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Titel
Tragödie und Revolution. Die kritischen Tragödientheorien als Ästhetiken der Praxis in Deutschland, Polen und Russland 1789 – 1848 – 1917


Autor(en)
Mrugalski, Michał
Erschienen
Paderborn 2021: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 929 S.
Preis
€ 149,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Englhart, Institut für Theaterwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München

Nicht erst für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist Denken ein Tun, ist es ermöglichende Praxis. Negative Dialektik und Adornos Ästhetische Theorie unterstützt die Performativität des Theatralen im Aufbruch, aber bereits Nietzsches Tragödienphilosophie mit enthusiastischer Aufmerksamkeit für das Dionysische setzt undramatische, avantgardistische, auch postdramatische Ästhetiken ins Werk, da sich die Tragödie nicht mehr im Konflikt, sondern als Ereignis der dramatischen Repräsentation selbst einstellt. In der Aufführung liefert das Leben als Reales die Energie der Gestaltung wie der Auflösung. Kann es darüber hinaus so etwas wie kritische Ästhetiken der Praxis geben, die frühzeitiger aus den Theorien der Tragödie herauszulesen wären, welche Philosophen und Dichter in der Moderne formulierten?

Michał Mrugalski unternimmt es, in seinem umfangreichen Werk, einer „Art Paläontologie“ eines „politisch-utopischen Leitgedankens der Avantgarde“ mitsamt dessen „Auswirkung in der Literaturtheorie und Ästhetik“ (S. 1), das Feld zwischen Tragödie, Tragödientheorie und politischer Praxis, insbesondere revolutionärer Praxis neu zu vermessen. Dabei konzentriert er sich auf die Hochzeit des Nationalismus und der Nationenbildung, hierbei auf Deutschland, Polen und Russland. Restauration, Biedermeier und Bildungsbürgertum werden kaum beachtet, die Arbeit fokussiert vielmehr auf die revolutionären Umdeutungen in der Moderne des langen 19. Jahrhunderts, ausgehend vom epochalen Umbruch um 1800 mit der französischen Revolution als politischen Umwälzung, der industriellen als ökonomischen Revolution und nicht zuletzt der philosophischen kopernikanischen Wende der kantschen Philosophie.

Für die in der Folge entstehenden Tragödientheorien wären die Energien des Aufmüpfigen, des Nichteinverstandenseins heute vergessen worden, sodass der Arbeit die Aufgabe zukäme, deutsche, polnische und russische Tragödientheorien wieder als kritische zu verstehen. Dabei schießt die Habilitationsschrift polemisch zuweilen über das wissenschaftlich Schickliche hinaus, wenn es etwa „über Brechts Verstand, ebenso über den der meisten Philologen“ gehe, die Existenz kritischer Tragödientheorie zu erkennen. (S. 17) Zu tun ist es Mrugalski um Wirkungsbezüge von deutscher Philosophie, Tragödientheorie und Dramatik als – so heißt es bei ihm – theoretisches Bewusstsein und Gewissen Europas auf slawische, konkret polnische und russische Philosophen und Dichter. Das könnte ihm auch den leisen Vorwurf des Kulturessentialismus eintragen. Der von ihm notwendigerweise diskutierte „Ausblick ins Schreckliche“ räumt als historische Mauerschau ein, „die slavische Tat – sei es die polnischen Aufstände, sei es die russischen Revolutionen“, führe dazu, dass „die Realisierung der Theorie de facto ihre Entfremdung bedeutet und die Folgen in das Gegenteil der Erwartungen umschlagen“ (S. 22). Dem schließt sich angesichts der Diktaturen und Genozide des 20. Jahrhunderts eine dialektische Erklärung an, die man auch als zu elegant empfinden kann: Da die Tragödientheorie eine Theorie der Entfremdung sei, weil sie als Theorie das „Verhältnis zwischen der Absicht und ihre Ausführung oder die Kluft, die Theorie und Praxis trennt, beschreibt“, wiederholten die „Slaven gerade durch die Niederlage die deutsche Lehre, indem sie ihr Ziel – die praktische Freiheit – nicht erreichten.“ (S. 22f.)

Abstrakt gesehen weist die Arbeit auf das bitter-heitere Scheitern-Siegen, auf Selbstaufopferung, die den Abgrund zwischen utopischer Absicht und Wirklichkeit überwinde. Dieses Scheitern-Siegen versteht Mrugalski als Theater, in dem sich Tragödientheorien präsentierten, die dann als Theorie in der Praxis angewandt wurden oder zumindest für Kritik und Diskussionen sorgten. Kritische Tragödientheorie leite im steten Transferprozess eine Ästhetik des Handelns ein, da sie historische Erfahrung gestalte, mit Sinn erfülle und das Denken und Handeln als Ästhetik der Praxis von Philosophen, Dichtern und Revolutionären figuriere. Dieser Aufruf zu Ästhetiken des Handelns, gefallen auf den fruchtbaren Boden von Tragödientheorien, wird nun in der Arbeit, locker an der Zeitachse und an einer Entwicklungslinie von West nach Ost orientiert, vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dargelegt wie reflektiert.

Französische Revolution und Kants Kritiken markieren Anfänge. Nach einer einleitenden Vorstellung der kritischen Tragödientheorie als (transzendentale) Ästhetik der Praxis und der Skizzierung von Urszenen der kritischen Tragödientheorie u.a. mit Schiller, Marx, Engels und Lassalle geht es folgerichtig um Goethe, Schelling, Hölderlin und zentral um Hegel, dem sich August von Cieszkowski, Edward Dembowski, Aleksandr Gercen und Adam Mickiewicz anschließen. Schiller erscheint, in Anbetracht seiner überragenden Bedeutung für die deutschsprachige bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts, eigenartigerweise in den Hintergrund versetzt, auch wenn oder gerade weil der deutsche Idealismus in Polen durch eine Theorie der Tat ergänzt werden sollte und Schiller noch, wie man im Epilog erfährt, für die russischen Formalisten wegweisend sein wird. Kleist wird ignoriert, Büchner eher am Rand erwähnt.

Der zweite Teil der Arbeit gruppiert sich um 1848/49 und danach. Kierkegaard und Friedrich Theodor Vischer eröffnen Bezüge zu Karol Libelt und Cyprian Kamil Norwid. Der mit etwas pochendem Herzen erwartete, da im Titel angekündigte Anatolij Lunačarskij betritt dann nur über drei Seiten die Kapitelbühne. Einen Höhepunkt markieren Wagner, Bakunin, Juliusz Słowacki und Nietzsche, dessen „Geburt der Tragödie“ nicht nur die Grundlage für die historische Avantgarde, sondern für heutiges performatives Theater wie postmodernes Denken gleichermaßen bildet.

Den Fluchtpunkt bildet im Epilog eine Theorie der Avantgarde, nicht im Sinne Peter Bürgers, sondern verstanden als Umgestaltung der kritischen Tragödientheorie in die moderne Literaturtheorie in Russland und Polen. Die Überwindung der theatralen Rampe im Kollektiv wird zwar thematisch angetippt, im Zentrum stehen jedoch Boris Ėjchenbaum und der russische Formalismus, dem der später reüssierende Strukturalismus nicht wenig verdankt, der aber seine tragische Versetzung aus der revolutionär-zügellosen Zone in den bequemen Alltag erleben muss. Nicht unbedingt notwendig wären die kleinen Seitenhiebe auf Postkolonialismus und Genderstudies, deren perzipiertes Verhältnis als „armselige Gegenwart“ zur politisch reichen „mythische(n) Zeit“ voller „charismatischer Charaktere“ als tragisches ausgewiesen wird. (S. 828) Die Theaterwissenschaftler/in wird Theaterreformer und Wagnerkritiker wie Appia, wird Futurismus, Dadaismus, Surrealismus sowie das politische Theater Meyerholds und Piscators vermissen. Derridas Artaud-Lektüre hätte zur Tragödie der Repräsentation führen können, auf die Richard Schechners Postdramatic Theatre, hierzulande popularisiert von Hans-Thies Lehmann (der zwar falsch als Lehman im Literaturverzeichnis steht, aber nicht zu Wort kommt), die ästhetische Antwort hätte sein können.

Trotz des gelegentlich aufblitzenden Nonkonformismus hochinformativ, mit vielen erhellenden Nebenverweisen und klugen Analysen im Detail versehen, weist die Schrift aber in die ganz andere, innovative Richtung, das kritische Potential und die revolutionäre Virulenz schon in den Tragödientheorien der Moderne selbst (wieder) zu entdecken. Die besondere Stärke ist dabei die Verdeutlichung der Entwicklungsbezüge zwischen deutscher, polnischer und russischer Tragödientheorie, revolutionärer Kunst und Kultur. Gerade deshalb lohnt die Lektüre.

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