von einem Staat und einer Nation“) postuliert, dass der přemyslidische Fürst einerseits „theoretisch die uneingeschränkte Kontrolle über den Staatsapparat“ besaß, vor allem über die Großen als seine „Beamte“ (úředníky), andererseits von diesen abhängig war, da sie ihn wählten. Des Weiteren verfolgt Třeštík auf der Basis der Kosmas-Chronik die Vorstellung eines „Vertrages“ zwischen „allen Böhmen“ als souveräne „politische Nation“ und dem souveränen Herrscher, die gemeinsam als „Träger des Staates“ fungieren, zu dessen eigentlichem Herrscher seit dem 12. Jahrhundert schließlich der heiligen Wenzel stilisiert wurde (S. 272, 275f.).

Markéta Marková („Die Grenzen des přemyslidischen Staates“) geht von der Definition aus, Grenze „als Art und Weise des Menschen, den natürlichen Raum aufzufassen, den eigenen Besitz vom fremden abzugrenzen“, zu betrachten und konzentriert sich dementsprechend auf die Entwicklung und Beschreibung der (schließlich) linearen und historisch recht stabilen Landesgrenzen Böhmens und Mährens, um zu enden: „Es ist nicht uninteressant, dass Umfang und Begrenzung, die die Přemysliden des 10. und 11. Jahrhunderts ‚ihrem‘ Böhmen und Mähren aufgedrückt haben, ohne größere Veränderung von der heutigen Tschechischen Republik kopiert werden.“ (S. 481, 496) Es ist schade, dass die Autorin Grenzen nicht vermehrt auch als kulturelle Konstrukte, als Räume der Begegnung, Kommunikation und Repräsentation ins Spiel gebracht hat. Josef Žemlička („Unsere Deutschen, fremde Deutsche und Juden“ [sic!]) skizziert die Anwesenheit „fremder ‚Gäste‘“ in Böhmen und die „deutsche Kolonisation“ und postuliert unter anderem zu den seit dem 10. Jahrhundert fassbaren Juden, dass ihre „Stellung von Anbeginn an kompliziert war, da sie als Andersgläubige viel beschwerlicher einen Modus der Kommunikation mit der christlichen Umwelt suchten und in religiös angespannten Zeiten zum wiederholten Mal physisch bedroht wurden“ (S. 497f.). Kaum vertretbar ist die Aussage, dass Juden sich in Städten „aus verschiedenen (nicht immer rassischen und religiösen) Gründen in abgegrenzten Bereichen niederließen“ (Židé, kteří se z různých [ne vždy rasových a náboženských] důvodů usazovali ve vymezeném prostoru …, S. 506). Der Beitrag wird abgeschlossen mit der nicht restlos überzeugenden Feststellung: „Trotzdem, die entscheidende Masse der Bevölkerung des Königreiches bildete die einheimische slawische Population – wie auf dem Land, so in den sich dynamisch entwickelnden Städten.“ (S. 507)

Das Buch bietet eine bunte und facettenreiche Schau der přemyslidischen Epoche und informiert fast allumfassend, bemüht sich, mittelalterliche Geschichte zu visualisieren und greifbar zu machen und erreicht damit erfreulicherweise ein großes Publikum. Aber es versucht sich auch an dem großen Narrativ einer zukunftsträchtigen přemyslidischen Staatsgründung und hält eine Folie für die ethnisch-nationale und staatliche Kontinuität und Identität der Tschechen bereit: Es schafft Differenz. Dagegen vermisst man Bemühungen um eine Entmythisierung und Entnationalisierung der Auffassungen über die Geschichte der Přemyslidenepoche und um eine Vermittlung moderner Auffassungen über das Mittelalter. Würde ein Buch „Die Salier und Staufer – Der Aufbau des deutschen Staates“ oder „Die Babenberger – Der Aufbau des österreichischen Staates“ erscheinen, so würde das unter den Mediävisten der betreffenden Staaten (hoffentlich) auf Skepsis stoßen. Denn gemäß Forschungsmeinungen hat es im Mittelalter zwar Formen von „Staatlichkeit“ gegeben, der Begriff „Staat“ sollte jedoch besser den Formen von Staatlichkeit in der Neuzeit und Gegenwart vorbehalten bleiben.2

Bei einer Kritik der Verwendung von „Staat“ geht es nicht um belanglose Begriffsspielereien, denn mit dem Postulat eines Staates im Mittelalter können Ziele verfolgt werden, die ihre Determinanten in vergangenen und gegenwärtigen politischen und nationalen Auseinandersetzungen haben. Die im Buch fast durchgehende Verwendung von „Staat“ beschert die Suggestion eines relativ institutionalisierten Staates, wobei aber ein hohes Maß an Staatlichkeit bei einer verschwindend kleinen Menge schriftlicher Quellen, die seine Verwaltung dokumentieren könn(t)en, postuliert wird. Insgesamt wird zudem mehr ein fertiges Bild von „Staat“ denn ein ernstzunehmender Diskussionsbeitrag über „Staat“ geboten. Nicht in Betracht gezogen wurde, dass bei einem Verzicht auf „Staat“ und auf Betonung von dessen Unabhängigkeit (vor allem vom Reich) das darzustellende staatliche Gebilde Böhmen nicht mit staatlicher Schwäche assoziiert werden muss. Aus dem Blickwinkel gegenwärtiger europäischer Mediävistik transportiert das Werk insgesamt – und daran ändern leider auch die überzeugenden Beiträge zu wenig – viel Wissenschaft von gestern.

Anmerkungen:
1 Weite Passagen des Buches lassen den Forschungsstand vermissen. Ähnliche Defizite wurden für Bereiche der tschechischen Zeitgeschichte erkannt: Jaroslav Kučera / Volker Zimmermann, Zum tschechischen Forschungsstand über die NS-Besatzungsherrschaft in Böhmen und Mähren. Überlegungen anlässlich des Erscheinens eines Standardwerkes, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 49 (2009), S. 164–183.
2 „Staat“ und „Staatlichkeit“ wurden zuletzt – ohne eingehende Problematisierung Böhmens – behandelt in: Walter Pohl / Veronika Wieser (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven, Wien 2009. Vgl. Hans-Werner Goetz, Versuch einer resümierenden Bilanz, in: ebd., S. 523–531. Ergänzend sei bemerkt, dass im Tschechischen ein Äquivalent zu Staatlichkeit mit dem Begriff „státnost“ existiert, der bereits in der Forschung thematisiert wurde, siehe: Martin Wihoda / Demeter Malat'ák (Hrsg.), Stát, státnost a rituály přemyslovského věku [Staat, Staatlichkeit und Rituale in der přemyslidischen Epoche], Brno 2006.

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