Titel
Die Frau von W..


Autor(en)
Antl-Weiser, Walpurga
Reihe
Veröffentlichungen der Prähistorischen Abteilung
Anzahl Seiten
Preis
€ 27,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth Struwe, Lehrstuhl Ur- und Frühgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Am 7. August 1908 wurde bei Ausgrabungen durch das k. k. Naturhistorische Hofmuseum Wien die so genannte Venus von Willendorf entdeckt. Die bereits im Vorfeld bekannt gewordenen jungpaläolithischen Funde aus den Lössschichten auf den Donauterrassen der Wachau veranlassten den zuständigen Museumsvertreter Josef Szombathy, aufmerksam die beim Bahnbau der Strecke Krems-Grein notwendig gewordenen Untersuchungen vornehmen bzw. die Geländearbeiten beim Bau überwachen zu lassen.

Das 100-jährige Jubiläum der Entdeckung der „Frau von W.“ ist Anlass für die vorliegende Publikation der Prähistorischen Abteilung des jetzigen Naturhistorischen Museums in Wien, deren zuständige Mitarbeiterin die Autorin Walpurga Antl-Weiser ist. Die bedeutende Fundstelle erfuhr eine interessante und teilweise kuriose Forschungsgeschichte; während der damaligen sowie etliche Jahrzehnte später folgenden Untersuchungen wurde eine 20.000 Jahre alte Geschichte des frühen und mittleren Jungpaläolithikums bis knapp vor der letzten extremen Kältephase der Würmeiszeit fassbar.

Die Venusfigur ist nach dem Vorwort des Generaldirektors B. Lötsch das kostbarste Stück des Naturhistorischen Museums (S. 6), der Direktor der Prähistorischen Abteilung des Museums, A. Kern, schreibt, dass keine jungpaläolithische „Venus“ so perfekt sei, wie die „Willendorferin“ (S. 8); die Übertreibungen seien angesichts des Jubiläums verziehen.

Antl-Weiser will darstellen, „was wir über diese Figur heute wissen“ (S. 9). In ihrem Vorwort wird ihr wissenschaftlicher Anspruch deutlich, sowohl der Bedeutung der Figur als auch des Fundortes im Rahmen des modernen Forschungsstands gerecht zu werden. Sie will aber auch – so ist es aus dem Schreibstil und der Aufmachung des Buches erkennbar – urgeschichtlich interessierte Laien erreichen.

Der Aufbau des reich bebilderten Bandes führt über die gesellschaftliche Rezeption der berühmt gewordenen Statuette, die Forschungsgeschichte der Archäologie bis in das Jahr 1908, die Erforschung des Fundortes, über den Hergang der Entdeckung bis zum modernen Erkenntnisstand zum Gravettien, das heißt zur Umwelt, Wirtschaft und zum Leben der damaligen Bewohner Europas vor circa 25.000 Jahren insbesondere in der Wachau, sowie über die verbreitet vorkommenden Frauenstatuetten und deren mögliche soziale und ideelle Bedeutung für die damaligen Menschen. Der Bogen ist also weit gespannt.

Das einführende Kapitel (S. 11-13) illustriert, wie die Venus von Willendorf als „Ikone der Gegenwart“ losgelöst vom historischen Kontext gebraucht wird. Es ist amüsant zu erkennen, dass über die Tourismusbranche hinaus die Figur zum Symbol der „Pagan Religion“ oder der Medizin wegen ihrer korpulenten Erscheinung als Namengeberin eines „Willendorf-Award“ für herausragende Studien zur Fettleibigkeit avanciert.

Die Erforschung der Frühzeit des modernen Menschen, des Trägers des Jungpaläolithikums in Europa, war von großem natur- und geisteswissenschaftlichem Interesse und ist Thema des folgenden, forschungsgeschichtlichen Kapitels (S. 14-28). Die Erforschung der Altsteinzeit war schon in der damaligen Zeit ein Europa übergreifendes Wissenschaftsfeld. Die Gesellschaften für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte waren zum Ende des 19. Jahrhunderts europaweit am Zenit ihrer Entwicklung. Begierig diskutierten deren Mitglieder neue Funde und Forschungsergebnisse. Die Bedeutung der Statuette von Willendorf wurde mit ihrer Entdeckung sogleich für die Forschungswelt erkannt. Die Steingeräte, die in den sieben, später neun Fundschichten entdeckt wurden, belegten eine Entwicklung der Gerätschaften der damaligen Jäger-Sammler-Gruppen. Die Statuette kam in der obersten, der 9. Fundschicht, zutage und entstammte nach der Übersicht im „Venuskalender“ (S. 28) der achten bis dahin entdeckten Fundstätte in Europa.

Das Kapitel zum Fundort Willendorf (S. 29-38) macht deutlich, dass das natürliche „Archiv“ der Donauterrassen, gestört von der neuzeitlichen Löss- bzw. Lehmnutzung durch Ziegeleien, und der wissenschaftliche Forscherdrang vorteilhaft zusammentrafen, gelenkt durch das zuständige Wiener Museum und der Zentralkommission des betreffenden Ministeriums. Szombathy ersuchte um Finanzmittel, um an der Fundstelle Willendorf II, die durch den Bahnbau stark beeinträchtigt wurde, archäologische Untersuchungen durchführen zu lassen. In „Who is who in Willendorf 1908“ (S. 34-38) werden die drei Protagonisten der Untersuchungen – Josef Szombathy, Josef Bayer und Hugo Obermaier – vorgestellt; es hätte das Verständnis des folgenden umfangreichen Kapitels „Die Auffindung der Venus von Willendorf im Jahr 1908“ (S. 39-92) erleichtert, wenn hier die Jahrzehnte nach dem Jahr 1908 kurz mit dargestellt worden wären. Obermaier als junger promovierter Forscher und freier Mitarbeiter an den Grabungen wurde der wissenschaftliche spiritus rector und hat letztlich durch seine weitere Karriere in der europäischen Paläolithforschung eine zügige gemeinsame Publikation der Untersuchungsergebnisse von Willendorf am Naturhistorischen Museum in Wien behindert, sei es durch das Zurückhalten von Grabungsunterlagen oder durch das einsetzende Kompetenzgerangel besonders von Seiten der Museumsvertreter. Das wird zwar amüsant, aber recht breit ausgeführt. Eine straffe Darstellung gepaart mit den originalen Zeitdokumenten in bestechender Qualität wäre m. E. vorteilhafter für diesen Band gewesen. Die Autorin hat geschickt dieses Kapitel mit der Vorstellung moderner Forschungsmethoden eingeleitet, um den Lesern zu verdeutlichen, dass es nicht die vor 100 Jahren handelnden Wissenschaftler verschuldet haben, die exakte Fundstelle der Venus und letztlich auch deren Lage in der Fundschicht eindeutig zu dokumentieren. Im Anhang belegen Zitate aus den jeweiligen Schreiben der Pro- bzw. Antagonisten der alten Grabung ihre Haltung.

Im Kapitel „Die Hersteller der Venus von Willendorf“ (S. 93-115) wird sachkundig der aktuelle Forschungsstand zum Gravettien, das von ca. 30.000 bis 20.000 Jahren vor heute in Europa verbreitet war, referiert sowie die damaligen Umweltverhältnisse der Gegend von Willendorf und der Nahrungserwerb der Menschen dargestellt. Bereits im vorherigen Kapitel und auch in diesem wird die Leistung von F. Felgenhauer gewürdigt, der nach ergänzenden eigenen Grabungen endlich 1956-59 der Fachwelt die Ergebnisse der Untersuchungen von Willendorf I-VII vorlegte.1 Jetzt fließen im vorliegenden Band die neuesten Erkenntnisse von A. Binsteiner – gemeinsam mit G. Wessely – zur Herkunft des verwendeten Gesteinsmaterials für die Steingeräte als auch im besonderen zur Herkunft des Ooliths, aus dem die ‚Willendorferin’ gefertigt wurde. Antl-Weiser informiert über geplante und ausgeführte naturwissenschaftliche Probenuntersuchungen, um das Rohmaterial, den die Figur bedeckenden Rötel sowie Herstellungsspuren zu bestimmen und erkennen. Moderne Analysen mit dem Auflichtmikroskop und dem Vergleich mit Dünnschliffen von Vergleichsproben belegen die Herkunft des Ooliths aus dem niederösterreichisch-mährischen Raum. Von besonderem Interesse ist die Darstellung des Herstellungsvorgangs der Figur, was wiederum durch exzellente Fotos für die Leser nachvollziehbar ist.

Was ist nun die Venus von Willendorf – diese Darstellung einer unbekleideten, fettleibigen, reifen, aber gesichtslosen Frau –, wird in der Überschrift des nächsten Kapitels (S. 116-133) gefragt. Hierin wird auf kunstgeschichtliche Auslegungen bzw. besonders auf die Interpretationen der Urgeschichtsforscher – von M. Hoernes (1898) über J. Hahn (1986), J. Clottes (1993) bis A. Nitschke (2005) – und auf Fragen der Darstellungskunst eingegangen. Es werden die „kaum bekannten Schwestern“ (S. 130) – die Venusfiguren II und III von Willendorf – vorgestellt. Erfreulich wäre, wenn das Jubiläum der „älteren Schwester“ zum Anlass genommen worden wäre, über das summarisch Bekannte hinausgehende Detailuntersuchungen anzustellen und vorzulegen.

Die berühmte Figur von Willendorf wird dann in den Rahmen der Frauenplastiken des Gravettiens eingeordnet (S. 135-167). Zunächst erfolgt der Formenvergleich europäischer Figuren und solcher aus dem sibirischen Raum. Diskutiert wird der Vorschlag von M. Gvozdova (1995), die die „Willendorferin“ dem Typ von Gagarino zuordnet, was leider nicht anhand von Abbildungen nachvollziehbar ist – auf S. 137 sind zwar zwei Figuren dieses Fundorts im Schema von André (nicht Henri – S. 136) Leroi-Gourhan zu sehen, was nur für Kennern ersichtlich ist. Bedauerlich ist auch, dass für den gut ausgestatteten Band in mehreren Fällen Kopien statt Originale der Statuetten abgebildet werden. Dieses Kapitel fasst Fragen der inhaltlichen Bedeutung der Statuetten des Gravettiens zusammen, wie sie im Verlauf der Forschung diskutiert wurden und werden: Erotika, Fruchtbarkeitsidole, Puppen, Schutzgeister, Stammmütter, Göttinnen? Jene sind überwiegend nackt dargestellt bei Hervorhebung äußerer weiblicher Geschlechtsmerkmale, fehlender Gesichtsmodulierung sowie Vernachlässigung der Arm- und Fußwiedergabe. Antl-Weiser gelingt es kenntnisreich und in knapper Form, die gängigen Facetten der Interpretationen vorzustellen und abzuwägen. Sie hebt die Bedeutung des Fundkontextes hervor, der allerdings bei einigen vorgestellten Befunden nicht gesichert ist, wie sie andeutet. Zusammenfassend wird klar gemacht, dass die jeweilige Deutung der Statuetten mit dem Weltverständnis der Interpretierenden zusammenhängt. Es sind Stileinheit, Fundsituation und oft aufwändige Herstellung, die die besondere Bedeutung der Figuren für die Menschen der damaligen Zeit erkennen lassen – mehr ist nicht gesichert auszusagen!

Antl-Weiser versucht aus diesem Erkenntnisstand heraus, der Rolle der Frau bzw. dem Geschlechterverhältnis in der Altsteinzeit nachzugehen (S. 169-178). Sie hält fest, dass die Frauendarstellungen (und auch die wenigen von Männern) nichts mit der tatsächlichen Rolle der Frau/des Mannes zu tun haben muss. „Man könnte aus den vorhandenen Darstellungen also ein viel komplexeres Bild der sozialen Stellung der Geschlechter zueinander rekonstruieren, wenn es sich nicht um ein Thema handelte, bei dem oft nicht ganz wissenschaftliche Emotionen ihr geheimes Unwesen trieben“ (S. 173). Das zielt vor allem auf die sog. Matriarchatsforschung, auf die sie eingeht. Antl-Weisers Haltung zur ethnographischen Analogie ist kritisch. Dabei würdigt sie m. E. unzureichend, dass die Bedeutung der Ethnoarchäologie auch darin besteht, neuzeitliche, auf die Urgeschichte übertragene Rollenbilder zu hinterfragen und aufzubrechen, was am Beispiel der Forschungen von L. Owen 2 gezeigt wird. Hierzu gehört übrigens auch die Rolle von Kindern; in der Ablehnung der Venusfiguren als Puppen im Sinne von Spielzeug (S. 149) scheint dieses Problem durch. Der Verweis auf die Ausstattung von Gräbern verspricht eine Möglichkeit, das Geschlechterverhältnis zu analysieren. Auch dafür ist die Quellendecke zu dünn und das Interpretationsdilemma gleichermaßen vorhanden.

Dass der Fundort Willendorf noch immer ein hohes Forschungspotential in der Altsteinforschung birgt, wird im abschließenden Kapitel (S. 179-185) aufgezeigt, was internationale Forschungsteams in den 1990er- und den 2000er-Jahren belegen. Man kann auf zu erwartende Ergebnisse gespannt sein.

Der vorliegende Band ist ohne Zweifel eine würdige Jubiläumsgabe für die Frau von W. Er ist grafisch gelungen, didaktisch aufbereitet und spricht damit einen breiten interessierten Leserkreis an. Fachbegriffe werden, wenn überhaupt verwendet, in abweichend gesetzten Textblöcken erörtert. Das Buch ist von einer sehr kompetenten Fachfrau geschrieben, so dass es für Studierende des Faches eine Fülle von Informationen bereithält, die von Antl-Weiser kommentiert werden; vieles an ihren Ausführungen ist auch für Spezialisten lesenswert. Quellen- und Literaturverweise sind für weiterführende Recherchen nützlich. Die Prähistorische Abteilung des Museums hat mit diesem Band eine Veröffentlichungsreihe begonnen, auf deren Fortsetzung viele gespannt sein werden.

Anmerkungen:
1 Fritz Felgenhauer, Willendorf i. d. Wachau. Monographie der Fundstellen I-VII, Wien 1956-59.
2 Linda Owen, Distorting the past. Gender and the Division of Labor in the European Paleolithic, Tübingen 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension