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Titel
Urban Activism in Eastern Europe and Eurasia. Strategies and Practices


Herausgeber
Darieva, Tsypylma; Neugebauer, Carola Silvia
Erschienen
Berlin 2020: DOM Publishers
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
David Amiri, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der städtische Aktivismus in den Ländern Osteuropas und Eurasiens sei ein blinder Fleck in der westlichen Berichterstattung. Es würde das Bild einer passiven und gehorsamen Bürger:innenschaft existieren, die sich nicht zu trauen wage, vorherrschende Machtstrukturen in den städtischen Räumen Osteuropas und Eurasiens zu hinterfragen. Mit dieser kritischen Beobachtung leiten Tsypylma Darieva und Carola S. Neugebauer den von ihnen herausgegebenen Band Urban Activism in Eastern Europe and Eurasia. Strategies and Practices ein und setzen damit den Grundton für die folgenden detaillierten Ausführungen zum vielfältigen städtischen Aktivismus in den postsowjetischen Ländern. Das transdisziplinäre Werk ist eine multi-modale Zusammenstellung verschiedener akademischer Beiträge, die einzelne aktivistische Initiativen in ihren verschiedenen lokalen Kontexten und unterschiedlichen Ansätzen darstellen. Interviews mit Aktivist:innen, Fotostrecken und Einzelbilder ergänzen die Beiträge und bereichern die Publikation, indem sie einen tiefen Einblick in die persönliche Ebene und die Beweggründe der einzelnen Aktivist:innen ermöglichen.

Ob einzelne Hauptstädte oder kleinere entlegene Orte in den Staaten Russland, Ukraine, Aserbaidschan, Armenien, Georgien, Kasachstan, Litauen oder Moldawien – Darieva und Neugebauer beleuchten die verschiedenen Perspektiven des stadträumlichen Aktivismus. Es wird früh deutlich, dass die unzähligen Initiativen und kollektiven Anstrengungen der Bürger:innen schon längst Anspruch auf den postsowjetischen Raum erhoben haben, der von autoritären und neoliberalen Kräften eingenommen zu sein scheint.

Darieva und Neugebauer definieren urbanen Aktivismus nach Jacobsson und Saxonberg1, wonach urbaner Aktivismus individuelles und kollektives Engagement einer Bürgerschaft bezeichnet, welches den urbanen Raum als Verhandlungsobjekt, Raum der Mobilisierung und als Schauplatz der Auseinandersetzung identifiziert. Basierend auf dieser Definition werden die zentralen Fragen gestellt, welche Besonderheiten urbaner Aktivismus im postsowjetischen Raum besitzt oder wie Aktivist:innen sich mobilisieren, organisieren und miteinander kooperieren, um einen strukturellen Wandel herbeizuführen.

Das Werk lässt sich zwischen den Forschungsfeldern der Stadtentwicklung, der postsowjetischen Studien sowie der Aktivismusforschung verorten. Im Laufe des Bandes werden verschiedene Protestarten untersucht und miteinander verglichen. Dabei stellen die 21 Autor:innen den Bezug zur postkommunistischen Realität in Osteuropa und Eurasien her. In allen Beiträgen nehmen Akteur:innen und Institutionen des Neoliberalismus oder des Staates eine antagonistische Position ein, gegen die es aufzubegehren gilt. Auch dies greifen Darieva und Neugebauer ausführlich auf, indem sie feststellen, dass in der postsowjetischen Ära neoliberale und autoritäre Einflüsse die städtischen Räume zum Nachteil der Bewohner:innen prägen (S. 9). Korrupte Eliten seien besessen vom Bau von Shopping Malls oder Geschäftszentren, für die es nötig sei, Grünflächen zu versiegeln oder historische Bauwerke zu zerstören, die eigentlich denkmalgeschützt sein sollten. Die Beschreibung dieser willkürlichen Bauprojekte ohne Mitsprache der Bürger:innen erweckt den Eindruck, dass die Handlungen heutiger Eliten keinen Unterschied zu den Handlungen während der sowjetischen Zeit aufweisen. Doch scheint in den einzelnen Beiträgen immer wieder hervor: Je strenger die Regeln, desto kreativer der Widerstand.

Beispielsweise beleuchtet Nazaket Azimli, wie Nachbarschaftsvereine und Graswurzelinitiativen in Baku ihr Recht auf die Stadt beanspruchen und dabei künstlerisch-visuelle Mittel gebrauchen. Doch schon früh ist die Rede von der Begrenztheit des städtischen Aktivismus. Die Bakuer Stadtverwaltung sei zu komplex und bestehe aus vielen kleinen Einheiten, deren Rolle in ihrer Gesamtheit kaum zu begreifen ist. Es sei schwierig für die Stadtbewohner:innen direkt mit der Verwaltung zu kommunizieren, um in städtischen Belangen mitreden zu können. Proteste seien oft nicht erfolgreich, da die Bauprojekte meist von großen Unternehmen geleitet werden, die gut vernetzt sind und entsprechende finanzielle Kapazitäten mitbringen. Doch beleben innovative Organisationsformen die Protestlandschaft neu und besitzen das Potenzial, die breite Öffentlichkeit mit kreativen und spielerischen Mitteln über die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Bewohner:innen aufzuklären. Kollektive initiieren künstlerische Projekte, um neue Strategien des Widerstands zu materialisieren und dabei so viele Menschen wie möglich einzubinden: „Artistic expressions often address both aesthetic impacts of urban transformation and underlying socio-economic issues.“ (S. 119)

Gerade hier kristallisiert sich die konzeptuelle Stärke des Werkes heraus. Darieva und Neugebauer abstrahieren aus den einzelnen regionalen Beispielen drei zentrale Elemente, um die es in der Stadt zu kämpfen gilt: Die Objects of Contestation, Spaces of Mobilisation und Scenes of Contestation bezeichnen nicht nur symbolische Orte, sondern eben Orte des Alltäglichen, wie Hinterhöfe oder Nachbarschaften, in denen der Stadtraum gestaltet werden und Aktivismus betrieben werden kann und muss. Mithilfe dieser Konstanten lässt sich jede Form des Protestes detailliert analysieren, unabhängig von Form, Größe und Wirkung. Darieva und Neugebauer erstellen sogar ein Modell (S. 15), welches versucht, die Dynamik und das Spektrum des urbanen Aktivismus im postsowjetischen Raum zu beschreiben und die zugrunde liegende Pluralität aufzuzeigen. Die verschiedenen Kategorien, Aktivist:innen, Orte, Ziele und Ressourcen sind komplex ineinander verwoben. Dem Modell zufolge können erfahrene Aktivist:innen ihre sozialen Ressourcen nutzen, sich vernetzen und miteinander kooperieren, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Sie können ihre Aktivitäten über bestimmte Projekte finanzieren oder aber sich vollständig eigenständig organisieren. Forderungen können, müssen aber nicht zwangsläufig politisch sein. Aktivist:innen können entweder ein einmaliges Event oder aber sich wiederholende Events organisieren und von gemäßigten oder aussteuernden Formen der Interaktion Gebrauch machen.

Die Autorinnen bezeichnen wichtige Akteur:innen des Widerstandes als Urban Pioneers (S. 17), die mit Stadtplaner:innen, Administrationen und Investor:innen verhandeln. Um der Zerstörung der Stadt entgegenzuwirken, würden diese versuchen, einzelne Orte zu resemiotisieren, indem sie mit dem gegebenen Raum experimentieren. Das ultimative Ziel urbaner Pionier:innen sei es, dem Individuum genügend Raum zur Entfaltung zu verschaffen. Manchmal klingt es so, als würde der postsowjetische Raum sich langsam, aber sicher dem Individualismus hingeben, der so lange aus dem kollektiven Denken verdrängt wurde. Vielleicht ist es wichtig, gerade hier nochmal genauer hinzusehen, um den Unterschied zum aktivistischen Denken westlicher Länder zu begreifen: Die Ressource des Individualismus wird auf nicht gekannte Weise zu einem postsowjetischen Individualismus, der unbekannten Handlungsspielraum ermöglicht. Im Hinblick auf den erkämpften Handlungsspielraum der Bürger:innen der ehemaligen Sowjetunion scheint es, als ob die Autorinnen versuchen, eine bestimmte Gruppe von Menschen hervorzuheben, die sich vielleicht vorsichtig als „die neuen Alternativen“ verstehen lassen. Jedoch ist bei der Romantisierung postsowjetischer Aktivist:innen Vorsicht geboten, da die Dynamik oder die Verflechtungen zwischen urbanen Pionier:innen und staatlichen Autoritäten manchmal undurchsichtig ist. Der georgische Aktivist Shota Gujabidze formuliert es so: „Sometimes NGOs also lobby the builders and speak out against us. About a year after our organisation was founded, the government was changed. Some of our members came to power, and now we are taking action against our former members.“ (S. 87)

Zwar überlegen die Autor:innen, wo der Unterschied zwischen Kooperation und Kooptation zwischen urbanen Pionier:innen und staatlichen Autoritäten liegt (S. 19). Jedoch stellen sie diese Betrachtung als weitere Forschungsfrage in Aussicht. Vielleicht hätte die Analyse der jeweiligen lokalen Kontexte um eben diese Perspektive erweitert werden müssen, um die Tiefe und Vielschichtigkeit der städtischen Gesellschaften zu verstehen, denn das Zitat von Gujabidze erweckt den Eindruck, dass in dem postsowjetischen strukturellen Gefüge die Grenzen zwischen Aktivismus und Autorität verschwimmen, vergleichbar den Anfängen der sowjetischen Aktivist:innen.

Doch wird das Werk seinen Ansprüchen einer umfassenden Chronologie über postsowjetischen Aktivismus gerecht: Es lebt von den persönlichen Schilderungen der urbanen Pionier:innen und sensibilisiert die Leser:innen für die oftmals emotionalisierten Anstrengungen der Stadtbewohner:innen. Womöglich wohnt der Großteil der Leser:innenschaft ebenfalls in Städten und kann sich somit schnell mit den Belangen der Einzelnen identifizieren. Protest kann zwar mobilisieren und zusammenschweißen, doch bewirkt ein großer Teil der Anstrengungen für Mitbestimmung oft wenig. Zu mächtig seien die Eliten, zu verführerisch Macht und Geld, die jegliche Werte und Ideale untergraben. Doch eines begreift man aus den persönlichen Schilderungen der Aktivist:innen schnell: Die Inspiration und der Geist für Veränderung sind tief in den Köpfen und Herzen verankert. Es kommt auf die Ausdauer und Beständigkeit an – oder um es in den Worten von Herrn Gujabidze zu formulieren: „I think that such a victory does not exist, because it is not a goal or a seperate act; the protection of the city is a permanent process.“ (S. 85)

Anmerkung:
1 Kerstin Jacobsson / Steven Saxonberg, Social Movements in Post-Communist Europe and Russia, London 2015.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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