Cover
Titel
Der Himmel über dem Rat. Zur Symbolik der Ratswahl in mitteldeutschen Städten


Autor(en)
Diener-Staeckling, Antje
Reihe
Studien zur Landesgeschichte 19
Erschienen
Halle/Saale 2007: Mitteldeutscher Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Meinhardt, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Stadtgeschichtsforschung und historische Ritualforschung - eine Paarung, die in Deutschland unweigerlich an Münster denken lässt. Und richtig, dem Schnittfeld der dort institutionalisierten Beschäftigung mit „Gesellschaftlicher Symbolik des Mittelalters“ und des Instituts für vergleichende Städtegeschichte entstammt das hier zu besprechende Buch von Antje Diener-Staeckling, das auf eine von Dietrich W. Poeck an der Westfälischen Wilhelms-Universität betreute Dissertation zurückgeht.

Titel und Zielstellung rücken Ratswahl und Ratswechsel in den Blickpunkt. Es wird gefragt nach deren Ort, Form, Darstellung und Deutung. Als Prämisse dient die Annahme, dass sich städtisch-bürgerliche Ratsherrschaft in einer von aristokratischen Prinzipien und Leitbildern geprägten Welt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit einem Legitimationsdefizit ausgesetzt sah. In der rituellen Ausgestaltung von Ratswahl und Ratswechsel erkennt Diener-Staeckling hierauf abgestimmte Strategien städtischer Oberschichten, mit diesem Problem umzugehen.

Als Basis wird ein weites Spektrum von Quellen genutzt, das von Urkunden, chronikalischer Überlieferung, Rats- und Stadtbüchern bis zu Bildquellen und zur materiellen Kultur reicht. Normative Zeugnisse stehen neben solchen, die eher reale Vorgänge spiegeln. Das geographische Untersuchungsfeld bildet ein klug gewählter Kompromiss aus regionaler Homogenität und städtetypologischem Variantenreichtum. Zwölf Städte des mitteldeutschen Raumes (in einem weiten, pragmatischen Begriffsverständnis) sind es, die hier genauer untersucht werden: Mühlhausen, Nordhausen, Goslar, Erfurt, Naumburg, Leipzig, Halberstadt, Aschersleben, Quedlinburg, Zerbst, Wittenberg und Weimar. Es finden sich also ebenso Reichsstädte wie Territorialstädte, Städte mit geistlichen wie solche mit weltlichen Stadtherren, Städte mit und ohne Residenzfunktion; auch werden Hansestädte und Universitätsstädte berücksichtigt. Der zeitliche Rahmen ist Epochen übergreifend gesteckt und reicht von ca. 1200 bis 1618. Die Entscheidung für diese lange Zeitstrecke wird völlig berechtigt mit dem Hinweis begründet, dass die Scheidung zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit sich gerade auf dem stadtgeschichtlichen Feld kaum sinnvoll anwenden lässt und die Forschung hier längst einen gemeinsamen Diskussionszusammenhang bildet. Allerdings bleibt die Setzung des Jahres 1618 als Endpunkt willkürlich. Auch wird sie in der folgenden Untersuchung nicht konsequent durchgehalten.

Drei Schwächen der Buchgestaltung fallen sogleich auf: Zunächst einmal wird die Lektüre durch die Abtrennung von Darstellung und Anmerkungsteil gestört, da der Leser ständig zwischen Hauptteil und Anhang hin und her blättern muss; außerdem fehlen Register, wodurch die zielgerichtete Auffindung von Einzelaspekten erschwert wird; und schließlich ist die starke Untergliederung des Literaturteils eher hinderlich als hilfreich.

Der Hauptteil des Buches zerfällt in zwei Abschnitte: Im ersten, etwas längeren Komplex werden die zwölf Fallbeispiele der Reihe nach in Hinblick auf die lokalen Formen und Orte von Ratswahl und Ratswechsel untersucht. Im zweiten Teil werden die Aspekte „Zeit und Verfahren“, „Raum und Verfahren“ sowie die „Auswirkung und Bedeutung der Reformation“ übergreifend genauer betrachtet. Der Untersuchungsgang führt Diener-Staeckling zu der Einsicht, dass Ratswahl und Ratswechsel einen längeren zeitlichen Prozess bildeten, der unterschiedliche Stufen der Öffentlichkeit kannte. Auf Komponenten, die einer hohen Exklusivität unterlagen – wie der Wahlakt selbst –, folgten solche, die eine breitere Zugänglichkeit aufwiesen. Eine regional einheitliche Terminierung lässt sich nicht erkennen, doch immerhin eine deutliche Präferenz der Zeit zwischen Dezember und Juni, was einen Konnex zur christlichen Geburts- und Lichtsymbolik nahelegt. Rathaus und Kirche, und hier vor allem die Hauptpfarrkirchen der Stadtgemeinden, waren es, die als Zentren städtischer Macht und bürgerlicher Identität im rituellen Ablauf die wichtigsten Orte des Geschehens bildeten, – ein Befund, der wohl kaum überrascht. Performative Akte, wie Prozessionen, stellten eine Verknüpfung dieser Orte her. Als zentrale Funktion des in der Regel jährlichen Ratswechsels identifiziert Diener-Staeckling das Bemühen, in symbolischen Handlungen die städtische Ordnung stets aufs Neue zu konstituieren und zu bestätigen; auch sollte auf diese Weise die Zustimmung der Bürgerschaft zum Rat eingeholt werden und dieser in einem gegenseitigen Verpflichtungsprozess laufend legitimiert werden. Zugleich wird im stark sakral aufgeladenen rituellen Arrangement erkennbar, dass der Rat zusätzliche Legitimität aus dem Gedanken göttlicher Beauftragung bezieht, welche die Bindung seines Herrschaftsanspruches an die Zustimmung der Bürgerschaft zumindest relativiert. Der Rat erscheint hier von einer eher obrigkeitlichen denn bürgerlich-genossenschaftlichen Selbstdeutung geleitet zu sein. Und auch hier – wie in vielen anderen Herrschaftskonzeptionen des Mittelalters – erscheint das Gemeinwohl als Maxime der Ratsherrschaft. Trotz lokal differierender Ausgestaltungen lassen sich bestimmte, stets wiederkehrende Ritualelemente ausmachen: Wahlvorgang, Eid der Ratsleute, die Verkündigung vor der Gemeinde, der Schwur und die Gehorsamsverpflichtung der Bürger sowie Mahl und städtische Feiern waren offenbar generell unverzichtbare Bausteine. Auffällig ist, dass weder die wachsende Einflussnahme der Stadtherren noch der religiöse Umbruch mit der Reformation an der Grundstruktur von Ratswahl und Ratswechsel Wesentliches ändern. Das obrigkeitliche Selbstverständnis des Rates scheint sich jedoch mit der Reformation zu verstärken. Ritual und Symbolik erweisen sich in allen untersuchten Fallbeispielen auch im langen Zeitschnitt als überaus stabil.

Damit wäre man allerdings auch bei einem inhaltlichen Problem dieser Arbeit angelangt. Der konsequent ritualhistorische Ansatz blendet nun freilich erhebliche Teile sozialer und politischer Wirklichkeit der Ratsherrschaft aus. Ratswahl und Ratswechsel suggerieren über einen langen Zeitraum eine Stabilität, welche die Realität nur bedingt spiegelt. Leider verzichtet die Arbeit weitgehend darauf, die Beziehung zwischen Anspruch und Bedeutung des rituellen Handelns und der Wirklichkeit genauer zu prüfen. Brüche und Spannungen, Machtverteilungen in der Stadt insgesamt wie im Rat selbst verschwinden allzu sehr hinter der Fassade des Rituals. Als Beispiel sei hier nur das Problem der für gewöhnlich geheimen Ratswahl aufgegriffen: Wie Diener-Staeckling selbst mehrfach betont, war die nicht öffentliche Wahl eines neuen Rates nicht ergebnisoffen, vielmehr war der Kreis der ratsfähigen Personen begrenzt und die Ratszusammensetzung in der Regel vor dem Wahlakt festgelegt. Die Verhandlungen und damit möglicherweise verbundene, nicht selten höchst aufschlussreiche Konflikte – die eigentlichen Entscheidungsprozesse also – lagen vor dem Wahlgang. Da sie aber nicht als Teil, sondern als bloße Voraussetzung des rituellen Ablaufes betrachtet werden, finden sie keine nähere Berücksichtigung im Untersuchungsgang des Buches. Und wie wir längst wissen, durchbrachen die Vorverhandlungen den geheimen Charakter der Ratswahl nicht selten. Gerüchte, Streitigkeiten oder Indiskretionen waren Teil der städtischen Lebenswirklichkeit und ließen scheinbar geheime Ratsvorgänge durchaus öffentlich werden. Eine Untersuchung, die nun neben der vom Rat im Ritual inszenierten Nichtöffentlichkeit, Einigkeit und Homogenität nicht auch auf vorausgehende politische Prozesse und grundlegende soziale Konstellationen blickt, verkürzt das Geschehen erheblich. Orte und Wege der tatsächlichen Entscheidungsfindung sowie deren Bestimmungsfaktoren selbst bleiben außerhalb des Blickfeldes. Problematisiert wird dies im Buch nicht. Generell kennzeichnet die Arbeit ein hohes Vertrauen in die Selbstverständlichkeit, allgemeine Akzeptanz und umfassende Erklärungskraft ritualhistorischer Forschung. Wichtige konzeptionelle Probleme oder gar grundsätzlichere Bedenken, wie sie längst Philippe Buc oder Hanna Vollrath vorgebracht haben, werden nicht aufgriffen, nicht einmal im Literaturverzeichnis werden sie nachgewiesen. Da sich Diener-Staeckling ansonsten durchaus theoretisch und methodisch informiert zeigt, überrascht diese Ausblendung.

Sicher büßt das Buch damit nicht seinen Wert ein: Für die Fallbeispiele werden die Abläufe von Ratswahl und Ratswechsel erstmals systematisch und in vergleichender Perspektive rekonstruiert. Verfassungsgrundlagen, welche schon die ältere Forschung freigelegt hatte, werden für einen wesentlichen Teil der mitteldeutschen Städtelandschaft gebündelt zusammengestellt. Und insgesamt gelingt es Diener-Staeckling durchaus überzeugend, den ritualhistorischen Ansatz für einen in diesem Kontext noch wenig berücksichtigten Teil des Reiches fruchtbar zu machen. Doch werden an den Grenzen des Buches auch Grenzen des Ansatzes sichtbar.