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Titel
Hoffnung Hauptschule. Zur Geschichte eines vergessenen Gesellschaftsprojekts der Bildungsreformära 1957–1973


Autor(en)
Wenk, Sandra
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Wilfried Göttlicher, Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung, Universität Graz

„Hoffnung Hauptschule“ lautet der Titel von Sandra Wenks neu erschienener Studie. Und damit ist gleich einer der wenigen Kritikpunkte an dieser gut gelungenen und lesenswerten Studie anzusprechen: Während dieser Titel nämlich nach Lektüre des Buches einleuchtend erscheint, informiert er die möglicherweise interessierte Leserin vorab nur unzureichend über dessen Inhalt. Denn Wenks Untersuchung beschränkt sich nicht auf die Hauptschule, sondern hat die Reform der (damals acht Jahrgangsstufen umfassenden) Volksschule von der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre zum Gegenstand. Sie untersucht dabei die Reformprozesse in Nordrhein-Westfalen als Beispielfall. Auf die Schaffung einer Hauptschule als neuer Schulform an Stelle der Volksschuloberstufe richteten sich die Hoffnungen progressiver Akteure. Deren tatsächliche Einführung markierte dann die letzte Phase des von Wenk untersuchten Prozesses und zugleich das Ende der Volksschule.1 Da die Hauptschule praktisch unmittelbar nach ihrer Einführung vorwiegend als Problemfall wahrgenommen wurde, ist Wenks Studie die Geschichte einer unerfüllten Hoffnung.

Die untersuchte Schulreform nimmt Wenk mehrperspektivisch in den Blick, wobei Diskurse bzw. Debatten das Zentrum und den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden. Ihre Quellen sind „das amtliche Schriftgut der staatlichen Schulverwaltung“ (S. 38), die „Ausschuss- und Plenarprotokolle des Landtagsarchivs“, die „mediale Berichterstattung auf Landesebene“ (S. 40) sowie die „pädagogische Fachpresse“ (S. 41).

Wenks Untersuchung ist in drei Hauptabschnitte gegliedert. Der erste beschäftigt sich mit den „Nachkriegsdebatten und Leitbildern der Volksschule in den 1950er-Jahren“ (S. 45). Man erfährt hier, dass ein Reformbedarf zwar schon zu dieser Zeit konstatiert wurde, die dahingehenden Überlegungen allerdings überwiegend von restaurativen, vielleicht auch sozialromantisch rückwärtsblickenden Leitvorstellungen geprägt waren. Leitbild war die in der Zwischenkriegszeit etablierte Idee der volkstümlichen Bildung, ein kulturkritisch grundiertes Konzept, das „an die Reformpädagogik mit ihrer Kritik an der ‚alten Schule‘ und ihrer Forderung einer ‚wesensgemäßen‘ Erziehung sowie an die Idee einer ‚ausgesöhnten Volksgemeinschaft‘ anknüpfte“ (S. 76). Im Zentrum der Überlegungen standen didaktische Innovationen, die ohne Veränderung von Schulstrukturen umsetzbar waren.

Wenk bilanziert, dass es sich hier um „ein konservatives Bildungs- und Gesellschaftsprogramm“ handelte, das „seine Attraktivität dadurch [erhielt], dass es sowohl eine Anerkennung gesellschaftlicher Differenz und unterschiedlicher Lebenswelten schaffen wollte als auch vorgab, kindliche Bedürfnisse […] zu berücksichtigen allerdings in einer paternalistisch-deterministischen Weise […]“ (S. 98). Das ging auch mit der Vorstellung einer weitgehend statischen gesellschaftlichen Ordnung einher: Schule sollte auf das Leben vorbereiten, das einem qua Geburt vorherbestimmt war.

Wenks zweiter Hauptabschnitt beschäftigt sich mit „Debatten und Praxis der Volksschulreform“ von den späten 1950er-Jahren bis ins zweite Drittel der 1960er-Jahre. Man kann hier detailliert verfolgen, wie sich der Diskurs in diesem Zeitraum markant wandelte. An die Stelle modernisierungskritischer, von statischen Gesellschaftsvorstellungen geprägter Leitbilder trat einerseits die Idee der Mobilisierung von Begabungen mit dem Ziel einer Stärkung der nationalen Konkurrenzfähigkeit, andererseits die Idee des Rechtes auf Bildung als Voraussetzung für demokratische Teilhabe.

Wenk gliedert diesen Abschnitt in drei „Einzelstudien“ (S. 101): zu Schulpflichtverlängerung, Mädchenbildung und Landschulreform – eine Entscheidung, die ich für etwas unglücklich halte. Diese „Einzelstudien“ sind nämlich für sich genommen überzeugend und sprechen auch erkennbar relevante Teilaspekte der untersuchten Reform an, die Fokussierung auf Einzelthemen erschwert es aber dem Leser, jene übergreifenden Diskursentwicklungen und politisch-administrativen Vorgänge, die sich in allen drei Aspekten manifestierten, im Blick zu behalten und führt außerdem zu Redundanzen in der Darstellung.

Im Zusammenhang mit der geplanten und in mehreren Anläufen umgesetzten Einführung eines neunten Volksschuljahres wurde nicht nur eine quantitative Erweiterung des Bildungsminimums diskutiert. Vielmehr regte dieses neu zu gestaltende Schuljahr sowohl zu didaktischen als auch zu strukturellen Überlegungen an, die Einfluss auf die Konzeption der Volksschuloberstufe insgesamt hatten. Anhand der Entwürfe zur Reform der Mädchenbildung in der Volksschule lässt sich detailliert studieren, wie die pädagogische Debatte in jener Phase zwischen traditionellen Leitbildern und Ansprüchen gesellschaftlicher Modernisierung oszillierte.

An der Debatte über die Landschulreform wiederum lässt sich zunächst der oben angesprochene Paradigmenwechsel in seinem Verlauf am deutlichsten nachvollziehen. Vor dem Hintergrund eines Konzepts, „das auf die Integration von Schulen und Heranwachsenden in ihre unmittelbare ländliche Lebenswelt zielte“ (S. 242), erschien ein dichtes Netz an (oft einklassigen) Kleinschulen für lange Zeit als pädagogisch wünschenswert. Das änderte sich vor dem Hintergrund der Modernisierungsdiskurse der 1960er-Jahre. Nunmehr bedeutete „ländliches Aufwachsen […] per se eine Benachteiligung. Zwergschulen galten […] nicht mehr als kindgerecht, sondern als ‚gesellschaftliches Unrecht an der Bevölkerung auf dem Lande‘“ (S. 262).

Andererseits wird mit Blick auf die ländlichen Kleinschulen deutlich, vor welchen strukturellen und politischen Herausforderungen Reformpläne standen, die auf eine substantielle Erweiterung des Bildungsangebotes der Volksschule abzielten. Dafür schien es notwendig, zumindest für die höheren Altersgruppen soweit als möglich einen Unterricht in Jahrgangsklassen zu etablieren, was die Zusammenlegung der Oberstufen von Kleinschulen erforderlich machte. Solche Schulzusammenlegungen stellten aber die bis in die 1960er-Jahre gängige konfessionelle Gliederung des Volksschulwesens in Frage und wurden deshalb vor allem seitens der katholischen Kirche abgelehnt.

Der dritte Hauptabschnitt von Wenks Untersuchung widmet sich dann tatsächlich der Einführung der Hauptschule. 1967, mit dem Wechsel zu einer sozialdemokratischen Regierung, verschob sich die bildungspolitische Zielsetzung von der Reform der Volksschuloberstufe zur Einführung dieses grundlegend neuen Schultyps, der eine moderne Sekundarschulbildung auch für Kinder bieten sollte, die keine weiterführenden Schulen besuchten. Zentrale Leitideen der bundesdeutschen Bildungsreformdebatte wie „sozialer Aufstieg, die Expansion weiterführender Bildung, die Verwissenschaftlichung des Unterrichts sowie demokratische Unterrichtsmethoden sollten in der und durch die Hauptschule realisiert werden“ (S. 305).

Schon 1968 wurde die Hauptschule in Nordrhein-Westfalen dann tatsächlich eingeführt. Während hinsichtlich der damit verbundenen Entkonfessionalisierung ein politischer Kompromiss gefunden werden konnte und Proteste seitens der katholischen Kirche letztendlich wenig Rückhalt fanden, ergaben sich große Probleme bei der Umsetzung der Reform auf lokaler Ebene. Vielfach waren nämlich die notwendigen baulichen und personellen Voraussetzungen für die neuen pädagogischen Konzepte gar nicht gegeben. Die Schwierigkeiten erklären sich nicht zuletzt daraus, dass die Einführung der Hauptschule, wie Wenk herausarbeitet, auch mit einem neuartigen Reformparadigma verbunden war. Während frühere Reformphasen durch eine intensive Einbeziehung von Lehrerinnen und Lehrern sowie der lokalen Schulverwaltung gekennzeichnet und als eher offene Prozesse konzipiert waren, stand die Einführung der Hauptschule im Zeichen eines zentralistisch-planerischen Zugriffs.

Bereits Anfang der 1970er-Jahre war aus der „Hauptschule der weiterführenden Bildung“ – so nannte der SPD-Kultusminister 1967 sein Konzept (S. 324) – die „Schule der sozialen Unterschichten“ geworden (so eine zeitgenössische Äußerung 1972, zitiert bei Wenk S. 378). Die Hauptschule galt weithin als gescheitertes Reformprojekt.

Wenk argumentiert, dass das wahrgenommene Scheitern der Reform nicht nur auf die initialen Probleme bei der Umsetzung zurückzuführen ist. Etwas zugespitzt und expliziter unter einer modernisierungstheoretischen Perspektive formuliert als Wenk selbst dies tut: Erst mit der Hauptschule halten wesentliche Merkmale der Moderne Einzug in jenen Sektor des Schulwesens, der bis dahin als „Volksschule“ gefasst wurde. Das kann hier nur anhand weniger Aspekte skizziert werden: Die Überwindung statischer Gesellschaftsentwürfe mit ihren traditionellen Bindungen machte alte Konzepte volkstümlicher Bildung obsolet. Die Orientierung an wissenschaftlicher Bildung, aber auch die generelle Tendenz zu zunehmend differenzierter gesellschaftlicher Arbeitsteilung führten zur Ablöse des Klassenlehrer- durch das Fachlehrerprinzip und auch sonst zu zunehmend komplexen organisatorischen Lösungen innerhalb der Schulen. Schulübergreifend traten zentralisierte bürokratische Organisationsformen – gerade auch bei der Verwirklichung von Reformvorhaben – zunehmend an Stelle lebensweltlich organisierter Praxis.2 Eben diese Merkmale der Moderne erklären dann aber auch das wahrgenommene Scheitern der Reform: „Die Lehrer:innen“, so analysiert Wenk Rückmeldungen nach Einführung der Hauptschule, „berichteten […] nicht nur über fehlende Voraussetzungen und Probleme der Umsetzung, sondern registrierten und reflektierten neue Spannungen und Konflikte, die sich aus der Hauptschulkonzeption selbst ergaben. In den Hauptschulen wurden aufgrund veränderter schulorganisatorischer Praktiken und neuer gesellschaftspolitischer Ambitionen und Normen“ – so argumentiert Wenk im Anschluss an Werner Helsper3 – „grundlegende Antinomien moderner Schule und professionellen Lehrerhandelns deutlich“, etwa die Spannung zwischen dem „Anspruch, Schüler:innen einen weiterführenden Bildungsweg zu ermöglichen und anspruchsvollere Inhalte wissenschaftsorientiert zu unterrichten“ und „zugleich leistungsschwächere Schüler:innen zu fördern“, den sie mit dem „Konflikt von individueller Förderung und Selektion“ in Verbindung bringt (S. 366); die Spannung „zwischen fachlich spezialisierter Leistungsforderung und Erziehung“ die sich in der Debatte um Fach- versus Klassenlehrerprinzip manifestierte; die „Irritation pädagogischer Arbeitsbündnisse“, die sich durch „die Auflösung des Klassenverbunds“ und die zunehmende Zahl an Lehrkräften, die einen Schüler unterrichteten ergab, beides eine Folge von fachlicher Spezialisierung bzw. Leistungsdifferenzierung; die Spannung „zwischen dem pädagogischen Handeln und der organisatorischen Gestaltung der Schule“ (S. 367). „Es lässt sich“, so Wenk, „argumentieren, dass sich verschiedene Konflikte im Pflichtschulbereich erst zu dieser Zeit ausbildeten.“ (S. 366)

Die Stärke von Wenks Studie liegt in ihrem Materialreichtum und in der gleichermaßen sorgfältigen wie theoriegesättigten Interpretation ihrer Quellen. Die bestehenden Forschungen zur Bildungsreformära ergänzt sie damit um eine Studie, die akribisch an ihren Untersuchungsgegenstand heranzoomt und Bildungsreformprozesse damit in ihrem Facettenreichtum nachvollziehbar macht.

Materialreichtum und Detailliertheit erklären aber zugleich auch einen Schwachpunkt des Buches, der nicht verschwiegen werden soll: Es ist für den Leser nicht leicht, angesichts der weitverzweigten und detailliert präsentierten Reformdebatten und -prozesse den Überblick zu behalten. Nützlich wäre es hier einerseits gewesen, zentrale Elemente der Reformprozesse (wesentliche Dokumente, bildungspolitische Entscheidungen u.ä.) in ihrer chronologischen Abfolge klarer und übersichtlicher herauszuarbeiten und den Leser:innen damit ein orientierendes Gerüst zur Verfügung zu stellen. Andererseits wäre es hilfreich gewesen, in den Überschriften der einzelnen Kapitel und Unterkapitel anzuführen, auf welche Dokumente bzw. bildungspolitischen Prozesse dort jeweils Bezug genommen wird. Wenk wählt hier nämlich durchwegs Überschriften, die den folgenden Inhalt zwar pointiert charakterisieren, für dessen Kontextualisierung aber keine Hilfestellung bieten. Gänzlich vermeiden lässt sich Komplexität auf diesem Niveau der Detailliertheit aber nie, und wer sich ihr stellt, wird bei Wenk mit umfangreichen neuen Einblicken in die Anatomie von Bildungsreformen belohnt.

Anmerkungen:
1 Für österreichische Leserinnen sei darauf hingewiesen, dass sich der Rezensent hier ausschließlich auf die Verhältnisse in Deutschland bezieht. (In Österreich wird die Grundschule nach wie vor als Volksschule bezeichnet, während eine sogenannte Hauptschule schon 1927 – allerdings nicht flächendeckend – eingeführt wurde.)
2 Ich orientiere mich hier am Modernisierungsbegriff bei: Hans van der Loo / Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992.
3 Werner Helsper, Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne, in: Heinz-Hermann Krüger / Werner Helsper (Hrsg.), Einführung in die Erziehungswissenschaft (Bd. 1), Opladen 2010, S. 15–35.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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