M. Galley: Building Communism and Policing Deviance in the Soviet Union

Cover
Titel
Building Communism and Policing Deviance in the Soviet Union. Residential Childcare, 1958–91


Autor(en)
Galley, Mirjam
Erschienen
London 2021: Routledge
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
£ 120.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Henschel, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität Kiel

Im Prinzip braucht man nur das Vorwort des Buches von Mirjam Galley zu lesen und bekommt alles gesagt, was aus ihren umfangreichen Forschungen zum sowjetischen Kinderheimsystem destilliert werden kann. Aber dann beraubt man sich des intellektuellen Vergnügens, das die folgenden knapp 200 Seiten bieten. Galley ist das vor allem in der anglo-amerikanischen Forschungsliteratur zur Blüte gereifte Kunststück gelungen, ein quellensättigtes und trotzdem lesbares Buch voller anregender Thesen und Argumente zu schreiben. Dabei deckt sie einen langen Zeitraum (1958–1991) und ein breites Themengebiet ab, nämlich die Sorge- und Familienpolitik in der poststalinistischen Sowjetunion inklusive ihrer politisch-ideologischen und wissenschaftlichen Einflüsse. Sie fügt der umfangreichen Forschung zu sowjetischen Kindheiten nicht nur eine Facette, sondern ein Referenzwerk hinzu.1 Denn nicht zuletzt kombiniert sie meisterhaft eine top-down-Perspektive aus Archiv- und publizierten Quellen mit einer bottom-up-Perspektive aus Oral-History-Quellen. Wir erfahren also etwas über Strukturen und Absichten des Heimsystems nicht nur aus Sicht der verantwortlichen Ministerien und Behörden, sondern auch aus der Sicht von Sorgepersonal und den Heimkindern selbst. Dass dabei einige Aspekte nur oberflächlich abgehandelt werden und viele Themen nur angerissen, ohne in ihrer ganzen Tiefe ausgelotet zu werden, ist verschmerzbar. Denn so liefert das Buch vielfältige Anregungen für weitere und vertiefende Forschungen. Galleys Arbeit reiht sich damit in die wachsende Zahl von Analysen ein, die mit einer ähnlichen Quellenvielfalt über einen Fokus auf Kindheit die komplexen und ambivalenten Politiken und Gouvernementalitäten der Sowjetunion und anderer sozialistischer Gesellschaften auf innovative Art und Weise analysieren.2

Die übergeordnete These, dass das sowjetische Kinderheimsystem im Poststalinismus – nach der grundlegenden Reform durch ein neues Schulgesetz im Jahre 1958 – trotz zahlreicher Spannungen und Widersprüche, die es verkörperte und produzierte, von einer jahrzehntelangen Stabilität und Kontinuität geprägt war, wird in vier Kapiteln herausgearbeitet und differenziert. Erstens hatte das Heimsystem offiziell zwar die Aufgabe, aus Kindern, die nicht bei ihrer Familie leben konnten oder sollten, „neue“ und „sozialistische“ Menschen zu erziehen. Damit fungierte es jedoch als Auffangbecken für marginalisierte und vernachlässigte Kinder und wurde zunehmend ein Instrument der Verdeckung von Armut, Gewalt und Familienproblemen sowie der Disziplinierung von Devianz. Zweitens war das System aufgrund unzureichender finanzieller und personeller Ausstattung, chaotischer Organisation und kollektiver Verantwortungslosigkeit selbst ein Produzent vieler Probleme. Insbesondere die von Nikita Chruschtschow als eine Art sowjetischer Zivilgesellschaft wiederbelebten lokalen Organe der sogenannten “obschtschestwennost“ (Gemeinweisen) spielten sehr unterschiedliche Rollen: Sie konnten Familien unterstützen oder denunzieren, für die bessere Versorgung und Betreuung von Heimkindern sorgen oder Ressourcen beschneiden. Drittens wurden Diagnosen von Devianz ideologisch, moralisch und wissenschaftlich bestimmt. Sie konnten sich sowohl auf die Lebensweise der Eltern als auch auf das Verhalten sowie die psychische, körperliche und sozio-emotionale Kondition der Kinder beziehen. Überwog zunächst noch die Kriminalisierung von Devianz, trugen später wissenschaftliche Expert:innen aus Defektologie und Psychologie zur Pathologisierung bei, wodurch Segregation und Disziplinierung in einem medizinisch-psychiatrischen Kontext neue Legitimität erfuhren. Viertens ähnelte das Leben in den Heimen dem in anderen „totalen Institutionen“ wie Gefängnissen oder dem Militär. Auf diese Weise prägte es eine spezifische Kindheit, die von der (spät-)sowjetischen Norm deutlich abwich und die Insassen langfristig stigmatisierte und marginalisierte.

Mit dem Begriff der „totalen Institution“ nach Erving Goffman ist bereits ein Konzept genannt, das Galley häufig zur analytischen Verklammerung der Quellenbefunde nutzt. In der mittlerweile breiten Forschung über Kinderheime in verschiedenen europäischen Nachkriegsgesellschaften ist es allgegenwärtig, wird aber meist eher als „Label“, denn als differenziertes Instrument zur Erkenntnisgewinnung genutzt.3 Galley belässt es erfreulicherweise nicht bei der Konstatierung der offensichtlich gemeinsamen Charakteristika totaler Institutionen, sondern geht auf die einzelnen Implikationen des Konzepts ein. Es dient insbesondere in Kapitel vier zur Beschreibung der Beziehungen der Heimkinder untereinander und zum Personal sowie der Offenheit respektive Abschottung gegenüber der „Außenwelt“. Das eher normative und schematische Konzept von Goffman wird hier überzeugend mit empirischem Gehalt gefüllt. Weitere Konzepte sind das der Biopolitik/Biopower nach Foucault und die Verwissenschaftlichung des Sozialen, die Lutz Raphael in den historiographischen Diskurs eingeführt hat. Sie liefern wichtige Einsichten in das Heimsystem und seine Akteure: einerseits das Primat der Erziehung zur Arbeitsfähigkeit und Produktivität, andererseits die Rolle der Wissenschaften bei der Klassifizierung der Kinder mit weitreichenden Folgen für ihre weitere Behandlung.

Außerdem fragt Galley nach weiteren Differenzkategorien wie gender, class und disability. Das geschieht zwar nicht systematisch, sondern punktuell, aber der pragmatische Einsatz verschafft erfrischende Einsichten ohne dauernde methodische und begriffliche Erläuterungen. Mancher Aspekt hätte noch tiefgründiger anhand vorliegender Forschungsliteratur erläutert werden können, so die Rolle der Pädologie als spezifisch medizinisch-pädagogischer Wissenschaft vom Kind oder die rechts- und familienpolitischen Debatten und Maßnahmen von Adoption und Pflegschaft.4 Trotzdem sorgen die weitgehend profunden Einbettungen in den Forschungsstand und der sichere Umgang mit Erkenntnissen anderer Arbeiten zur Sowjetunion für eine überzeugende Analyse, die ihren Fokus behält. Dieser Fokus liegt auf der Funktionsweise des Heimsystems, welches 1958 auf eine neue Basis gestellt wurde. Das Gesetz zur Einführung von Internaten sollte die Bildungschancen vieler Kinder und Jugendlicher verbessern, trug aber zur Ausweitung eines Systems der Segregation von Kindern aus armen, marginalisierten und im politisch-ideologischen und Rechtsdiskurs der Zeit als deviant eingestuften Familie bei. Die funktionalen Trennungen von Schulinternaten, Heimen für verwaiste oder vernachlässigte Kinder und von Strafeinrichtungen für sogenannte schwer erziehbare oder delinquente Kinder wurden zunehmend aufgelöst, weshalb Galley sie als Teile einer Einheit auffasst, die derselben Form von governance unterlagen.

Diese governance sei nicht von einer planvollen, durchorganisierten Ratio geprägt gewesen, sondern eher von einer Überforderung aufgrund der Wahrnehmung einer starken Zunahme sozialer und pädagogischer Probleme seit den frühen 1960er-Jahren, die nicht gelöst werden konnten und darum zumindest so weit wie möglich ins Abseits gedrängt werden sollten: „[T]he Soviet authorities, whilst upholding high aims for their system of residential childcare as well as socialist education in general […], in fact managed that system on a low priority, investing just enough resources and effort for it not to collapse.” (S. 106) Auch wenn Chruschtschow selbst gern in Metaphern von Ingenieuren der nächsten Generation sprach und theoretisch scheinbar durchdachte Konzepte kollektiver Pädagogik und sozialistischer Erziehung bereitstanden, war die Praxis von Mangel, Unvermögen und Improvisation gekennzeichnet. Um in der Unübersichtlichkeit handlungsfähig zu bleiben, wurden repressive und disziplinierende Maßnahmen eingesetzt, die den postulierten Zielen diametral entgegenliefen. Diese von Galley nahegelegte Unabsichtlichkeit der Missstände macht das erfahrene Leid der Kinder nicht besser, aber es erlaubt eine differenzierte Perspektive auf die Ursachen, Formen und Folgen eines insuffizienten Systems. Die Brüche werden insbesondere mittels der von Galley genutzten Interviews illustriert, welche wichtige Einblicke in die Wahrnehmung und Lebenswelt von Betroffenen liefern. Denn nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrer:innen und Erzieher:innen waren dem defizitären System ausgesetzt, aber sie besaßen, wie Galley betont, eine, wenn auch häufig beschränkte agency. Es war kein monolithisches System der Allmacht, aber auch keines der Ohnmacht; vieles hing in der Heimbetreuung vom Willen und Verantwortungsbewusstsein einzelner Personen und Autoritäten ab.

Die überwiegend sorgfältige Verarbeitung des Forschungsstandes, die Vielfalt der Quellen und ihr überzeugender Einsatz als Belege für die oft weitreichenden, aber überzeugenden Thesen und nicht zuletzt die gute Lesbarkeit machen das Buch zu einem Gewinn für alle, die mit der Zeitgeschichte Europas befasst sind. Galley offeriert viele Anhaltspunkte für vergleichende Perspektiven, die den Eisernen Vorhang transzendieren und den Blick auf gemeinsame Aspekte des staatlichen und wissenschaftlichen Umgangs mit „Devianz“ freigeben können.

Anmerkungen:
1 Elizabeth White, A Modern History of Russian Childhood. From the Late Imperial Period to the Collapse of the Soviet Union, London 2020; Catriona Kelly, Children's World. Growing up in Russia, 1890–1991, New Haven [Conn.] 2007.
2 Eszter Varsa, Protected Children, Regulated Mothers. Gender and the „Gypsy question“ in State Care in Postwar Hungary, 1949–1956, Budapest, New York 2021; Nick Baron (Hrsg.), Displaced Children in Russia and Eastern Europe, 1915–1953. Ideologies, Identities, Experiences, Leiden 2016.
3 So bei Reinhard Sieder / Michaela Ralser (Hrsg.), Kinder des Staates, Innsbruck 2014; Margret Kraul u.a., Zwischen Verwahrung und Förderung. Heimerziehung in Niedersachsen 1949–1975, Opladen 2012.
4 Andy Byford, Science of the Child in Late Imperial and Early Soviet Russia, Oxford 2020; Laurie Bernstein, Fostering the Next Generation of Socialists. Patrovnirovanie in the Fledgling Soviet State, in: Journal of Family History 26 (2001), S. 66–89.

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