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Titel
Intim und respektabel. Aushandlungen von Homosexualität und Freundinnenschaft in der deutschen Frauenbewegung um 1900


Autor(en)
Heinrich, Elisa
Reihe
Sexualities in History – Sexualitäten in der Geschichte (1)
Erschienen
Göttingen 2022: V&R unipress
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Muriel Lorenz, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Welches Interesse hat die Frauenbewegung an der Lösung des homosexuellen Problems?“1 Während die bisherige Forschung auf diese Frage von 1905 lediglich ein weitgehendes Schweigen der Frauenbewegung konstatieren konnte, eröffnet Elisa Heinrich mit ihrer bei Johanna Gehmacher und Franz X. Eder (Wien) verfassten Dissertation neue Perspektiven auf das Thema. Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, wie sich Akteurinnen der Frauenbewegung um 1900 in unterschiedlichen Öffentlichkeiten mit dem Thema der weiblichen Homosexualität auseinandersetzten. Dabei fragt Elisa Heinrich konkret nach den intimen Beziehungen zwischen Frauen als Gegenstand von theoretischen Auseinandersetzungen sowie als gelebte Praxis. Die Frauenbewegung selbst wird in der Analyse als zentraler Ort der Vergemeinschaftung von Frauen begriffen.

Anknüpfend an Arbeiten zu Verschränkungen der politischen Tätigkeiten und Freundschaftsbeziehungen sowie sozialen Netzwerken in der Frauenbewegung, verbindet Heinrich Ansätze der Sexualitätsgeschichte und Frauenbewegungsforschung produktiv. Die Untersuchung fußt dabei auf einer breiten Quellenbasis: Neben der Auswertung von acht Zeitschriften der Frauenbewegung hinsichtlich der Thematisierung von (Homo-)Sexualität, Liebe, Begehren und Freundinnenschaft wurden interne Vereinsschriften sowie biografisches Material und Bestände aus Nachlässen in die Analyse einbezogen.

Bereits im Eingang der Studie wird anhand der Sittlichkeitsdebatten um 1900 das veränderte Sprechen über Sexualität in der Frauenbewegung über das Vehikel der Prostitution und die Neuaushandlung des Sagbaren aufgezeigt. Dabei werden neben der Auseinandersetzung mit sexualwissenschaftlichen, eugenischen, „rassenhygienischen“ und kolonialistischen Diskursen auch die Konfliktlinien zwischen den Aktivistinnen im Kontext der Sexualreformbewegung thematisiert. Die homosoziale Lebenswelt der Frauenbewegung wird sowohl als Ort politischer Auseinandersetzung als auch als sozialer Raum mit einer eigenen Frauen(bewegungs)kultur, mit eignen Räumen, Institutionen, Kommunikationsformen, Symbolen und Ritualen kartiert, in dem sich Beziehungen oftmals durch Überschneidungen von professioneller, politischer und privater Ebene auszeichneten.

Um die Mehrdimensionalität und Komplexität dieser homosozialen Beziehungen sichtbar zu machen ohne sie schablonenhaft als freundschaftlich, romantisch oder sexuell zu kategorisieren, entwickelt Heinrich das analytische Konzept der „intimen“ Beziehung. Zeitgenössisch gängige Selbstbezeichnungen wie „Freundinnen“ oder „Gefährtinnen“ differenzierten dabei ebenfalls weder nach sexueller Interaktion, noch orientierten sie sich an sexualwissenschaftlichen Kategorien. Außerhalb der Frauenbewegungsöffentlichkeit wurden diese Beziehungen als asexuell wahrgenommen und erfuhren gesellschaftliche Akzeptanz, sofern sie als respektabel galten. Die Kategorie der Respektabilität war laut Heinrich von grundlegender Bedeutung und wurde stets in die situative Politik des Sagbaren innerhalb der Frauenbewegung eingeordnet. Das weit verbreitete Lebensmodell der eheähnlichen Solidargemeinschaften mit gesellschaftlichen Konventionen war eng verbunden mit politischen Forderungen nach Erwerbsarbeit, Bildungschancen und Zugang zu Öffentlichkeiten und stellte eine legitime Alternative zur heterosexuellen Ehe dar.

Die Konzepte zur weiblichen Homosexualität in der Sexualwissenschaft und die Pläne zur Strafrechtsreform stellten die homosozialen Lebensmodelle in der Frauenbewegung in neue Deutungszusammenhänge. Das Modell von Intimität und Respektabilität geriet mit den Kategorien der Homo- und Heterosexualität in Konkurrenz. Teile der beginnenden Sexualwissenschaft sahen besonders in den homosozialen Räumen der Frauenbewegung einen Nährboden für weibliche Homosexualität, pathologisierten männlich kodierte Verhaltensweisen als Indizien für Homosexualität und verbanden die Figur der homosexuellen Frau mit der Frauenbewegungsaktivistin. Während einzelne Aktivistinnen, wie Johanna Elberskirchen, die sexualwissenschaftlichen Konzepte weiterentwickelten, lehnten andere diese Geschlechterkonstruktionen sowie die Identifikation über die sexuelle Praxis vehement ab und setzten stattdessen auf die Selbstverständlichkeit ihrer Lebensmodelle.

In den Zeitschriften vor 1909 wird das Thema der weiblichen Homosexualität auffallend ausgesperrt, während Frauenfreundschaften und emotionale Bindungen zwischen Frauen, sowohl in theoretischen Reflexionen als auch in literarischen Beiträgen, Rezensionen und Anzeigen besprochen bzw. thematisiert werden. Heinrich sieht darin zum einen eine strategische Distanzierung der Frauenbewegung zum Schutz anderer Ziele, die mitunter zu Diskreditierungen und zum Ausschluss einzelner Aktivistinnen führte, die sich öffentlich zum Thema äußerten. Zum anderen arbeitet Heinrich heraus, dass die sexualwissenschaftlichen Konzepte sich nicht mit den homosozialen Lebensentwürfen in der Frauenbewegungskultur deckten und Aktivistinnen nicht ansprachen. So war zwar in Texten Begehren zwischen Frauen präsent, wurde aber nicht als homosexuell versprachlicht.

Eine Zäsur in der Auseinandersetzung der Frauenbewegung mit dem Thema der weiblichen Homosexualität stellte nach Heinrich die Veröffentlichung des Vorentwurfs der Strafrechtsreform im Jahr 1909 dar, in dem nach Paragraf 250 analog zur männlichen Homosexualität die Strafbarkeit von Homosexualität bei Frauen vorgesehen war. Diese potentielle Kriminalisierung weiblicher Homosexualität markierte einen Turning Point und fungierte als Katalysator dieser Debatte. In unterschiedlichen Öffentlichkeiten wie Fachjournalen, Strafrechtskommissionen und Zeitschriften wurde von diesem Zeitpunkt an bis zum Beginn des Weltkrieges 1914 um die Deutung des Konzepts der weiblichen Homosexualität gerungen und dessen Strafbarkeit debattiert. Die Beteiligung der Aktivistinnen an diesen Diskussionen beschreibt Heinrich auf verschiedenen Ebenen.

Für die Frauenbewegungszeitschriften zeigt sich ein gemischtes Bild: Während im Centralblatt des Bunds Deutscher Frauenvereine (BDF) nur ein Beitrag zum Thema erschien, berichteten die Frauen-Rundschau sowie Die Frauenbewegung ausführlicher. In den Artikeln wurde die Ausweitung der Strafbarkeit abgelehnt und dabei unterschiedliche Argumente wie etwa die potentielle Gefahr von Verleumdungen, die Ablehnung des Eingriffs in das Privatleben Erwachsener sowie die Unschärfe des Tatbestands weiblicher Homosexualität bei fehlender Penetration ins Feld geführt.

Auf der Ebene der Vereinsöffentlichkeiten lenkt Heinrich anhand unterschiedlicher Quellen die Aufmerksamkeit auf die Argumentationen der Frauenbewegungsaktivistinnen, die ihre homosozialen Lebensmodelle schützen wollten. Die Aushandlungen in internen Öffentlichkeiten wie etwa in den Protokollen des BDF oder des Deutschen Evangelischen Frauenbund (DEF) offenbaren das große Interesse am Thema sowie die intensive Auseinandersetzung mit sexualwissenschaftlichen Konzepten innerhalb der Bewegung. In den internen Diskussionen wurde aber auch das Credo deutlich, dass nicht nur mögliche Verbindungen zwischen Homosexualität und Frauenbewegung in einer breiten Öffentlichkeit vermieden werden sollten, sondern auch intime Beziehungen in der Bewegung nicht offen mit Homosexualität in Verbindung zu bringen seien. Diese argumentative Trennung zwischen den respektablen Frauenpaaren der Frauenbewegung und den homosexuellen Frauen markierte die Grenzen des Sagbaren: Nicht sagbar war es demnach, sich als homosexuell zu identifizieren und gleichzeitig Teil der Frauenbewegung zu sein.

Mit dem Blick auf diese unterschiedlichen Öffentlichkeiten ist es Elisa Heinrich gelungen, den internen Meinungsaustausch über weibliche Homosexualität und das intensive Aushandeln der frauenbewegten Aktivistinnen nachzuzeichnen und ihr Handeln als eine „differenzierte Politik des Sprechens nach innen und des strategischen Schweigens nach außen“ (S. 275) zu fassen. Die Aktivistinnen schwiegen nicht, sie sprachen und diskutierten – zumindest in den Jahren der Strafrechtsreform – intensiv und ausführlich darüber, wenn auch selten öffentlich. Sie lehnten die Strafverfolgung ab und sahen darin die Gefahr der möglichen Denunziation aller Frauen: „benannt und pathologisiert bzw. kriminalisiert wird eine verhältnismäßig kleine Gruppe, gemeint sind wir alle“ (S. 282). Die Aktivistinnen versuchten ihre Lebensformen vor dem pathologisierenden und kriminalisierenden Konzept von Homosexualität zu schützen, wobei das etablierte Modell von Intimität und Respektabilität mit den Kategorien Homo- und Heterosexualität in Konkurrenz geriet.

Möglicherweise hätte ein tieferes Eintauchen in die Aushandlung des sich wandelnden Spektrums der Kategorie Respektabilität den Blick auf den Handlungsraum intimer Beziehungen sowie deren soziale Praxis und Performanz innerhalb der Frauenbewegung geschärft. Aber auch so ist es Elisa Heinrich gelungen neben der Öffnung der Perspektive auf frauenbewegte homosoziale Öffentlichkeiten und der dort stattfindenden Diskurse, Einblicke in die reiche homosoziale Welt der Frauenbewegungen zu geben, in der Frauen mit großer Selbstverständlichkeit zusammen wohnten, sich in Arbeit und Engagement unterstützen und ihr Leben gemeinsam verbrachten. Ihre Kategorie der Intimität ist methodisch sowohl für die Frauen- und Geschlechtergeschichte wie die Sexualitätsgeschichte insgesamt ein enormer Gewinn und fördert einen Perspektivwechsel.

Anmerkung:
1 Anna Rühling [= Theo Anna Sprüngli], Welches Interesse hat die Frauenbewegung an der Lösung des homosexuellen Problems?, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 7 (1905), S. 131–151, zitiert nach: Elisa Heinrich, Intim und respektabel, S. 181.

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