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Titel
Jesuita cantat!. »Musik« in der interkulturellen Kommunikation jesuitischer Mission in Südindien während des späten 17. und 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Herrmann-Fertig, Lisa
Reihe
Würzburger Beiträge zur Musikforschung (6)
Erschienen
Anzahl Seiten
469 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Stober, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

In ihrer 2020 erschienenen Dissertationsschrift widmet sich die Musikwissenschaftlerin Lisa Hermann-Fertig der Frage nach der Rolle und der Funktion von Musik in der Südindien-Mission der Jesuiten. Untersucht wird, „ob und auf welche Weise es bei den Jesuitenmissionaren in Südindien gerade durch ‚Musik‘ gelang, die missionarische Aufgabe […] zu erfüllen“ (S. 17). Darüber hinaus fragt die Studie danach, ob sich im Vergleich zu anderen Missionsgebieten des Ordens ein Sonderstatus für Südindien feststellen lässt. Musik erscheint in vielen jesuitischen Missionsberichten als ein zentrales Medium. Auseinandersetzungen mit dem Thema finden sich bis dato eher weit verstreut in Einzelbeiträgen, lediglich Spanischamerika hat in dieser Hinsicht größere Aufmerksamkeit erfahren.1 Insofern füllt Hermann-Fertigs musikhistorische Studie in zweierlei Hinsicht eine Forschungslücke. Einerseits bildet sie eine Synthese aus einer Vielzahl an internationalen Forschungsbeiträgen zum Verhältnis des Jesuitenordens zur Musik, andererseits erweitert der Fokus auf Südindien die Perspektiven der Forschung zur Musik in der Mission.

Der Untersuchungszeitraum der Arbeit umfasst laut Titel das späte 17. und 18. Jahrhundert, die Analyse greift aber auch auf früheres Quellenmaterial zurück, um wichtige Grundlagen zu verdeutlichen. Die Autorin geht von einem breiten Musikbegriff aus, der vokale und instrumentale Musik, aber auch Tanz und Theaterpraktiken umfasst. Methodisch nutzt sie die historische Diskursanalyse.2 Die Autorin folgt in ihrer Analyse zwei Diskurssträngen, zum einen untersucht sie die Rolle von Musik bei den Jesuiten in Europa und Südindien, zum anderen soll anhand dieses Themenfelds die interkulturelle Kommunikation in der Mission vorgestellt werden. Auf dieser Basis wird analysiert, inwiefern Musik als Werkzeug in der Mission genutzt wurde.

Die Arbeit besteht aus zwei Teilen. Der erste Hauptteil „Kontextualisierungen“ umfasst neben dem Forschungsstand Begriffsbestimmungen, Methoden, sowie historische, geographische und kulturelle Kontexte. Die Kontextualisierungen und Begriffsbestimmungen sind zum Teil sehr ausführlich und beginnen, insbesondere in der Diskussion des Jesuitenordens, weit vor dem veranschlagten Untersuchungszeitraum. An manchen Stellen hätte sicherlich der Verweis auf einschlägige Literatur ausgereicht.

Der zweite Hauptteil „Tiefenstrukturen“ umfasst die Analyse. Die ersten beiden Kapitel dieses Teils sind in erster Linie weitere Kontextkapitel. Es geht zunächst um die Rollen und Funktionen von „Musik“ bei den Jesuiten. Da es bisher keine zusammenhängende Interpretation über die Auseinandersetzung mit Musik in der Societas Iesu gibt, bildet die nachvollziehbar strukturierte und gut lesbare Abhandlung der Autorin mit Sicherheit eine Grundlage für spätere Forschungen. Es folgen ein Überblick über den Status und die Nutzung von Musik in der jesuitischen Mission („bereits Bekanntes aus der Überseemission“, S. 172). Die Aufteilung nach einzelnen Provinzen führt hier zu Wiederholungen; eine Zusammenfassung mit konkreten Vergleichsaspekten und -möglichkeiten wäre an dieser Stelle hilfreicher gewesen.

Die hauptsächliche Analyse bildet ein Kapitel zur Bedeutung von Musik als Werkzeug der Jesuiten in Südindien. Das Kapitel strukturieren die vorgestellten Quellengattungen. Das ermöglicht es der Analyse leicht zu folgen, führt jedoch mancherorts zu Wiederholungen. Die Autorin hat eine Vielzahl an Quellen aus Archiven in Europa und Indien ausgewertet, aus denen sie Äußerungen über Musik zieht und interpretiert. Neben zahlreichen Quellen aus jesuitischer Feder erweitern vor allem Reiseberichte die Perspektive. Die meisten verwendeten Quellen, wie etwa die Documenta Indica, Der Neue Welt-Bott, die Lettres édifiantes et curieuses und die Litterae Indipetae, sind aus anderen Kontexten schon bekannt. Erfreulich ist, dass hier zusätzlich die Litterae Annuae der Provinz herangezogen wurden, die ein häufig vernachlässigtes Quellenkonvolut darstellen. Besonders hervorzuheben ist die Interpretation der Rechnungsbücher aus den Historical Archives of Goa. Hier werden die hohen Ausgaben für Instrumente und Materialen einerseits und für die Versorgung externer Musiker andererseits erkennbar. Zusammen mit den Litterae Annuae wird in den Rechnungsbüchern die konkrete Umsetzung von Musik vor Ort am deutlichsten, wohingegen sich die übrigen Berichte nach Europa eher in allgemeinen Formulierungen über das Musizieren in der Mission ergehen.

Die Perspektive der historischen Musikwissenschaft ließe eigentlich erwarten, dass Notenmaterial und Musikalien breit diskutiert würden. Scheinbar ist aber wenig Notenmaterial überliefert. Entsprechend besteht die Analyse zu einem Großteil in der Interpretation von Äußerungen über Musik in der Mission. Dennoch zeigt die Analyse der zahlreichen Quellen anschaulich, dass Musik in vielen unterschiedlichen Bereichen zentral für die Jesuiten vor Ort war. So war Musik bei Feierlichkeiten, im Gottesdienst und bei den Patronatsfesten ein wichtiger Bestandteil, wobei auch lokale indigene Musikkultur aufgegriffen wurde. Auch die Nutzung von Musik als Werkzeug in den Bildungseinrichtungen der Jesuiten zeigt, dass Musik keine Nebenerscheinung in der Mission war. Herrmann-Fertig liefert Erklärungsmuster für diese prominente Stellung: Musik diente demnach einerseits als Lockmittel für die zu missionierenden Menschen, andererseits aber auch als vertrautes Moment für die Missionare selbst, die beispielsweise schon auf den Überfahrten in die Mission musizierten. Musik hatte so auch eine emotionale Funktion für die Jesuiten. Die Frage nach den Unterschieden zwischen der Mission in urbanen Zentren wie Goa und ländlichen Regionen wird zwar angerissen, jedoch nicht weiter verfolgt (S. 217, Anmerkung 402).

Die Arbeit weist methodische Schwächen auf: Als problematisch erweist sich etwa die Verwendung des Begriffs interkulturelle Kommunikation, zu dessen Einordnung im Kontext der frühneuzeitlichen Mission Herrmann-Fertig zum Teil auf heutige Dekrete des Jesuitenordens über interreligiösen Dialog zurückgreift (S. 36). An manchen Stellen stutzt man deshalb über die positiven Wertungen der Handlungen der Missionare. Die Faszination der damaligen Jesuiten für die indische Kultur darf nicht mit gegenseitigem Respekt oder gar einer anachronistischen Toleranz zu anderen Religionen verwechselt werden (S. 379). Klares Ziel der Jesuiten war die Christianisierung der Bevölkerung. Tendenziös erscheint die Arbeit auch deshalb, weil sie keine zeitgenössischen Selbstzeugnisse von Akteur:innen aus Indien berücksichtigt. Inwieweit sie nicht herangezogen wurden oder in den aufgesuchten Archiven nicht vorhanden sind, bleibt unklar. Dass der „Hauch einer indigenen Perspektive“ (S. 19) aber lediglich über Sekundärliteratur sowie Gesprächen „mit KollegInnen und MissionarInnen vor Ort“ (ebd.) zu erreichen versucht wird, befriedigt nicht. Auch sonst lassen sich Zweifel an den Ergebnissen in Bezug auf die Interkulturalität anmelden: Zwar betont Hermann-Fertig, dass Jesuiten auch lokales Musikmaterial nutzten, um an bekannte Soundscapes anzuschließen (S. 366), allerdings zeigen die von ihr analysierten Quellen vielmehr, dass der Großteil der Musikalien weiterhin aus Europa stammte. Insofern bleibt offen, ob wirklich von einer Sonderstellung Südindiens im Hinblick auf die Nutzung von Musik als Werkzeug gesprochen werden kann.

Alles in allem bietet die größtenteils gut lesbare Studie eine Zusammenstellung wichtiger Literatur und relevanter, zum Teil auch bisher ungenutzter Quellen. Sie stellt für weitere Forschungen auf diesem Gebiet eine wichtige Grundlage dar. Durch die vielen Details eignet sich die Studie für Neueinsteiger:innen auf dem Gebiet der Missionsforschung. Neben tiefgreifenden Einblicken in die Musikpraxis der Kollegien vor Ort bietet insbesondere der Blick auf die emotionale und identitätsstiftende Funktion von Musik für die Missionare selbst, auf Reisen und in der Mission neue Erkenntnisse, von denen aus weitergearbeitet werden kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. bspw. die Beiträge in: Christian Storch, Die Musik- und Theaterpraxis der Jesuiten im kolonialen Amerika. Grundlagen – Desiderate – Forschungsperspektiven, Sinzig 2014; vgl. auch Jutta Toelle, „Da indessen die Mohren den Psalm: Lobet den Herrn alle Heiden! abgesungen“. Musik und Klang im Kontext der Mission im México der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 22 (2014), 3, S. 334–349.
2 Hermann-Fertig bezieht sich hier auf: Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2009 (1. Aufl. 2008).

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